Von LWL-Messe 2017 | Projekte und Unternehmen

Einfach machen und durch

Die Varia GmbH montiert als Dienstleister einen besonders leichten und stabilen Rad-Gepäckträger. Alexa Berndt ist gelernte Bürokauffrau, übernimmt in dem Unternehmen in Münster aber auch viele andere Aufgaben. Ein Porträt.

Alexa Berndt setzt einen Gepäckträger zusammen

Alexa Berndt packt an. „Wenn Tüten gepackt werden, dann bin ich da“, beschreibt die Münsteranerin ihren Job. „Wenn Tüten getackert werden, dann bin ich an der Tacker-Maschine. Auch, wenn bei der Montage jemand fehlt, bin ich da.“ Mit einem Wort: Die 37-Jährige arbeitet bei der Varia GmbH „überall“, sie rollt an jeden Arbeitsplatz, wenn dort ein Job zu erledigen ist.

„Ich weiß gar nicht, wie die hier ohne mich klarkamen“, lacht sie. Seit gut zwei Jahren pendelt Alexa Berndt in ihrem Rollstuhl zwischen Büro und Montagehalle der Varia GmbH hin und her. Sie verteilt Arbeitsaufträge an die Kollegen, bei den meisten davon geht es um Fahrrad-Gepäckträger, die Varia in Münsters Norden für die Tubus Carrier System GmbH montiert. Ein edles Produkt, sehr leicht und belastbar, so dass es „auch extreme Torturen nicht krumm nimmt“, wie es in der Werbung heißt. Varia ist ein Tochterbetrieb der Stift Tilbeck GmbH aus Havixbeck, die in den dortigen Baumbergen die ‚Tilbecker Werkstätten‘ betreibt. Die Firma selbst ist ein Integrationsunternehmen, das unter anderem vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe unterstützt wird und ein Team aus behinderten und nicht-behinderten Mitarbeitern beschäftigt.

Tubus als Auftraggeber von Varia ist gleich auf der anderen Straßenseite angesiedelt. Das Unternehmen, das seit zwei Jahrzehnten hochwertige Fahrradgepäckträger-Systeme herstellt und weltweit als führender Hersteller auf diesem Markt gilt, ist von sich überzeugt – und gibt deshalb auch 30 Jahre Garantie auf die Träger. „Wir montieren hier bei Varia 3000 bis 4000 Gepäckträger in der Woche für Tubus. Ich hab’s selber nicht geglaubt, als ich diese Zahl gelesen habe“, sagt Alexa Berndt. Tubus-Chef Peter Ronge und sein Team verlassen sich ganz auf Varia und darauf, dass die Mitarbeiter dort die Gepäckträger sorgfältig zusammensetzen, sie etwa mit einer Federklappe versehen, ein Namensschild darauf kleben und die Rücklichter einbauen. Erst diese Endmontage des Produkts, die hier erledigt wird, verwandelt die Ware in die vom Kunden bestellten Varianten. Die Einzelteile dafür werden in China hergestellt.

Vor 15 Jahren hatte Alexa Berndt Glück im Unglück. Sie überlebte damals einen schweren Autounfall, bei dem ihr damaliger Freund am Steuer saß. Seither ist sie querschnittsgelähmt und lebt mit Rollstuhl. „Wir sind richtig in den Graben rein und haben uns überschlagen. Ihm ist nichts passiert.“ Sie bemüht sich, nüchtern zu klingen, als sie weiter erzählt, dass ihr damaliger Freund sie nach dem Unfall verlassen hat. Er war nicht der Einzige: „Von meinen besten Freunden von damals sind mir nur zwei geblieben“, sagt sie bitter.

Umschulung zur Bürokauffrau

Bevor ihr das passiert ist, hatte sie kaum bis keinen Kontakt zu Menschen mit Behinderung, erzählt sie. „Die eigene Weltsicht ändert sich nach so einer Veränderung aber ganz schlagartig, man sieht alles ganz anders. Zum Beispiel sieht man jede Bordsteinkante, denn das ist immer ein potentielles Hindernis. Ich habe früher, vor meinem Unfall, selbst ab und zu auf einem Behindertenparkplatz geparkt. Deshalb rege ich mich heute auch nicht so sehr auf, wenn einer ohne Behinderung darauf steht. Ich kenne beide Seiten,“ sagt sie. Damals musste sie trotzdem mit erleben, wie Freunde sagten: Die kann keine Party mehr machen, die kann nirgendwo mehr mit hin. Heute kämpft Alexa Brandt gegen diese Sichtweise. „Natürlich kann man auch mit einer Behinderung ganz viel machen!“ Zum Beispiel im Beruf eine Umschulung zur Bürokauffrau, so wie sie: „Einfach machen und durch“, sagt sie heute. Bis vor kurzem hat sie sogar noch fünf Stunden mehr bei Varia gearbeitet als jetzt. Inzwischen braucht ihr achtjähriger Sohn sie mehr zu Hause, denn er geht nun in die dritte Schulklasse. „Jetzt wird’s ernst!“, lacht die 37-Jährige, denn sie muss den Jungen jetzt regelmäßig bei den Hausaufgaben unterstützen.

Alexa Berndt hat ihr Leben und ihre Arbeit mit der Behinderung gut organisiert. Sie wohnt zusammen mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn mitten in der Stadt im Haus ihrer Oma, in der dritten Etage, unterhalb der Wohnung ihr die Eltern. Das Haus wurde mit einem Aufzug ausgestattet, so dass die 37-Jährige sich frei bewegen kann. Morgens um kurz nach 8 Uhr rollt sie mit ihren Auto bei Varia vor, holt den Rolli aus dem Wagen – und der Arbeitstag kann starten. Sie freut sich täglich, dass sie mit Varia-Betriebsleiter Martin Arning so gut zusammenarbeiten kann. Vorher hat sie in einer Großwäscherei in der Verwaltung gearbeitet, über das Internet fand sie den neuen Job bei Varia. „Ich fühlte mich hier gleich wohl und bin sehr froh, dass ich diesen Schritt gewagt habe.“

Alexa Berndt und Varia-Betriebsleiter Martin Arning sitzen nebeneinander und lächeln in die Kamera.
Die gelernte Bürokauffrau Alexa Berndt freut sich über die Zusammenarbeit mit Varia-Betriebsleiter Martin Arning. Foto: Thorsten Arendt

In der Varia GmbH hat Alexa Berndt zehn Kollegen, zählt Martin Arning auf, davon haben sieben eine Behinderung. Zusammen mit weiteren Kollegen arbeiten sie in der Endmontage, wo sie 84 verschiedene Gepäckträger-Modelle zusammenbauen. An einer scheinbar endlos langen Hallenwand hängen alle Modelle – eine beeindruckende Vielfalt. Bis 2008 fand die Endmontage noch in Tilbeck statt: „Dort haben wir die ersten Träger montiert. Danach hat sich das so langsam aufgebaut,“ erklärt der Betriebsleiter. Heute pendeln Werkstattmitarbeiter nach Münster zu Varia, um dort zu arbeiten. Diese räumliche Nähe zwischen Auftraggeber und Dienstleister hat zugleich viele logistische Probleme gelöst: Es gibt heute gemeinsame Teams von Varia- und Tubus-Mitarbeitern. „Das geht nahtlos ineinander über, da sind wir ganz flexibel.“ So wie Alexa Berndt, die schlagfertig sagt: „Ich hab hier ‚All-in‘ gebucht, im Büro und in der Produktion. Das war die Einstellungsbedingung: Du darfst überall arbeiten, du bist die Frau für alles.“

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