Video-Tipp: Das Projekt „Mission AstroAccess“ will die Raumfahrt inklusiver machen

Das Weltall und Raumschiffe haben Michaela Benthaus schon immer fasziniert. Seit ihrer Kindheit träumt sie von einer Karriere in der Raumfahrt. Deshalb studiert sie heute in München Luft- und Raumfahrttechnik.
Den Wunsch, als Astronautin ins All zu fliegen, hatte sie allerdings schon aufgegeben: Seit einem Unfall mit dem Mountainbike vor ein paar Jahren hat Michaela Benthaus eine Querschnittlähmung.

Doch dann entdeckte sie „Mission AstroAccess“. Das US-amerikanische Projekt, das sich aus Spenden finanziert, möchte Ideen für eine inklusivere Raumfahrt ausprobieren und voranbringen. Michaela Benthaus bewarb sich, wurde angenommen und reiste Ende 2022 zusammen mit einem internationalen Team nach Houston im US-Bundesstaat Texas. Bei einem Parabelflug testeten die Teilnehmer:innen, die jeweils Geh-, Hör- und Sehbehinderungen haben, wie sich Raumfahrzeuge oder die Internationale Raumstation barrierefreier und inklusiver gestalten lassen. Viele dieser Lösungen könnten auch für Menschen ohne Behinderung nützlich sein, weil sie zum Beispiel die Sicherheit an Bord verbessern.

Für Menschen mit Behinderung könnten daraus langfristig Möglichkeiten entstehen, den Beruf Astronaut:in zu ergreifen. Michaela Benthaus hat dabei auch einen zukünftigen Weltraum-Tourismus im Blick.
Parallel zu „Mission AstroAccess“ hat übrigens auch die Europäische Raumfahrtagentur ESA einen Schritt zu einer inklusiveren Raumfahrt getan: Sie bildet in ihrem neuen Programm aktuell einen angehenden Astronauten mit körperlicher Behinderung aus.




Ein Pilotprojekt für Autor:innen mit Lernschwierigkeiten: die „Literatur-Bootschaft“ des Vereins ‚Ohrenschmaus‘

Toni, warum haben Sie sich für die „Literatur-Bootschaft“ beworben?

Toni: Ich drücke mich gerne mit Worten aus und habe schon als Jugendlicher angefangen, zu schreiben. Im Deutschunterricht in der Schule haben wir uns aber eher mit Grammatik als mit Geschichten beschäftigt. Ich habe mich zwar damals und auch als Erwachsener in meiner Freizeit an meine Texte gesetzt, aber leider immer wieder den Faden verloren. Durch das Projekt habe ich jetzt die Unterstützung, die mir vorher gefehlt hat. Wir sind alle hier, um zu schreiben, und sprechen viel über unsere Texte. Das hilft sehr. Ich habe in den ersten Wochen schon zwei Kurzgeschichten fertig geschrieben.

In welchem Beruf haben Sie bisher gearbeitet?

Toni: Ich bin gelernter Einzelhandelskaufmann, konnte irgendwann aber aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in dem Beruf arbeiten. Ein paar Jahre lang habe ich Gelegenheitsjobs angenommen. Im vergangenen Winter habe ich dann eine Stelle als Rezeptionist in einem Hotel bekommen. Das hat mir Spaß gemacht, allerdings bin ich mit der 45-Stunden-Woche nicht so gut zurechtgekommen.

Wie sieht Ihr Tagesablauf in der „Literatur-Bootschaft“ aus?

Toni: Die beiden anderen Autor:innen, unsere Mentorinnen und ich treffen uns morgens auf dem Badeschiff am Donaukanal (Anm.: ein Veranstaltungsort mit Schwimmbad und Gastronomie, der von einem inklusiven Team betrieben wird). Unsere Mentorinnen stellen uns jeden Tag eine neue Gedicht- oder Textart vor und erklären, welche Regeln wir beim Schreiben beachten müssen. Wir probieren dann selbst aus, tragen unsere Entwürfe vor, besprechen sie mit den anderen und arbeiten anschließend daran weiter. Es ist eine Art interaktiver Unterricht.

Frau Figl, Sie leiten die „Literatur-Bootschaft“ und begleiten die Autor:innen als Mentorin, blicken also von der anderen Seite auf das Projekt. Wie unterstützen Sie die Teilnehmer:innen über den Unterricht hinaus?

Figl: Meine Kolleginnen und ich helfen den Schreibenden zum Beispiel dabei, ihren Arbeitsalltag zu organisieren. Es ist für die meisten ja sehr ungewohnt, so vieles selbst zu gestalten. Wir machen deshalb gemeinsam mit ihnen Wochenpläne, tragen am Ende der Woche die Arbeitsstunden ein und unterstützen sie dabei, Texte und andere Dateien nach einem sinnvollen System abzuspeichern. Wir sind drei Mentorinnen, jede von uns betreut bestimmte Unterrichtsmodule und begleitet jeweils eine Person im Projekt. In diesen Tandems besprechen wir einmal pro Woche, welche Ziele wir erreichen möchten und wie wir Mentorinnen dabei unterstützen können. Das Ganze ist im Moment noch relativ schulisch, das wird sich aber im Laufe der Zeit sicher verändern.

Die Teilnehmer:innen der „Literatur-Bootschaft“ sind im Verein für eineinhalb Jahre fest angestellt. Wie werden sie bezahlt?

Figl: Die Autor:innen arbeiten 20 Stunden pro Woche, das Gehalt richtet sich nach dem Fair Pay Schema für eine Assistenz im Kulturbereich.

Wie viele Autor:innen haben sich für das Projekt beworben?

Figl: Nach unserem ersten Aufruf war der Rücklauf erst einmal zögerlich. Wir haben nur vier Bewerbungen bekommen. Das hat uns selbst etwas überrascht, weil der Verein „Ohrenschmaus“ ja sehr etabliert und als einzige Anlaufstelle für Autor:innen mit Lernschwierigkeiten bekannt ist. Ein Grund könnte sein, dass manche Autor:innen, die wir schon von anderen „Ohrenschmaus“-Projekten kennen, in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeiten. Für die „Literatur-Bootschaft“ hätten sie die Werkstatt zumindest vorübergehend verlassen müssen – da gab es viele Unsicherheiten und Fragen. Wir haben versucht, viele davon zu beantworten, und noch einmal für das Projekt geworben. Am Ende konnten wir zehn Bewerbungen an unsere Jury weitergeben, zu der unter anderem Autorinnen und eine Journalistin gehören.

Nach welchen Kriterien hat die Jury die Teilnehmenden ausgewählt?

Figl: Es ist natürlich sehr schwierig, kreative Arbeit zu beurteilen und zu vergleichen. Die Expert:innen in der Jury haben Kriterien wie Fantasie, Textaufbau und den sprachlichen Ausdruck diskutiert. Ein Thema war außerdem, ob und wie stark wir die Konstellation der Projektgruppe mitbedenken wollen. Eine reine Männergruppe fänden wir zum Beispiel eher unglücklich. Jede Person in der Jury hat vor dem Hintergrund dieser Überlegungen drei Bewerbungstexte ausgesucht, in denen sie Potenzial gesehen hat. Dadurch sind vier Bewerber:innen in die engere Auswahl gekommen, die wir zum Gespräch eingeladen haben. Im Organisationsteam überlegen und besprechen wir nun erneut, wie wir das Auswahlverfahren in der nächsten Runde gestalten wollen. Das ist ein ständiger Lernprozess.

Der erste Projektzeitraum endet im Herbst 2024. Was möchten Sie bis dahin erreichen?

Figl: Wir haben das Projekt in drei Abschnitte von je einem halben Jahr aufgeteilt. Der erste hat im Mai begonnen. In dieser Phase ging es erst einmal darum, beim Schreiben Neues kennenzulernen und sich auszuprobieren. Im zweiten Abschnitt werden wir dieses Wissen und die neuen Fähigkeiten vertiefen. Im dritten Block schauen wir dann schon auf die Zeit nach dem Projekt: Welchen Berufsweg können sich die Teilnehmenden vorstellen? Was möchten sie gerne praktisch ausprobieren? Es gibt ja sehr viele Möglichkeiten für Autor:innen und Texter:innen. Sie könnten sich auf Praktikumsplätze bewerben oder auf Stellen in der Öffentlichkeitsarbeit bei Unternehmen. Oder sie schreiben Ausstellungstexte in einfacher Sprache für Museen. Vielleicht möchte jemand auch gerne Veranstaltungen moderieren oder im Kulturbereich Führungen anbieten. Wir helfen unseren Autor:innen bei der Orientierung und natürlich auch bei den Bewerbungen. Und wir hoffen, dass wir durch unser Projekt Autor:innen mit Lernschwierigkeiten im Laufe der Zeit sichtbarer machen und ihnen neue Türen öffnen.

Toni, noch einmal Ihre Sicht als Autor im Projekt: Was ist Ihr persönliches Ziel für die Zeit nach der „Literatur-Bootschaft“?

Toni: Mein Traum ist es, Drehbuchautor zu werden und auf diesem Weg Themen in die Welt zu bringen, die mir wichtig sind. Ich finde, die Gesellschaft wird immer introvertierter. Viele Menschen glauben, dass sie niemanden brauchen. Sie sind mit sich selbst zufrieden. Meiner Meinung nach stecken Enttäuschungen hinter dieser Haltung. Aber wenn man sich davor versteckt, zieht man sich ja auch von den positiven Dingen zurück. Deshalb sollte man besser lernen, mit Enttäuschungen umzugehen.

Warum möchten Sie Ihre Themen gern in Filmen und nicht mit Texten zeigen?

Toni: Filme haben eine große Reichweite und sprechen viele Menschen direkter an als Bücher. Außerdem schreiben Drehbuchautor:innen ja nicht allein und für sich, sondern arbeiten mit anderen Filmleuten zusammen. Das gefällt mir. —


Über unsere Interviewpartner:innen




Inklusion gesellschaftlich vorantreiben

Ein Blick, ein Nicken, eine Geste mit dem Arm: Das Team von GrünBau-inklusiv versteht sich auch ohne Worte. 15 der insgesamt 35 Angestellten des Inklusionsunternehmens haben eine Behinderung, die meisten von ihnen eine Hörbehinderung. Deshalb haben sich unter den Kolleg:innen schnell allgemeinverständliche Gesten eingebürgert, erzählt Michael Stober, der ehemalige Geschäftsführer: „Den Versuch, mit Zetteln zu arbeiten, haben wir schnell wieder aufgegeben.“

Gerade arbeitet ein Trupp an der Klönnestraße in Dortmund an verschiedenen Aufgaben gleichzeitig. Zwei Angestellte fahren auf Geländemähern die Rasenflächen ab, zwei weitere sind mit Freischneidern auf dem Gelände unterwegs. Oleg Bolgert, der schon seit dem Start 2013 bei GrünBau-inklusiv arbeitet, organisiert und verteilt die Aufgaben. Er hat die Erfahrung gemacht, dass eine funktionierende Kommunikation nicht vom Gehör abhängt, sondern davon, dass seine Mitarbeiter:innen aufeinander eingehen und sich Mühe geben: „Es klappt immer gut, solange beide Seiten auch ein Interesse haben, verstanden zu werden. Und das ist eigentlich immer der Fall.“ Oleg Bolgert zeigt auf sich und einen Kollegen und deutet mit einer schnellen Armbewegung an, dass sie als nächstes die Wiese hinter der Häuserzeile angehen werden.

Inklusion vorleben

Wie an jedem zweiten Freitag wird sich auch heute Nachmittag das komplette Außenteam in der Zentrale der GrünBau-inklusiv gGmbH zum Freitalk treffen. Regelmäßig kommt dann auch ein Gebärdensprachdolmetscher dazu, um zu übersetzen und ausführlichere Gespräche zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit und ohne Hörbehinderung zu ermöglichen. Anja Coumans, seit Januar 2022 die neue Geschäftsführerin des Unternehmens, sind diese Treffen sehr wichtig. Dass die Zusammenarbeit im Team so gut funktioniert und sich alle gut verstehen, sei schließlich kein Zufall, sondern das Ergebnis solcher Maßnahmen – und ein wichtiges Signal für die Gesellschaft.

Zum guten Arbeitsklima tragen auch regelmäßige Kollegen-Seminare bei: Mehrere Mitarbeiter:innen mit und ohne Behinderung verbringen gemeinsam jeweils ein Wochenende, um sich gegenseitig besser kennenzulernen. Zusätzlich bietet das Unternehmen Gesundheitswochen an und organisiert alle drei bis vier Monate ein Treffen mit dem Integrationsfachdienst, der Menschen mit Behinderungen und Inklusionsbetriebe unterstützt und berät.

Drei Mitarbeiter von Grünbau im Einsatz
Das Team kommuniziert vor allem über Gesten. Das bietet sich wegen der Ohrenschützer ohnehin an, die die Mitarbeiter gegen den Lärm tragen müssen. Foto: LWL

Gleiche Chancen für alle

Gleiche Chancen und Gleichberechtigung heißt bei GrünBau-inklusiv auch, dass alle Mitarbeiter:innen die Möglichkeit haben sollen, sich fachlich weiterzubilden. Was einfach klingt, ist in der Praxis manchmal eine große Herausforderung.
Ein Beispiel: Das Inklusionsunternehmen aus Dortmund war der erste Betrieb in Deutschland, der für Menschen mit Hörbehinderung, die sich mit Gebärdensprache verständigen, eine Ausbildung zur Baumaschinenführung angeboten hat. Der bürokratische Aufwand, den Michael Stober und die anderen Verantwortlichen im Betrieb für dieses Spezialangebot betreiben mussten, war enorm. Doch der Erfolg spornte sie an. Sie richteten für ihre Mitarbeiter:innen mit Hörbehinderung auch noch die Möglichkeit ein, einen Kettensägenschein zu machen. Zurzeit bereiten sie in Kooperation mit der Berufsgenossenschaft weitere Lehrgänge vor

Auf dem richtigen Weg

Von diesem Engagement profitieren langfristig nicht nur die Angestellten, sondern auch das Unternehmen selbst. Die Konkurrenz ist groß und der Fachkräftemangel trifft den Garten- und Landschaftsbau ebenso sehr wie andere Branchen. Die besonderen Weiterbildungsangebote sind für die GrünBau-inklusiv gGmbH ein wichtiger Baustein, um sich als attraktiver Arbeitsgeber zu positionieren.
Diese Strategie geht auf. Das Unternehmen ist in seiner zehnjährigen Geschichte gewachsen, aus 28 wurden 35 Angestellte, der Umsatz hat sich mehr als verdoppelt. Der größte Kunde sind die Dortmunder Stadtwerke, die zur Dortmunder Energie- und Wasserversorgung GmbH gehören. Außerdem hat GrünBau-inklusiv mit dem Schwerpunkt auf gärtnerischer Grünpflege bei Wohnbaugesellschaften, Firmen- und Privatkunden eine ganz eigene Nische besetzt und sich inzwischen am Markt etabliert.

Anja Coumans und ihre Kolleg:innen ruhen sich auf diesem Erfolg aber nicht aus. In Zukunft möchten sie das Unternehmen noch bekannter machen und weitere Kunden gewinnen. —




Inklusion zwischen Bistrotheke und Gemüseregal

Über der Eingangstür hängt ein großes Schild mit der Aufschrift „Der Bioladen“. Drinnen, im großen, hellen Verkaufsraum, herrscht entspannte Geschäftigkeit. In der Luft liegt der Duft der Gemüselasagne, die es als Tagesgericht im Bistro zu essen gibt.

Hinter der Bistrotheke steht Helen Jarosch und begrüßt mit ihrer herzlichen Art die Kunden, die zum Einkaufen oder zum Mittagessen kommen. Früher arbeitete die junge Frau selbstständig in der Gastronomie, musste diese Tätigkeit wegen ihrer Behinderung im Jahr 2015 aber wieder aufgeben und sich einen neuen Job suchen. Sie fing als Reinigungskraft im „Bioladen“ an, einem von drei Inklusionsbetrieben im Lebensmittelbereich der INTEGRA gGmbH des Vereins INI. Sie sah in der Stelle eine große Chance und lernte schnell und viel dazu, irgendwann stieg sie als Verkäuferin ein. Für den Betriebsleiter Henning Jahns ist Helen Jarosch inzwischen eine verlässliche Größe bei der Schichtplanung und auch sonst eine unverzichtbare Mitarbeiterin – nicht zuletzt, weil sie gerne einspringt, wenn Kolleginnen oder Kollegen krank werden.

Viele Erfolgsgeschichten

Wie Helen Jarosch haben sich viele von ihnen im Laufe der Zeit in neue Bereiche eingearbeitet und neue Aufgaben übernommen. Hinter diesen Erfolgsgeschichten steckt aber nicht nur viel Einsatz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst. Auch ihre Vorgesetzten tun eine Menge dafür, dass sich jeder im Team gut entfalten und weiterentwickeln kann. „Der Mehraufwand am Anfang zahlt sich auf lange Sicht aus – in der persönlichen Entwicklung der Mitarbeiter, aber auch unternehmerisch“, erklären Geschäftsführer Andreas Knapp und Betriebsleiter Henning Jahns. „Unsere Angestellten sind loyal, ehrlich und sehr verbunden mit dem Betrieb.“

Gerade zu Beginn investieren die Verantwortlichen erst einmal Zeit und Energie, um neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anzulernen. Viele von ihnen haben vorher in einem Praktikum ausprobiert, in welchem der INI-Inklusionsunternehmen sie gerne arbeiten wollen. Der tägliche Kundenkontakt ist schließlich nicht für jeden das Richtige, und nicht jede und jeder möchte oder kann im Bistro arbeiten wie Helen Jarosch. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen also einen Arbeitsplatz finden, der zu ihren individuellen Fähigkeiten passt, aber auch ihre Grenzen berücksichtigt. Nur so kann die Zusammenarbeit funktionieren und – das wird häufig vergessen – zu wirtschaftlichem Erfolg führen.
Im „Bioladen“ ist das gelungen: Eine starke Steigerung des Umsatzes und ein florierendes Geschäft zeigen, dass der Betrieb mit seinem inklusiven und diversen Team auf dem richtigen Weg ist. Das Bistro ist zur Mittagszeit rappelvoll, Helen Jarosch hat hinter der Theke alle Hände voll zu tun.

Andreas Knapp in der Obst- und Gemüseabteilung des Bioladens Lippstadt.
Für Andreas Knapp ist Inklusion selbstverständlich. Der Geschäftsführer der INTEGRA gGmbH beschäftigt 85 Menschen mit Behinderung.

Regionale Zusammenarbeit und nachhaltige Konzepte

Auch in vielen Zuliefererbetrieben des Unternehmens arbeiten Menschen mit und ohne Behinderung zusammen. Die drei INTEGRA-Lebensmittelgeschäfte bekommen ihre Waren von einem inklusiven Bauernhof, der ebenfalls zum Verein INI gehört, der JOSEFS-Brauerei, dem Kiebitzhof und der BioManufaktur Schloss Hamborn.

Die INTEGRA gGmbH setzt neben der engen Vernetzung mit anderen Betrieben in der Region auch auf das Thema Nachhaltigkeit und entwickelt daraus wirtschaftliche Konzepte. So waren die Läden des Unternehmens vor einigen Jahren die ersten, die das Mineralwasser des sozial engagierten Herstellers „Viva con Agua“ aus Lippstadt in ihr Sortiment aufnahmen. Inzwischen führen auch andere Lebensmittelhändler und Gastronomie-Unternehmen die Marke. Zurzeit wird daran gearbeitet, möglichst plastikfrei zu werden, zum Beispiel durch „Unverpackt-Lösungen“ wie ein Gläserpfandsystem für Oliven, Nudeln und Reis.

Für die Zukunft haben Andreas Knapp und seine Kollegen noch viele weitere Ideen, die in diese Richtung gehen. „Das Beispiel ‚Viva von agua‘ hat uns gezeigt, dass sich die gesellschaftliche Vorreiterrolle als Inklusionsbetrieb auch auf andere Bereiche übertragen lässt“, sagt der Geschäftsführer. „Offen zu sein für alle und alles – das kann auch heißen, neue Wege als Erster zu sehen und wirtschaftlich zu erschließen.“ —




Spitzenreiter bei der Ausbildung

Bevor die zwei Geschäftsführerinnen des Lippischen Kombi-Service gGmbH (LKS) Zeit für ein Interview haben, steuern sie erst einmal die Essenstheke an. Sie konnten den ganzen Tag noch nichts essen – und hier wisse man schließlich, dass es schmeckt. „Pop&Corn“, der Catering-Service des Unternehmens, sei zwar schon vorher am Berufskolleg in Lemgo aktiv gewesen. Die vor wenigen Wochen in Betrieb genommene Küche biete aber ganz neue Möglichkeiten.

Seit 16 Jahren ist Monika Zimmermann beim LKS. Ende nächsten Jahres übergibt sie die Geschäftsführung komplett an Simone Luther, die bereits sieben Jahre im gemeinnützigen Unternehmen tätig ist. Ob sich nach dem Wechsel etwas ändert? „Na ja, sie ist jünger als ich“, sagt Zimmermann, beide lachen. Luther will den etablierten Kurs beibehalten. Und dazu gibt es Anlass.
Wie gut das Essen hier ist, spricht sich schnell herum; fast schon zu schnell. Zum ersten Mal in der 35-jährigen Unternehmenshistorie kann der LKS nicht alle Anfragen bedienen. Das Interesse an den Verpflegungsdiensten aus Detmold ist groß. Inklusion sei selbstverständlich auch ein Faktor bei den Anfragen, erklärt Zimmermann, und bei manchen Schulen auch ein Auswahlkriterium. Aber nach ein bis zwei Jahren stehe das gar nicht mehr so im Mittelpunkt – was auf den Teller kommt, bleibe präsenter.
„Primär kommen die Anfragen, weil andere Schulen sagen: Wir sind sehr zufrieden mit unserem Caterer“, resümiert die langjährige Geschäftsführerin. Ein Empfehlungsmarketing, das sich bewährt hat: Mittlerweile kocht und catert der LKS an 48 Standorten im Umkreis.

Simone Luther und Monika Zimmermann nebeneinander vor der Kantine.
Das Führungsduo: Die LKS-Geschäftsführerinnen Simone Luther (l.) und Monika Zimmermann. Foto: LWL

50 Auszubildende

Der LKS ist in der ganzen Region tätig und beschäftigt rund 250 Mitarbeiter:innen, von denen rund die Hälfte eine Schwerbehinderung hat. Die Dienstleistungen des Unternehmens reichen von einer Wäscherei über Datensicherung bis zum Catering.
Ein Schwerpunkt des Unternehmens liegt in der inklusiven, theoriereduzierten Ausbildung, die zusätzlich zur Vollausbildung angeboten wird. Um die 50 Auszubildende sind so im Betrieb verteilt beschäftigt – das ist der Spitzenwert in der Region Westfalen-Lippe.
Jugendliche mit einer Lernbehinderung können zum Beispiel die theoriereduzierte Ausbildung „Fachpraktiker:in Küche“ absolvieren. Ihre Ausbilder:innen wie Frank Schlepper, Leiter der Küche im Berufskolleg, nehmen in der Praxis Rücksicht auf die individuellen Bedürfnisse der Auszubildenden.

Nach einer pandemiebedingten Pause erreichen die Zahlen wieder das Niveau der Vorjahre. „Dieses Jahr waren es fast so viele wie noch nie“, sagt Simone Luther. 24 Neuzugänge befinden sich momentan in der Ausbildung oder einer Einstiegsqualifizierung. Die einjährige Einstiegsqualifizierung zur Ausbildung ist mit die wichtigste, aber auch die schwierigste Zeit. „Das ist nochmal das kleine Einmaleins“, erklärt Luther – eine Phase, in der man vieles neu anlernen müsse. Zimmermann sieht darin aber auch eine Stärke des Konzeptes: Was Vorgesetzte in einer „normalen“ Ausbildung bereits anmahnen müssten – etwa ein unangekündigtes Fehlen – können sie hier auffangen und persönlich klären. Dadurch bekommen junge Menschen die Chance, sich im neuen Beruf und Umfeld einzuleben.

Ein gutes Teamklima ist die Grundlage

„Die Blase LKS“, wie eine Mitarbeiterin diesen eigenen Mikrokosmos einmal etwas verschmitzt beschrieb, setzt auf Zwischenmenschliches. Man kenne eigentlich jede:n Mitarbeiter:in, erklärt Zimmermann, was zusammen mit einem guten Teamklima dazu führe, dass wenige aus dem Raster fallen. Gerade Problemen wie häufigen Krankheitsfällen und fehlender Arbeitskontinuität kann so vorgebeugt werden.
Auch am Arbeitsplatz helfen sich alle gegenseitig, pflichtet Frank Schlepper bei. Die Stärken und Schwächen der unterschiedlichen Mitarbeiter:innen ergänzen sich, man unterstützt einander – mit gutem Ergebnis.
Der großgewachsene Küchenchef kehrte nach zwei Jahren in einem anderen Unternehmen zum LKS zurück, die Arbeit und die Menschen lägen ihm hier einfach mehr. An der Ebenbürtigkeit aller Mitarbeiter:innen zeigt sich für ihn das Besondere des Unternehmens – und am Erfolg des inklusiven Konzepts: „Dass wir hier Sachen schaffen, die auch andere, nicht-inklusive Caterer mit ihrem Personal machen – das ist für mich die größte Bestätigung.“

Erfolgsgeschichten

Für den Küchenleiter liegt der Schlüssel zum Erfolg in der gegenseitigen Offenheit. Wer unvoreingenommen an die Sache herangehe, werde das Arbeiten mit und Ausbilden von Menschen mit Behinderung nicht bereuen. Sein Fazit aus vielen Jahren im Job: „Keine Vorurteile haben, einfach machen, loslegen und gucken, wohin die Reise geht. Damit habe ich nie schlechte Erfahrungen gemacht.“

Und die gemeinsame Reise gestaltet sich – für alle Beteiligten – als Gewinn. Elli Jurk, eigentlich Auszubildende in einer anderen LKS-Küche in Lemgo, hilft gerade am neuen Standort aus. „Ich bin immer die Erste“, berichtet die 20-Jährige, die mit einer Cerebralparese lebt. Sie hilft, den Küchenalltag vorzubereiten, startet die Öfen, backt die Brezeln – eine unerlässliche Stütze für die neue Küche. Sind die Schüler:innen zufrieden, ist die Auszubildende es auch: „Wenn man die Kinder sieht, wenn die anstehen zum Essen, dass die glücklich sind und sich freuen“ – diese Freude ist auch für sie das Highlight des Arbeitstages.
Mittlerweile ist sie im letzten Ausbildungsjahr und fühlt sich sehr wohl. Das Team sei nett und hilfsbereit und jede:r habe Gelegenheit, sich kreativ in der Küche und Essensplanung einzubringen. Außerdem nähmen die Vorgesetzten sich Zeit für alle Mitarbeiter:innen. Das sei für das Gelingen der Ausbildung unerlässlich, deren guter Verlauf Elli auch für die Zukunft positiv stimmt: „Dann bin ich ausgelernt und habe schon Erfahrungen gesammelt.“

Die Auszubildende Elli Jurk mit Kochuniform in der LKS-Küche.
Die Auszubildende Elli Jurk arbeitet in der Küche in Lemgo tatkräftig mit. Foto: LWL

Noel, ebenfalls 20 und heute zur Aushilfe in Lemgo, schlägt ähnliche Töne an. Der Auszubildende mit Konzentrationsstörung wollte sich schon früher in der Gastronomie bewerben – über eine berufsvorbereitende Maßnahme bei einem Bildungsträger fand er schließlich den Weg zum Lippischen Kombi-Service. Die Arbeit macht ihm Spaß, „denn hier kann ich mich kreativ ausleben.“ Er kocht für sein Leben gern, ein besonderes Faible habe er fürs Würzen und für vegetarische Gerichte. In der Ausbildung sieht er einen wichtigen Baustein für seine Zukunft. „Ich will mich selbstständig machen“, offenbart er grinsend – „vielleicht auch mit einem Restaurant“.

Nach den vielen Jahren als inklusiver Ausbilder überwiegen für Küchenchef Schlepper klar die positiven Seiten. Wer sich auf die Jugendlichen einlasse, finde sich später in einem Team wieder, das von starkem gegenseitigen Vertrauen geprägt sei – und das motiviere. Es komme oft vor, dass junge Menschen sich nach der theoriereduzierten Ausbildung zum Beikoch auch an die Vollausbildung wagen. Frank Schlepper begleitet sie dann mehrere Jahre lang. Diesen Weg ein Stück mitzugehen und am Ende zur bestandenen Prüfung zu gratulieren: „Das sind die größten Erfolge.“

Hürden und Chancen

Insgesamt läuft die Arbeit gut, aber sie wird nicht einfacher, denn mittlerweile muss der LKS immer mehr auffangen. Jugendliche, die auf dem traditionellen Arbeitsmarkt durch die Raster fallen, bekommen beim LKS die Chancen und Betreuung, die ihnen anderswo nicht zuteilwurden. Das mehrt sich aktuell, gerade bei Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Zunehmend werden außerdem Jugendliche mit Migrations- oder Fluchthintergrund an das Unternehmen vermittelt. Bei manchen von ihnen tritt im Verlauf der Ausbildung noch eine psychische Erkrankung zutage, die vorher schlicht nicht erfasst wurde. Für Monika Zimmermann besteht also immer noch Handlungs- und Aufklärungsbedarf. „Viele wissen immer noch nicht, was Inklusion überhaupt ist“, sagt sie. Und zu wenige seien bereit, sich dafür einzusetzen, ergänzt Simone Luther: „Wirklich mitmachen und mithelfen, wenn es ans Eingemachte geht, wollen die wenigsten.“
Da fühle man sich gelegentlich schon allein gelassen oder überfordert. „Lieber LKS, rettet das Ganze, macht was draus“, fasst Monika Zimmermann schulterzuckend zusammen, was oft an sie herangetragen wird. Einer kurzen Pause folgt ein stolzes Lächeln: „Aber manchmal machen wir ja auch was draus.“ Der LKS müsse viel für die Betreuung der einzelnen Azubis leisten – aber es stecke auch in jedem Jugendlichen Potenzial, für das sich der Einsatz lohne. —




Wie eine große Familie

Es duftet nach Tomatensauce und gebratenem Hackfleisch. In der Auslage der knallig-roten Theke dampfen gefüllte Paprika. Die Cafeteria „Köstlich“  der Integrationsküche Nordkirchen rüstet sich für den großen Ansturm. Jetzt, um kurz nach halb zwölf, ist es noch ruhig, aber das wird sich in der nächsten Stunde ändern. Torsten Wißmann und einige seiner Kollegen nutzen die Zeit und essen das, was sie in den Stunden zuvor selbst gekocht haben. Der 41-Jährige, der aus der Werkstatt für Menschen mit Behinderungen (WfbM) des Caritasverbandes in Nordkirchen zur Integrationsküche wechselte, gehört zu den Mitarbeiter:innen mit Behinderung und arbeitet seit Mai 2016 auf einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz.

Wenn Torsten Wißmann morgens seinen Dienst antritt, weiß er genau, was zu tun ist. Lebensmittel heranschaffen, Gemüse oder Fleisch anbraten, in großen Töpfen umrühren, später auch spülen oder mit einem der Elektro-Fahrzeuge Essen auf dem weitläufigen Gelände der Kinderheilstätte Nordkirchen, zu der die Integrationsküche gehört, ausfahren. Für ihn ist die Arbeit keine Last, ganz im Gegenteil: „Ich koche sehr gerne, deswegen finde ich meinen Job auch so gut.“ Die Kolleginnen und Kollegen sind für ihn, so sagt er, „wie eine große Familie.“

Niemand wird überfordert

So etwas hört Thomas Pliquett gerne. Er ist Kaufmännischer Direktor der zum Gesamtkomplex gehörenden Trägerschaft Vestische Caritas Kliniken Kinderheilstätte und Geschäftsführer der Integrationsküche Nordkirchen GmbH. „Wir schauen genau hin, wie belastbar der einzelne Mitarbeiter ist“, sagt Pliquett. Niemand soll überfordert werden.

Seit Anfang 2016 gibt es die Integrationsküche Nordkirchen. „Früher hatten die Einrichtungen ihre eigenen kleinen Küchen, das war alles nicht mehr kostendeckend. Man braucht heute gut 1500 Essen täglich, um wirtschaftlich zu sein. Wir hatten hier in Nordkirchen nur 500“, so Pliquett. Man habe vor der Entscheidung gestanden: „Bauen wir eine neue Großküche, die leistungsfähiger ist als die bisherigen zusammen, oder lassen wir es?“

Auf Expansionskurs

Die neue Küche wurde gebaut, auch weil sich neben der Muttergesellschaft Institutionen wie das NRW-Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales, das LWL-Inklusionsamt Arbeit, die Stiftung Wohlfahrtspflege NRW und die Aktion Mensch finanziell engagierten. Während der Planungsphase wurde Thomas Pliquett durch die Betriebswirtschaftliche Beratungsstelle für Inklusionsbetriebe bei der Handwerkskammer Münster unterstützt. Pliquett und seine Kollegen schauten sich andere Großküchen an, recherchierten die technischen Notwendigkeiten, kalkulierten das Investitionsvolumen – und machten sich dann an die Kundenakquise. Klar war, dass die neue Integrationsküche die Kinderheilstätte versorgen sollte, aber auch weitere Einrichtungen in Nordkirchen wie die Gesamtschule, Kindergärten oder die Werkstätten des Caritasverbandes für den Kreis Coesfeld in Nordkirchen.

Der Start 2016 mit 850 Essen war gut, aber noch ausbaufähig. 2019 kamen weitere Werkstätten aus dem Caritas-Verbund in Lüdinghausen und Lünen sowie die Vestische Kinder- und Jugendklinik in Datteln, die zum Trägerverbund gehört, hinzu. „Heute sind wir bei 1600 Essen täglich“, sagt Thomas Pliquett. „Das ist dann auch die Grenze für einen Ein-Schicht-Betrieb.“ Schließlich müssten sich alle Mitarbeiter:innen zurechtfinden. Auch deren Zahl ist gestiegen. Waren es vor kurzem noch 25, sind es jetzt 41, 16 von ihnen haben eine Behinderung. In der Integrationsküche arbeiten Menschen mit geistiger, psychischer und körperlicher Behinderung Seite an Seite mit Menschen ohne. Die Verantwortlichen schauen bei der Planung vor allem auf die individuelle Qualifikation, deshalb sind die jeweiligen Teams auch sehr gemischt.

Betriebswirtschaftlich organisiert

Natürlich steht die Integrationsküche Nordkirchen in einem harten Wettbewerb. Sie ist streng betriebswirtschaftlich organisiert; vom Betriebsleiter über die Produktionsleiterin, die Köche und Wirtschafterinnen bis zu den Küchenhilfen und Fahrern. Auch Diätassistentinnen sind hier beschäftigt. Und selbstverständlich bietet die moderne Großküche auch regionale, vegetarische und vegane Essensalternativen an.

Mit drei Transportern liefern Torsten Wißmanns Kollegen täglich die Mahlzeiten aus, gut verpackt in Thermoporten. „Der Preis bei uns ist etwas höher als bei den Branchenriesen, ­aber dafür ist das Essen auch regionaler“, sagt Thomas Pliquett. Und es schmecke einfach. „Wir wollen zufriedene Kunden haben, gute Qualität ist da entscheidend. Ein Mittagessen für 3,50 Euro können wir deshalb nicht bieten“, so Pliquett.

Menschliches Maß

Auch einer Expansion um jeden Preis erteilt der Kaufmännische Direktor eine Absage. „Wir wollen in unserem Kerngebiet bleiben. Ein 25-Kilometer-Radius ist in Ordnung, mehr aber nicht“, sagt Pliquett. Und fügt hinzu: „Wir sind und bleiben die regionale Großküche für Nordkirchen und Umgebung.“ Überhaupt hat in der Integrationsküche alles ein menschliches Maß. Eine Sozialpädagogin steht den Beschäftigten mit Behinderungen bei Bedarf als Ansprechpartnerin zur Verfügung, Probleme werden möglichst sofort geklärt. Auch der Krankenstand der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderungen ist nicht höher als bei der übrigen Belegschaft.

Torsten Wißmann ist ebenfalls nur sehr selten krank. Es gefällt ihm in Nordkirchen. Woanders zu arbeiten, kann er sich nicht vorstellen. Nur sein Lieblingsessen vermisst er manchmal, denn das gibt es in der Integrationsküche nicht so häufig: „Sauerbraten und Königsberger Klopse.“ —




„Ich möchte, dass mehr Menschen mit Behinderung in Filmen zu sehen sind“

Herr Janßen, Sie waren früher Verwaltungsleiter der Berlinale. Wie kamen Sie dazu, sich für Inklusion in der Filmbranche zu engagieren?

Mein Patenkind Max hat eine Behinderung. Vor einigen Jahren wurde er durch Zufall für eine Rolle in einem Fernsehfilm entdeckt, er hat mit Matthias Brandt und Corinna Harfouch in dem Thriller „Tod einer Schülerin“ gespielt. Danach sagte er: „Wenn das Arbeit ist, will ich Schauspieler werden.“ Ich habe versucht, ihn bei der Suche nach neuen Rollen zu unterstützen, aber es war sehr schwierig, eben weil die Branche noch kaum inklusiv ist. Das möchte ich ändern, damit mehr Menschen mit Behinderung in Filmen und Serien zu sehen sind. Außerdem hatte ich nach zehn Jahren bei der Berlinale Lust, etwas Neues zu machen. Also habe ich „Rollenfang“ gegründet. Meine Erfahrungen und Verbindungen zur Filmszene helfen mir natürlich. Einige Zeit nach der Gründung ist noch das Theater dazugekommen, weil manche Darsteller:innen lieber auf der Bühne spielen möchten.

Was genau bieten Sie Schauspieler:innen mit Behinderung an?

Ich vermittle sie an professionelle Theatergruppen, Film- oder Serienprojekte und handle Verträge für sie aus, ähnlich wie eine Agentur. Anders als andere Agenturen biete ich aber eine Art „Rundum-Sorglos-Paket“ an. Ich buche zum Beispiel Fotograf:innen, die professionelle Bilder für die Bewerbungen machen und mit den Darsteller:innen auch sogenannte Showreels aufnehmen. Das sind kleine Videos, die als Arbeitsproben an die Produktionsfirmen gehen. Außerdem vernetze ich die Schauspieler:innen untereinander und mit anderen Menschen aus der Branche. Und ich betreibe viel Lobbyarbeit, etwa bei Festivals und Verbänden.

Diversität, also Vielfalt, ist seit einigen Jahren ein wichtiges Schlagwort. Ist das auch in der Filmbranche spürbar?

Ja, es hat sich einiges getan. Die Förderanstalt „Moin“ aus Hamburg hat eine „Diversity Checklist“ entwickelt und veröffentlicht, einen Fragenkatalog, den alle Antragsteller:innen ausfüllen müssen. Darin wird unter anderem gefragt, ob Menschen mit Behinderung im Projekt mitarbeiten oder im geplanten Film vorkommen. Andere Fördereinrichtungen werden da sicher nachziehen, da ist also etwas in Bewegung geraten. Das spüren wir auch an unserer eigenen Arbeit bei „Rollenfang“: Viele große Produktionsfirmen hatten lange kaum Interesse an uns, jetzt arbeiten wir mit der UFA Film & TV Produktion GmbH an einem gemeinsamen Projekt. Wir bekommen auch von anderen Firmen Anfragen, weil sie Schauspieler:innen mit Behinderung engagieren möchten – allerdings in der Regel nur dann, wenn im Drehbuch explizit eine Behinderung vorgesehen ist. Eines unserer Ziele für die Zukunft ist, dass die Behinderung irgendwann gar keine Rolle mehr spielt.

Was müsste sich dafür noch verändern?

Die meisten Produzent:innen haben selten oder noch nie mit Menschen mit Behinderung zusammengearbeitet. Das ist ganz ähnlich wie in anderen Branchen auch: Wegen der fehlenden Erfahrung machen sich die Verantwortlichen Sorgen, ob das funktionieren kann. Ob zum Beispiel eine Schauspielerin mit Behinderung lange Drehtage durchhält oder ein Schauspieler mit geistiger Beeinträchtigung deutlich genug spricht.

Wie überzeugen Sie die Produktionsfirmen davon, dennoch Schauspieler:innen mit Behinderung zu engagieren?

In der Regel nehme ich erst einmal Kontakt zu den Caster:innen der Projekte auf, treffe mich mit ihnen, stelle ihnen Leute vor und schicke später Filmmaterial. Dieser persönliche Kontakt ist ganz wichtig. Manchmal kommt das auch bei Veranstaltungen zustande. Wir haben im Frühjahr 2022 ein Kurzfilmfestival organisiert, eine Gala in einem Theater in Berlin, zu der alle „Rollenfang“-Schauspielerinnen und 150 Gäste gekommen sind. Wir haben viele Gespräche geführt und Kurzfilme von und mit unseren Darsteller:innen vorgeführt, um die Qualität ihrer Arbeit zu zeigen. Daraus sind fünf oder sechs Engagements entstanden.
Ganz allein kann ich diese wichtige Netzwerkarbeit aber nicht machen.

Und wo holen Sie sich Unterstützung?

Etliche Filmschaffende und Theaterleute ohne Behinderung haben schon unsere Charta für Inklusion im Film unterzeichnet und setzen für die Ziele von Rollenfang ein. Auch bekannte Schauspieler:innen ohne Behinderung treten als Botschafter:innen für unser Anliegen ein. Sie öffnen Türen, indem sie Kolleg:innen mit Behinderung für Rollen in ihren Produktionen vorschlagen. So sind schon einige tolle Filmprojekte zustande gekommen. Es müssen übrigens ja nicht immer Hauptrollen sein, wir freuen uns auch über interessante Nebenrollen. Darüber hinaus unterstützen einige Schauspieler:innen unsere Darsteller:innen auf Wunsch auch als Coaches und arbeiten bei Dreharbeiten in Tandems mit ihnen zusammen.

Wie genau funktioniert das am Filmset?

Die Coaches sind Ansprechperson für die Produzent:innen und Vertrauensperson für unsere Schauspielerin oder unseren Schauspieler. Sie teilen ihre Erfahrung und helfen auch ganz praktisch, in den langen Wartezeiten an den Drehtagen nochmal den Text für die nächste Szene durchzugehen.

In welchen Filmen und Serien sind denn die Schauspieler:innen zu sehen, die „Rollenfang“ schon vermitteln konnte?

Das ist inzwischen ein sehr breites Spektrum. Wir haben Serien wie „In aller Freundschaft“, „Rote Rosen“ oder „Die Bergretter“ im Portfolio, Fernsehreihen wie „Praxis mit Meerblick“ oder „Polizeiruf 110“, aber auch Kinofilme wie „24 Wochen“ und Florian Henckel von Donnersmarcks „Werk ohne Autor“.

Für Rollen in solchen Produktionen brauchen die Darsteller:innen wahrscheinlich eine gute Ausbildung. Wie einfach oder schwierig ist der Einstieg in diesen Beruf für Menschen mit Behinderung?

Leider ist er meistens schon die erste Hürde. Schauspielschulen sind zwar offiziell für alle offen, tatsächlich bekommen Menschen mit Behinderung aber fast nie einen Platz. Die meisten Schauspieler:innen mit Behinderung haben in inklusiven Theatergruppen erste Erfahrungen gesammelt oder wurden in einer Einrichtung für behinderte Menschen gecastet. Wir bieten deshalb bei „Rollenfang“ auch Weiterbildungen an, etwa einwöchige Kameraworkshops, in denen wir inklusiv besetzte Kurzfilme produzieren. Unsere Coaches bereiten unsere Schauspieler:innen bei Bedarf auch ganz direkt auf neue Rollen oder schwierige Szenen vor, in denen es etwa besonders wichtig ist, zwischen der Rolle und dem realen Leben zu unterscheiden.

Wie finanzieren Sie die Arbeit von „Rollenfang“?

Hauptsächlich wird die Arbeit von Rollenfang durch eine Projektförderung der Aktion Mensch finanziert, außerdem unterstützen uns einige private Stiftungen. Für einen Kurzfilm konnten wir den RBB als Koproduzenten gewinnen, und auch das Medienboard Berlin Brandenburg hat zwei unserer Projekte mitfinanziert.

Was haben Sie sich für die nächsten Jahre vorgenommen?

Unser neuestes Projekt „Rollenfang-Labor“, eine Art Denkfabrik, in der Künstler:innen mit und ohne Behinderung gemeinsam arbeiten. Hier wollen wir inklusiv neue Sichtweisen und Filmstoffe und gleichzeitig Arbeitsmöglickeiten für Regisseur:innen, Drehbuchautor:innen und Musiker:innen mit Behinderung entwickeln, also für alle Gewerke, die hinter der Kamera agieren.




Das Hotel „Haus vom Guten Hirten“: ein inklusives Team und ein barrierefreies Haus

Das Hotelzimmer ist geräumig, gemütlich und ordentlich; wer es betritt, möchte gleich die Füße hochlegen und entspannt abschalten. Wie es in einem guten Hotel sein sollte. Und der Anspruch des Hauses ist: Nicht nur die Gäste sollen sich wohlfühlen, sondern auch die Mitarbeiter:innen.

Seit 2009 ist das Hotel vom Guten Hirten ein inklusiver Betrieb. 13 der 18 Beschäftigten haben eine Schwerbehinderung oder eine Gleichstellung, also einen Grad der Behinderung von weniger als 50, aber mehr als 30. „Wir leben das hier“, erzählt Kersten. Ein Besuch im Hotel zeigt, was hinter der Aussage steckt. Das gesamte Haus ist barrierefrei gestaltet. Nach dem Prinzip „Reisen für alle“ wird hier Inklusion für die Gäste ebenso möglich gemacht wie für die Mitarbeiter:innen.

Ein Ort mit Geschichte

Das Hotel befindet sich auf einem ehemaligen Klostergelände im grünen Mauritzviertel im Osten von Münster, in dem ehemaligen Schwesternhaus der Anlage. Es grenzt direkt an die soziale Einrichtung der Schwestern vom Guten Hirten, die wie das Hotel in Trägerschaft der Schwestern vom Guten Hirten steht. Die Schwestern kümmerten sich hier früher um Frauen, die aus der Gesellschaft ausgestoßen wurden, und gaben ihnen die Möglichkeit, sich durch eine Berufsausbildung selbstständig zu machen. Inzwischen sind hier eine Wohn- und eine Pflegeeinrichtung für Menschen mit Behinderung sowie eine Kindertagesstätte angesiedelt.

Sema Franke ist schon seit Jahrzehnten in der Ordensgemeinschaft der Schwestern vom Guten Hirten tätig und nun auch Inklusionsbeauftragte des Hotels. Als das Gästehaus der Schwestern im Jahr 2009 in ein Hotel umgebaut wurde, gab es ein klares Ziel: „Der soziale Grundgedanke musste berücksichtigt werden, es sollte mehr sein als ‚nur‘ ein Hotel“, erinnert sie sich.

Die Arbeit im Haus vom Guten Hirten folgt dem gleichen Leitbild wie das damalige Kloster. Eine ehemalige Generaloberin, die mittlerweile heiliggesprochene Schwester Maria Euphrasia, hat in acht Grundsätzen die Haltung des Klosters und seine Verantwortung für die Menschen formuliert und in den Folgejahren weiterentwickelt. Es gehe darum, „den Menschen als ganzheitliche Persönlichkeit zu sehen und ihm so zu begegnen, dass sich jeder in seiner Einmaligkeit und seiner Würde erfahren kann, und ihn so zu begleiten, dass er seine Begabungen und Begrenzungen als Chance sieht.“ So steht es bis heute in der Leitbild-Broschüre.

Der Leiter des Hotels Kai-Uwe Kersten vor dem Haus.
Für Hotelleiter Kai-Uwe Kersten ist Inklusion Teil des Gesamtkonzepts. Foto: Kopfkunst/LWL

Ein Leitbild zum Mitleben

Das Leitbild bestimmt die Praxis und das Tagesgeschehen vor Ort. Um gut inklusiv zu arbeiten, müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Kleine Fehler wie die Falte im Bettbezug oder ein Messer auf der falschen Tischseite kommen zwar vor, passieren aber genauso auch in anderen Häusern. Den Gästen fallen kleinere Makel ohnehin oft gar nicht auf, und wenn doch, wird erfolgreich vermittelt.

Das Konzept geht auf: Seit zwei Jahren ist das Haus ein Drei-Sterne-Hotel, laut Kersten war der Standard schon lange vorher erfüllt. Das Feedback sei rundum gut, die Gäste schätzen die geräumigen Zimmer, die ruhige Lage, das ausgiebige Frühstück und das zuvorkommende Personal.

Gerade bei der Barrierefreiheit macht das Leitbild des Hotels für viele Gäste einen Unterschied. Menschen mit Behinderung können im Vorfeld ihre Wünsche oder Bedürfnisse kommunizieren, so dass das Personal darauf Rücksicht nehmen kann. Rollstuhlfahrer:innen wird beim Eindecken mehr Platz an den Tischen eingeräumt, den Begleitpersonen werden Organisation und Unterstützung zu gewissen Teilen abgenommen, und auch kleine Pflegeleistungen werden angeboten.

Ein schönes Beispiel dafür, was all das für die Gäste bedeutet: Ein mittlerweile langjähriger Stammgast konnte früher die Reise zu seiner Familie in Münster wegen einer Schwerbehinderung nur unter hohem Aufwand bewältigen. Seit das Haus vom Guten Hirten ein Pflegebett angeschafft und das Pflegeangebot eingerichtet hat, konnte der Trip deutlich vereinfacht werden – und somit ein richtiger Urlaub.

Im Film erklärt Hotelleiter Kai-Uwe Kersten das Konzept seines Hauses und beschreibt, was er an seinem Team so schätzt.

Ein offenes Miteinander

Marjam Said arbeitet an der Rezeption. Die 23-Jährige hat eine Hörbehinderung. Das fällt den Gästen in der Regel nicht gleich auf, zumal ihre Hörgeräte unter ihrem Kopftuch verschwinden. Eine Glasfront an der Rezeption erschwert die Kommunikation zwischen Said und den Gästen manchmal zusätzlich. Aber auch solche Schwierigkeiten lassen sich durch ein kurzes Gespräch erklären und auflösen. „Manchmal müssen sich die Gäste eben wiederholen“, fasst es die Rezeptionistin zusammen. Aber da gebe es nie Probleme.

„Es geht auch um Selbstverständlichkeit“, findet die Inklusionsbeauftragte Sema Franke. Die entstehe, wenn beide Seiten offen mit dem Thema umgehen können. Franke erlebt die Gäste als aufgeschlossen und bereit für dieses offene Miteinander.

Perspektiven und Zukunftsmusik

Auch für die Belegschaft scheint das Konzept aufzugehen; die Umgestaltung 2009 sollte laut Franke schließlich auch die beruflichen Perspektiven der inklusiven Belegschaft grundlegend miteinbeziehen. Marjam Said wollte ursprünglich eine Ausbildung im Einzelhandel machen, bekam in dem Bereich aber keine Stelle. Mit Unterstützung des vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe beauftragten Integrationsfachdienstes fand sie einen Praktikumsplatz im Hotel und konnte eine Ausbildung zur Hotelfachfrau beginnen. Im Vergleich zu einer theoriereduzierten Ausbildung war dies eine Entscheidung für die deutlich größere Herausforderung, da ihr der Unterricht an der Berufsschule wegen ihrer Hörbehinderung schwerer fiel als ihren Mitschüler:innen. Doch es war ihr wichtig, durch die abgeschlossene Ausbildung später verschiedene Möglichkeiten zu haben, sich beruflich weiterzuentwickeln.

Während der Ausbildung wurde sie von Kolleg:innen im Betrieb unterstützt, danach übernahm das Hotel sie sofort. Da sie ein Händchen für Computer hat und gerne im Kontakt mit den Gästen ist, passt die Arbeit an der Rezeption perfekt zu ihr. Für die Zukunft hat sie viele Optionen, für den Moment ist sie aber mit ihrem Arbeitsplatz zufrieden: „Alles in allem macht es hier einfach Spaß.“

Mitarbeiterin Stefanie Frie bei der Arbeit
Stefanie Frie arbeitet schon seit 21 Jahren im Hotel. Foto: Kopfkunst/LWL

Stefanie Frie kann dem nur beipflichten. Sie arbeitet hauptsächlich im Service und ist schon seit 21 Jahren im Unternehmen. Sie steht im – noch leeren – Restaurant und macht die letzten Handgriffe mit einem Lächeln im Gesicht. „Ich habe einfach gerne Menschen um mich herum“, erzählt die 51-Jährige, „und wenn die Gäste morgens schon mit guter Laune zum Essen kommen, muntert das auf.“ Gerade, wenn man mal etwas platter zur Arbeit käme, sei das wichtig, ergänzt sie grinsend.

Gemeinsam nach vorne

Generell ist das Miteinander essenziell für das gute Arbeitsklima. „Wir unterstützen uns gegenseitig gut“, sagt Frie. Was dem einen vielleicht nicht so gut gelinge, könne jemand anders auffangen. „Wir achten darauf, die Teams so zusammenzusetzen, dass es sich gut ergänzt“, beschreibt Kersten das Tagesgeschäft. Darauf müssen sich alle einlassen und bereit sein, mit anzupacken.

In den kommenden Jahren sollen Teile des Gebäudes abgerissen und das umliegende Gebiet neugestaltet werden. Kersten freut sich insbesondere auf die neuen Berührungspunkte zwischen den einzelnen Einrichtungen und die Synergien, die sich entwickeln können. Wer Angehörige im Wohnheim besuchen will, kann im Hotel übernachten. Die Bewohner:innen der Einrichtungen können gemeinsam auch in den neuen Restaurants oder Bistros zu Abend essen. Insgesamt soll das Leben für die Gäste, die Bewohner:innen und die Menschen in Mauritz gemeinschaftlicher, inklusiver und offener werden. —




Zweites Leben für Laptop und Co.

Jutta Dieckmann sitzt an ihrem Schreibtisch in der geräumigen Aufbereitungshalle der AfB an der Otto-Stadler-Straße in Paderborn. Mit einem Heißluftfön löst sie Etiketten und Aufkleber von Netzteilen und Adaptern. „Ich sortiere die Netzteile nach Hersteller und Amperezahl“, erklärt sie. Neben ihrem Tisch stehen mehrere Kisten. Sind sie voll, werden sie ins Lager gebracht oder an eine andere AfB-Filiale verschickt.

Perfekt getaktetes System

Jutta Dieckmann und ihre Kollegen arbeiten nach einem bis ins Detail organisierten und perfekt getakteten System von Abholung, Datenvernichtung, Aufbereitung, Wiedervermarktung und Entsorgung von IT- und Mobilgeräten. Die AfB gilt als Europas erstes und größtes gemeinnütziges IT-Unternehmen – und befindet sich weiter auf strammem Wachstumskurs. Der Betrieb ist darauf spezialisiert, ausgemusterte IT-Geräte von Unternehmen, Versicherungen, Banken und öffentlichen Einrichtungen zu übernehmen und dabei so viele Geräte wie möglich wieder zu vermarkten.

Der vom LWL geförderte Inklusionsbetrieb bearbeitet jährlich mehr als 360.000 Geräte, die er von mehr als 1.000 Unternehmen zur Verfügung gestellt bekommt. Menschen mit Behinderung wie Jutta Dieckmann stellen fast die Hälfte der gut 357 Beschäftigten, am Standort Paderborn sind es 21 von 48 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Ein Teil des AfB-Teams in der großen Halle
Fast die Hälfte der Beschäftigten der AfB haben eine Behinderung. Eine von ihnen ist Jutta Dieckmann (links), hier mit einigen Kolleginnen und einem Praktikanten in der Halle der AfB. Foto: LWL/Paul Metzdorf

Nachhaltiges Geschäftsmodell

Der Markt für diesen Wiederverwendungskreislauf ist größer, als man meint. „Wir arbeiten mit Konzernen wie Siemens, Provinzial und Generali zusammen, aber auch mit regionalen Firmen, Behörden und Institutionen“, sagt Monika Braun. Die AfB-Prokuristin spricht dabei stets von „Partnern“. Und denen kann die AfB durchaus etwas bieten.

„Sämtliche Datenträger werden im Rahmen eines zertifizierten Prozesses nach höchsten Sicherheitsstandards gelöscht oder geschreddert. Die Geräte werden per IT-Sicherheitstransport durch unser eigenes Personal mit unserem eigenen Fuhrpark abgeholt und zur nächstgelegenen AfB-Niederlassung transportiert“, erläutert Monika Braun. Neben der Datenvernichtung werden die Geräte erfasst, getestet, gereinigt, mit neuer Software bespielt und anschließend verkauft – mit bis zu drei Jahren Gewährleistung. Nicht mehr vermarktbare Hardware wird unter höchsten ökologischen Standards zerlegt und recycelt. Der ursprüngliche Eigentümer der Geräte erhält alle relevanten Nachweise zur Datenvernichtung.

Fujitsu-Aus als Chance

Der Leiter der Paderborner AfB-Niederlassung, Dietmar Mormann, hat alle Arbeitsschritte im Blick. Er kam 2018 vom japanischen Technologiekonzern Fujitsu, als der sein Werk in Paderborn dicht machte. „Ich hatte schon vorher AfB-Gründer Paul Cvilak kennengelernt“, sagt Mormann. „Damals haben wir noch über eine mögliche Kooperation von Fujitsu und AfB gesprochen.“ Dann kam die Schließung des Fujitsu-Standorts. Mormann begriff das als Chance, die AfB nach Paderborn zu holen. „Wir haben dann eine Ausschreibung von Fujitsu gewonnen, eine weitere von Diebold Nixdorf, und dann ging alles ganz schnell“, sagt Mormann.

Man fand mit einer 3.200 Quadratmeter großen Halle eines ehemaligen Schulbuch-Verlags eine optimale Immobilie. Der neue Niederlassungsleiter brachte gleich noch eine ganze Reihe ehemaliger Fujitsu-Kollegen mit. „Wir haben 2018 mit zwölf Leuten hier angefangen“, erzählt Mormann. Um dann personell rasch aufzustocken. „Paderborn mit seinen IT-Unternehmen hat einfach das Potenzial.“

Echter Wettbewerbsvorteil

Eine Zusammenarbeit mit der AfB ist nicht nur gut für das soziale und ökologische Gewissen, sie kann ein echter Wettbewerbsvorteil sein. „Das durch eine Partnerschaft mit der AfB gezeigte gesellschaftliche Engagement kann am Point-of-Sale unserer Partner kommuniziert und somit als Vertriebsvorteil genutzt werden“, heißt es auf einem Imageflyer des Unternehmens. Der Zusatz „social & green IT“ im Firmentitel weist darauf hin. Sozial ist die inklusive Ausrichtung der AfB, grün sind etwa Einsparungen von CO2, Rohstoffen und Energie durch die Wiederverwertung der IT-Geräte.

Die AfB-Beschäftigten in Paderborn haben seelische, körperliche und Sinnesbeeinträchtigungen. Einer von ihnen ist Martin Gasse, der die Verteilung der Hardware am Wareneingang organisiert. Dort werden die firmeneigenen Transporter entladen. „Ich sortiere und erfasse die hereinkommenden Geräte“, sagt er.

Blick in die große Lagerhalle der AfB in Paderborn.
Die 3.200 Quadratmeter große Halle der AfB in Paderborn, das eines der ersten und zugleich größten gemeinnützigen IT-Unternehmen Europas ist. Foto: LWL/Paul Metzdorf

Hauseigenes Warenwirtschaftssystem

Bernd Schmelter kümmert sich um die Detailerfassung im hauseigenen Warenwirtschaftssystem. Und er schaut, ob die Datenlöschung tatsächlich vollständig erfolgt ist: „Ich bin so etwas wie die letzte Instanz.“ Thomas Müller wiederum löscht Server. Gut und gerne 20 pro Tag. Dann sortiert er sie und macht die Enderfassung für den Verkauf. Für ihn ein Traumjob: „Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, woanders zu arbeiten.“

Die aufbereiteten Server, PCs, Notebooks, Bildschirme, Drucker und Handys werden teilweise im Shop zum Verkauf angeboten. Zur Kundschaft zählen Privatpersonen, vor allem auch ältere Menschen, ebenso wie Steuerberater oder Zahnarztpraxen. Was sie alle am AfB-Shop schätzen, ist die ausführliche und persönliche Beratung. „Und sollte ein Käufer mit seinem Gerät daheim nicht klarkommen, dann fahren wir vorbei und helfen ihm“, sagt Niederlassungsleiter Dietmar Mormann.

Das AfB-Konzept baut auf flache Hierarchien. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter duzen sich, vom Firmengründer bis zum Praktikanten. Es gibt eine Niederlassungsleitung, eine Technische Leitung und die Teams – mehr nicht. Im Sommer wird oft gemeinsam gegrillt, der Zusammenhalt ist groß. Mehrmals im Jahr schaut auch AfB-Gründer Paul Cvilak in Paderborn vorbei. Er kennt fast alle Beschäftigten persönlich und nimmt sich Zeit für Gespräche. Seine Vision von 2004 ist längst Wirklichkeit geworden. In Paderborn und anderswo an einem der mittlerweile 23 Standorte in fünf europäischen Ländern. —





„Ich war schon immer neugierig und kreativ“

Herr Schmidt, warum wollen Sie Journalist werden?

Im Journalismus kann man immer wieder unterschiedliche und abwechslungsreiche Erfahrungen und Einblicke sammeln und dabei Geschichten erzählen. Ich studiere Niederlande-Deutschland-Studien, einen sehr abwechslungsreichen Studiengang, in dem es unter anderem um Geschichte, Politik und Kultur geht. Diese Vielfalt finde ich sehr spannend. Außerdem war ich schon immer neugierig und auf unterschiedliche Weise kreativ. Ich schreibe zum Beispiel, mache Fotos und drehe Filme.

Wie viele andere junge Journalist:innen auch haben Sie sich diesen Beruf vorab von innen angeschaut und als Praktikant gearbeitet. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?

Ich habe zunächst in einer Lokalredaktion der Tageszeitung „Westfälische Nachrichten“ ein Praktikum absolviert und war dort anschließend als freier Mitarbeiter aktiv. Das war sehr lehrreich. Ich habe erste journalistische Techniken beigebracht bekommen und gelernt, mit meiner Behinderung im beruflichen Kontext umzugehen.

Ist diese von Anfang an ein Thema gewesen?

Ich musste später begleitend zu meinem Studium ein Pflichtpraktikum machen, das habe ich im ZDF-Landesstudio in Düsseldorf absolviert. Im Zusammenhang mit meiner Behinderung gab es dort zu Beginn „falsche Berührungsängste“, wie meine Chefin es beschrieb. Diese Unsicherheit konnte ich bei meinen Kolleg:innen aber schnell beseitigen. Die drei Monate in der Landesredaktion waren dann eine der spannendsten und interessantesten Erfahrungen in meinem bisherigen Leben.

Warum?

Ich durfte unter anderem den Ministerpräsidenten Hendrik Wüst interviewen oder auch für das ZDF-Morgenmagazin die Versteigerung des Nachlasses von Karl Lagerfeld begleiten. Daneben konnte ich vier eigene Beiträge zu verschiedenen Themen produzieren, zum Beispiel über das älteste Faultier der Welt oder die Gesundheit der Wälder. Meine Behinderung hat nur in einem kleinen, aber dann doch entscheidenden Detail eine Rolle gespielt: Wegen meiner Muskelerkrankung habe ich manchmal eine etwas undeutliche Aussprache. Daher habe ich meine Fernsehbeiträge nicht selbst eingesprochen, das hat ein Kollege für mich übernommen.

Ist Journalismus aus Ihrer Sicht ein Berufsfeld, in dem Inklusion schon selbstverständlich ist – oder muss sich noch etwas verbessern?

Es ist auf jeden Fall ein Berufsfeld, in dem Inklusion möglich wäre. Es kommt aber noch viel zu selten vor. Im Journalismus geht es oft um Schnelligkeit, Präzision und Leistung – alles Anforderungen, die schnell zu falschen Vorurteilen führen, weil Menschen mit Behinderung unterstellt wird, dass sie das alles nicht beherrschen. Das stimmt nicht, schon allein deshalb, weil es ja nicht „die eine Behinderung“ gibt, sondern jede und jeder sehr unterschiedliche Voraussetzungen mitbringt. Vorurteile führen wiederum zu fehlender Inklusion. Gerade im Journalismus geht es meiner Meinung nach aber einfach viel um Perspektiven: Man muss zeigen, schreiben oder sagen, was ist, und das aus möglichst unterschiedlichen Blickwinkeln. Nur so werden Themen interessant und verständlich für alle. Dabei zählen auch die Sichtweisen von Menschen mit Behinderung. Ich finde es deshalb wichtig, dass Menschen mit Behinderung in Medien und Kultur nicht nur vorkommen, sondern diese auch selbst gestalten.

Begegnen Ihnen Barrieren im Arbeitsalltag? Falls ja: Welche – und was müsste sich für Sie ändern, damit diese verschwinden?

In meinem Alltag merke ich in den ersten Sekunden oder Minuten oft eine gewisse Unsicherheit bei anderen Personen. Ich sehe den Menschen an, wie sie im Kopf einen Fragenkatalog durchgehen, Vorurteile sortieren – aber ich sehe auch, wie sich diese erste Unsicherheit wieder legt. Das geht mal ganz schnell oder manchmal erst nach einem etwas längeren Moment. Ich denke, es ist in allen Bereichen und Situationen wichtig, dass sich niemand von dieser Verunsicherung einnehmen lässt. Wir alle haben das, das ist völlig menschlich. Aber ich wünsche mir, dass wir alle offen auf andere zugehen – das gilt sowohl für Menschen ohne als auch für solche mit Behinderung.

Was wünschen Sie sich für Ihren Berufseinstieg nach Ihrem Studium?

Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Vielleicht, weil das noch etwas in der Zukunft liegt. Meine bisherigen beruflichen Erfahrungen waren alle sehr schön und spannend. Daher wünsche ich mir, dass mein tatsächlicher Berufseinstieg diesen Erfahrungen möglichst nahekommt.