Inklupreneur: Ein Projekt für mehr Inklusion in der Start-up-Szene

Herr Dreyer, was ist ein „Inklupreneur“?

Inklupreneure sind Unternehmer:innen und Gründer:innen, die sich für Inklusion einsetzen und in ihrem Unternehmen inklusive Arbeitsplätze schaffen. Für den Namen unseres Projekts haben wir deshalb die Begriffe „Inklusion“ und „Entrepreneurship“ (auf Deutsch: Unternehmertum) miteinander verbunden. Inklupreneure können aber auch Menschen mit Behinderung sein, die den mutigen Schritt gehen und sich bei Unternehmen bewerben, in denen sie berufliches Neuland betreten. Unser Programm ist also für Menschen und Unternehmen gedacht, die neue Wege gehen. Wir richten uns dabei vor allem an die Start-up-Szene.

Es gibt bereits viele Anlaufstellen für Gründer:innen, Unternehmen und Arbeitnehmer:innen. Braucht die Start-up-Szene trotzdem solche Beratungsangebote wie Ihres?

Unserer Erfahrung nach: ja. Firmen und Organisationen aus der Start-up-Szene haben eine ganz eigene Unternehmenskultur mit sehr dynamischen, also sich ständig verändernden Prozessen. Sie wachsen sehr schnell und brauchen viel Personal. Viele Beratungsangebote erfüllen nicht unbedingt das, was Start-ups tatsächlich brauchen. Hier setzen wir an. Wir möchten die Unternehmer:innen dabei unterstützen, Inklusion zu einem Teil ihrer Unternehmenskultur zu machen.

Warum ist das wichtig?

Ich glaube, dass langfristig nur noch Unternehmen am Markt eine Chance haben, die auch einen gesellschaftlichen Beitrag leisten. Daher finde ich, dass sich alle Gründer:innen überlegen sollten, wie dieser Beitrag in ihrer eigenen Organisation aussehen könnte. Ich selbst habe vor 15 Jahren ein Unternehmen gegründet und sehr positive Erfahrungen mit der Arbeit in einem inklusiven Team gemacht. Als wir damals gewachsen sind und Personal brauchten, hat uns die Agentur für Arbeit die Bewerbung eines Software-Entwicklers mit Behinderung übermittelt. Seine Qualifikationen passten zu unseren Anforderungen, wir wiederum haben uns auf seine Bedürfnisse eingestellt – und er hat sich darauf eingelassen, in einem Start-up zu arbeiten. Für alle, die später in der Firma angefangen haben, war Inklusion dann ganz selbstverständlich. Mein und unser gesellschaftlicher Beitrag ist, dass wir das auch anderen Start-ups ermöglichen möchten.

Mit was für einem Programm unterstützen Sie Unternehmen dabei?

Wer mitmachen möchte, muss auf unserer Website erst einmal einen „Pledge“ unterzeichnen, also ein Formular zur Selbstverpflichtung. Das Start-up beschreibt darin das eigene Unternehmen genauer und erklärt, wo im Betrieb Stellen für Menschen mit Behinderung eingerichtet werden sollen.

Was ist der nächste Schritt?

Wir beginnen immer mit einer Auftaktveranstaltung. Das sind zwei sehr intensive Tage, an denen alle Unternehmen, die mitmachen, ihre jeweils eigene Inklusionsstrategie erarbeiten. Wir begleiten die Gründer:innen und Unternehmen anschließend noch einige Monate mit einem Coaching.

Wer coacht die Firmen?

Das Projekt „Inklupreneur“ wird von der Hilfswerft gGmbH organisiert, die ich als Geschäftsführer leite. Wir bieten dort Workshops für angehende Sozialunternehmer:innen an und haben dafür ein großes Netzwerk von Mentorinnen und Mentoren aufgebaut, auf das wir nun auch für „Inklupreneur“ zurückgreifen können. Insgesamt beraten 20 Menschen mit Behinderung die Unternehmen auf ihrem Weg und geben ihnen Rückmeldungen dazu, wie sie in der Community wahrgenommen werden: Worauf schauen Bewerber:innen mit Behinderung auf der Website als erstes? Wie barrierearm ist das Unternehmen? Wer könnte dort arbeiten – und wer nicht? Zum Beispiel kann ja auch ein Büro in einer Altbauwohnung im zweiten Stock barrierefrei sein, nur eben nicht für Menschen mit einer Mobilitätseinschränkung. Das ist den Verantwortlichen in den Firmen aber oft gar nicht klar, weil viele erst einmal nur an bauliche Barrierefreiheit denken. Deshalb ist der Austausch mit den Coaches sehr wichtig. Ich glaube, durch diesen direkten Kontakt setzen wir am meisten in Bewegung.

Müssen die Unternehmen für die Beratung etwas bezahlen?

Nein, das Programm ist kostenlos. Wir erwarten nur, dass sie hinter ihrer Selbstverpflichtung stehen und es ihnen damit ernst ist. Es ist daher auch wichtig, dass sie sich vorher gut überlegen, wie viele inklusive Stellen sie ankündigen, denn wir nehmen sie da beim Wort.

Wie finanzieren Sie das Projekt?

Wir haben Fördergelder für drei Jahre vom Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) Berlin bekommen. Das ist das gleiche wie die Inklusionsämter in Nordrhein-Westfalen und in anderen Bundesländern.

Müssen Sie bestimmte Ziele erfüllen, um diese Förderung zu bekommen?

Ja, wir haben in Rücksprache mit dem Landesamt als Ziel formuliert, dass wir durch das Projekt 60 bis 120 neue inklusive Arbeitsplätze schaffen wollen. Unsere Hauptleistung dabei ist, Kontakt zu Unternehmen aufzubauen, die bereit dazu sind, und sie dabei zu unterstützen, diese Stellen zu definieren und auszuschreiben. Das zweite Ziel ist natürlich, diese Stellen auch zu besetzen. Dabei kooperieren wir unter anderem mit der Bundesagentur für Arbeit und dem Jobcenter.

Wie läuft das bisher?

Deutschlandweit haben bisher 42 Firmen die Selbstverpflichtung unterzeichnet. Sie wollen insgesamt 139 inklusive Stellen schaffen.

Sind diese Stellen schon vergeben?

Nein, das wird noch dauern. Für die Unternehmen ist der „Pledge“ am Anfang des Prozesses ein erster, wichtiger Schritt, mit dem sie sich im positiven Sinne selbst unter Druck setzen. Danach müssen sie aber oft noch viele offene Fragen klären, bevor es wirklich losgehen kann. Dabei unterstützen wir sie. Bisher haben die Inklupreneure in unserem Programm knapp 30 konkrete Stellen ausgeschrieben. Sechs davon sind schon besetzt.

Woran liegt es, dass bisher erst so wenige Arbeitsplätze besetzt sind? Finden die Unternehmen keine passenden Bewerber:innen?

Das ist tatsächlich eine Herausforderung. Unser Projekt läuft jetzt seit einem Jahr. Eine Erkenntnis aus dieser Zeit ist, dass auf der Unternehmensseite zwar ein sehr großes Interesse besteht, inklusive Stellen zu schaffen. Oft gehen dann aber gar keine Bewerbungen für die neu geschaffenen Arbeitsplätze ein. Offenbar reichen die bisher vorhandenen Angebote zur Vermittlung dieser Stellen noch nicht aus. Wir möchten deshalb in Zukunft eine eigene Inklupreneur-Gemeinschaft aufbauen und so Arbeitsuchende mit Unternehmen verknüpfen.
Die Unternehmen können sich im Rahmen unseres Angebots schon jetzt miteinander vernetzen und Wissen austauschen. Eigentlich arbeiten wir also daran, unser Programm irgendwann überflüssig zu machen. Das wird vermutlich nicht passieren, aber mit dieser Haltung gehen wir an das Projekt heran.

Bisher gibt es das Inklupreneur-Programm nur in Berlin und Bremen. Wollen Sie es später auch in anderen Bundesländern anbieten?

Ja, das können wir uns gut vorstellen. Unternehmen aus anderen Bundesländern können schon jetzt unseren „Pledge“ unterzeichnen. Wenn sich genügend Interessierte gemeldet haben, werden wir auf die zuständigen Inklusionsämter zugehen und versuchen, unser Programm auch dort auf den Weg zu bringen. Wir würden uns freuen, wenn mit der Zeit eine Art Bewegung daraus wird und Inklusion irgendwann ganz selbstverständlich zur klassischen Gründer:innenberatung dazugehört. Wenn es in solchen Gesprächen also künftig nicht mehr nur darum geht, wie ein Unternehmen finanziell über die Runden kommen kann, sondern auch gemeinsam überlegt wird, wie es einen gesellschaftlichen Beitrag leisten kann, hätten wir unser Ziel erreicht.




Ein alter Beruf und ein modernes Hilfsmittel: Wie ein Scherenmonteur mit bionischer Unterstützung arbeitet

Herr Schrage, in welchem Beruf arbeiten Sie und wann haben Sie damit begonnen?

Ich habe 1978 mit meiner Ausbildung zum Scherenmonteur angefangen. In diesem Beruf habe ich 21 Jahre lang gearbeitet. Im Jahr 1999 habe ich ins LVR-Industriemuseum Gesenkschmiede Hendrichs gewechselt. Dort habe ich von Solinger Handwerksmeistern auch noch das Schleifen von Messern gelernt.

Bei so viel Erfahrung passt es sehr gut, dass Sie im LVR-Industriemuseum Gesenkschmiede Hendrichs heute den Schleif- und Reparaturservice betreuen. Warum hat das Museum so einen Service und was ist Ihr Job dort?

Der damalige Museumsleiter wusste um meine langjährige Berufserfahrung und hatte deshalb die Idee, in der Gesenkschmiede nicht nur Führungen anzubieten, sondern zusätzlich auch noch einen Besucherservice, zu dem die Leute ihre Scheren und Messer mitbringen und bei uns schärfen lassen können. Wir haben seinerzeit sogar eine eigene Schere für das Museum entwickelt. Meine Hauptaufgabe ist aber eigentlich nicht das Schleifen, vor allem betreue, begleite und führe ich die Besucherinnen und Besucher der Gesenkschmiede.  

Sie arbeiten also nicht nur handwerklich, sondern vermitteln auch Wissen?

Genau, ich arbeite sehr viel museumspädagogisch. Zum Beispiel, wenn Kindergärten, Schulklassen und Erwachsenengruppen zu Besuch kommen, oder an Aktionstagen wie dem „Girlsday“ oder dem „Boysday“. Dann zeige ich jungen Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen die Ausstellung, damit sie einen Eindruck der jeweils vielleicht eher geschlechteruntypischen Berufe in der Schmiede bekommen können. Ich führe auch Jugendliche im Rahmen des „MINT-Mädchen“-Projekts des Bundesministeriums für Bildung und Forschung durch die Gesenkschmiede, also junge Frauen, die sich für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften oder Technik interessieren. Und ich gebe Workshops zu verschiedenen Themen, beispielsweise zum Bau von Taschenmessern.

Wenn Sie wieder am Schleifstein sitzen, benutzen Sie ein Hilfsmittel, einen bionischen Handschuh. Wie funktioniert diese Technik und wofür nutzen Sie sie?

Ich kann meine rechte Schulter und den Daumen der rechten Hand nur sehr eingeschränkt benutzen. Der Handschuh unterstützt mich und gleicht die fehlende Kraft aus. Er hat Sensoren, die die Bewegung meiner Finger erkennen. Und die Elektronik im dazugehörigen Rucksack verstärkt mit einem Motor die Kraft der Finger. Dadurch kann ich Messergriffe und die Scheren beim Schleifen sicher halten, Scherenklingen mit einem Hammer abrichten und Scheren montieren. Ohne den Handschuh könnte ich diese Arbeiten nicht präzise ausführen.

Wie sind Sie auf diesen Handschuh gekommen?

Das war nicht ich, sondern Norbert Poqué vom technischen Beratungsdienst des LVR-Inklusionsamtes. Er kannte meinen Fall und hat mir den Handschuh empfohlen. Finanziert wurde das Hilfsmittel dann über die Fachstelle für Menschen mit Behinderung im Arbeitsleben in Solingen.

Kommen Sie gut damit klar oder würden Sie gern etwas daran verbessern?

Der Handschuh unterstützt mich sehr gut in der täglichen Arbeit. Die Sensorik reagiert aber natürlich schon ein wenig träger als der Körper selbst. Ich spüre durchaus einen Unterschied zwischen der linken und der rechten Hand. Wenn es künftig möglich wäre, das zu verfeinern, fände ich das toll. Aber der Handschuh ist wie gesagt auch so ein tolles Hilfsmittel. Ich benutze ihn auch zu Hause bei vielen alltäglichen Arbeiten, bei denen ich Kraft zum Greifen brauche. Zum Beispiel im Garten, wenn ich Pflanzen ins Beet setzen will.

Bei der A+A-Messe führen Sie am gemeinsamen Infostand des LVR und LWL Ihre Fähigkeiten an einem alten Schleifstein vor. Unterscheidet sich diese alte Schleiftechnik von der heutigen Art, Messer und Scheren zu schärfen?

Ein Reparaturservice funktioniert sowieso nur von Hand, daher gibt es hier kein Alt und Neu. Das LVR-Industriemuseum will ja außerdem die Arbeitsbedingungen in der Solinger Schneidwarenindustrie aus dem vergangenen Jahrhundert zeigen. Ich arbeite also auch noch mit der Technik von früher, die heutige Art des Schärfens kann ich daher nicht direkt beurteilen. Ich weiß, dass die Solinger Schneidwarenindustrie inzwischen oft mit computergesteuerten Schleifmaschinen arbeitet. Es gibt aber auch weiterhin einige Betriebe, die besonders hochwertige Schneidwaren herstellen und auch heute noch von Hand schleifen – genauso wie vor 100 Jahren.






„Ich musste mit meinen eigenen Vorurteilen umgehen lernen“

Frau Maack, Sie arbeiten als Moderatorin, Rednerin und Coachin. Durch Ihre Tätigkeiten haben Sie also viele verschiedene persönliche und berufliche Situationen kennengelernt. Wie erleben Sie mit dieser Erfahrung die Arbeitsmarktsituation für Menschen mit Behinderungen?

Die Lage wird in vielen Bereichen besser, auch wenn es sehr langsam geht. Es wird viel gefordert, geredet und auch viel investiert. Zugleich passiert noch viel zu wenig. Vor allem für die größer werdende Anzahl von Menschen mit psychischen Erkrankungen wird die Situation eher schwieriger als besser. Insgesamt ist das Arbeitsleben ja für alle viel fordernder geworden. Wir müssen sehr flexibel sein, uns ständig neu aufstellen und uns für wachsende Anforderungen weiterqualifizieren. Das ist für kaum jemanden einfach – ganz unabhängig von einer Behinderung.

Sie selbst sind im Laufe Ihres Lebens erblindet. Sie können also beurteilen, wie ein Berufsleben mit und ohne Behinderung aussieht. Welche positiven und negativen Erfahrungen haben Sie gemacht?

Ich habe sehr viel Unterstützung aus meinem Umfeld erfahren. Ich habe aber auch erlebt, dass ich wegen meiner Behinderung mehr arbeiten und mich stärker beweisen musste als andere Menschen. Ich musste darum kämpfen, meiner Qualifikation und Erfahrung gemäß beschäftigt und bezahlt zu werden. Nach meinem Studium war ich fast 15 Jahre im Ausstellungsprojekt „Dialog im Dunkeln“ beschäftigt und habe dort den Bildungsbereich aufgebaut und geleitet. Seit 2018 bin ich selbständig und damit meine eigene Chefin. Das hat noch einmal alles verändert. Bisher habe ich diese Entscheidung noch nicht bereut, obwohl die „Extrameilen“, die ich auch dort gehen muss, nicht weniger werden. Als Moderatorin, Coachin und Rednerin zu arbeiten, heißt für mich, das zu tun, was ich liebe. Das ist ein großes Glück für mich und ich weiß, dass das für viele Menschen – ob mit oder ohne Behinderung – nicht selbstverständlich ist.

Welche Rahmenbedingungen sind aus Ihrer Sicht nötig, damit Inklusion im Berufsleben für Menschen mit Behinderungen möglich wird?

Zuallererst müssten einige Grundvoraussetzungen erfüllt sein und selbstverständlich werden. Zum Beispiel die barrierefreie Ausstattung von Gebäuden, Leitstreifen für sehbehinderte oder blinde Menschen, behinderungsgerechte Computer-Software, Dolmetscher für Gebärdensprache oder auch Assistenzen. Oft scheitert eine erfolgreiche Karriere oder eine langfristige Anstellung für einen Menschen mit Behinderung daran, dass der Aufwand einfach zu groß und der ganze Prozess zu langwierig ist, sobald eine bestimmte Ausstattung benötigt wird.

Woran liegt das?

Weil die Unternehmen, aber auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oft erst unzählige Anträge stellen, für Unterstützung streiten und dann trotzdem noch sehr lange auf eine Bewilligung warten müssen. Ohne eine behinderungsgerechte Ausstattung am Arbeitsplatz ist es aber oft nicht möglich, zu zeigen, was man kann. Gerade in der sensiblen Phase der Probezeit in einem neuen Job kostet es also erst einmal viel Zeit und Energie, sich um die formalen Voraussetzungen zu kümmern. Das lenkt ab und ist für beide Seiten anstrengend. Für mich als Arbeitnehmerin und auch für das Unternehmen, in dem ich vielleicht arbeiten möchte, wäre es viel besser, wenn ich als blinde Berufseinsteigerin meine Ausstattung und meine Assistentin gleich selbst mitbringen könnte.

Das geht im Moment noch nicht?

Zur Zeit müssen die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowohl die Arbeitsplatzausstattung als auch die Assistenzen bei den Inklusionsämtern beantragen. Das hat strukturelle Gründe. Es ist umgekehrt aber auch keine Lösung, wenn der große bürokratische Aufwand, der damit verbunden ist, von einer Arbeitnehmerin allein geschultert werden müsste. Es wird trotzdem immer wieder gefordert, dass gerade beim Berufsstart oder Berufswechsel eine andere Institution diese Aufgabe übernehmen sollte. Zu Beginn meiner Selbstständigkeit hat mir zum Beispiel das Beratungsunternehmen Quikstep sehr geholfen, das von dem blinden Berater Stefan Wilke betrieben wird. Er hatte ähnliche Erfahrungen gemacht wie ich und konnte mich aus dieser Perspektive besonders gut beraten.

Welche Chancen sehen Sie in der Digitalisierung?

Insgesamt sehr große. Für mich als erblindete Frau wäre es ohne digitale Hilfsmittel kaum oder nicht möglich, in einem qualifizierten Beruf zu arbeiten. Mein Computer ist blindengerecht ausgestattet und ich benutze eine barrierefreier Software – damit geht das Arbeiten problemlos. So geht es sicher auch anderen Menschen mit Behinderungen, zum Beispiel gibt es für gehörlose Menschen oder für Menschen mit Lernschwierigkeiten ja vergleichbare digitale Lösungen. Und Menschen mit einer Körperbehinderung profitieren ebenfalls enorm vom technischen Fortschritt.

Auch in der Corona-Krise?

Gerade jetzt. So schlimm und einschränkend diese Zeit auch ist, im Arbeitsleben hat sie einige große Vorteile gebracht. Es ist normaler geworden, dass Menschen im Home-Office arbeiten. Für jemanden mit einer Behinderung kann das eine große Erleichterung bedeuten, weil weniger oder gar keine langen Wege mehr zur Arbeit zurückgelegt werden müssen, die sonst großen Aufwand bedeuten würden. Und wenn behinderungsbedingt die Arbeit zeitlich anders eingeteilt werden muss, ist die Flexibilität dafür im Home-Office auch deutlich größer.

Und welche Nachteile sehen Sie im digitalen Wandel?

Für Menschen mit Behinderung besteht die Gefahr, dass sie durch das Tempo der Digitalisierung erneut abgehängt werden. Das kann vor allem dann schnell passieren, wenn bei neuen Arbeitsplätzen, Projekten oder Konzepten nicht von vornherein auch barrierefreie Lösungen mitgedacht und mitgeplant werden. Oder dann, wenn einfache Arbeiten oder Routinetätigkeiten bald millionenfach vollständig von Computern und Robotern übernommen werden, die vorher häufig von Menschen mit schweren körperlichen oder geistigen Behinderungen erledigt werden konnten.

Sie haben dieses Jahr Ihr erstes Buch veröffentlicht. Worum geht es?

Ich beschreibe darin ganz subjektiv die Geschichte meiner Erblindung. Es geht aber weniger um den praktischen Umgang mit meiner Behinderung, sondern mehr um den Bewältigungsprozess als Ganzes. Ich bin mit den Bildern der „Aktion Sorgenkind“ aufgewachsen, in denen Menschen mit Behinderung als bemitleidenswert und bedürftig dargestellt wurden. Die Organisation hat erst viel später die radikale Wende zur „Aktion Mensch“ gemacht und sich ab dann für echte Inklusion engagiert. Durch diese Bilder war ich anfangs also das Opfer meiner eigenen Vorurteile: Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Leben ohne Sehen überhaupt lebenswert sein kann. Ich habe aber trotz meiner anfangs heftigen Widerstände schließlich die sehr wichtige Erfahrung gemacht, dass Glück und Erfüllung im Leben eben nicht davon abhängen, ob ich sehen kann oder nicht.

Was wünschen Sie persönlich sich für die Inklusion im Arbeitsleben?

Am schönsten wäre es, wenn es keine Sensation mehr wäre, wenn ein Unternehmen oder eine Organisation einen Menschen mit Behinderung anstellt. Das sollte ganz selbstverständlich werden. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg, denn es gibt noch viele Hindernisse zu überwinden: für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Behinderung, für die Unternehmen – und für die Gesellschaft. —





8 Fragen und Antworten zur Leichten Sprache

#1: Was ist die Leichte Sprache?

Die Leichte Sprache ist eine leicht verständliche Sprache, die geschrieben und auch gesprochen werden kann. Sie ist vor allem für Menschen mit Lernschwierigkeiten gedacht (früher: „Menschen mit geistiger Behinderung“), die Texte in der (schwierigeren) Alltagssprache nicht oder nicht gut lesen und verstehen können.


#2: Gibt es feste Regeln für die Leichte Sprache?

Ja, es ist genau festgelegt, wie Texte in Leichter Sprache geschrieben werden sollen. Die wichtigsten Regeln sind: Sätze sollen kurz sein und keine Fach- oder Fremdwörter enthalten. Zusammengesetzte Wörter werden getrennt geschrieben und mit einem Bindestrich oder einem Punkt verbunden, zum Beispiel „Bundes-Regierung“ oder „Bundes·regierung“. Außerdem sollten möglichst viele Fotos und Bilder verwendet werden, die beim Verstehen helfen.


#3: Sind Leichte Sprache und Einfache Sprache dasselbe?

Nein, die beiden Sprachformen sind unterschiedlich anspruchsvoll. Die Leichte Sprache entspricht dem Level A1 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen – also ungefähr einem Anfängerkurs für Menschen ohne Deutschkenntnisse. Die Einfache Sprache liegt zwischen der Leichten Sprache und der Alltagssprache, sie entspricht ungefähr dem Level A2/B1 (Anfänger mit Vorkenntnissen/Fortgeschrittene). Sie ist für Menschen gedacht, die aus verschiedenen Gründen mit dem Lesen und Schreiben Probleme haben.


#4: Welche Texte gibt es in Leichter Sprache?

Viele öffentliche Einrichtungen und Institutionen, zum Beispiel die Deutsche Bundesregierung, veröffentlichen Informationen in Leichter Sprache auf ihren Internetseiten oder in Broschüren. Es gibt aber auch viele Bücher mit Geschichten, die in die Leichte oder die Einfache Sprache übertragen wurden, zum Beispiel hier oder hier.


#5: Gibt es auch andere Sprachen in vereinfachter Form, zum Beispiel Leichtes Englisch?

Ja, viele europäische Sprachen gibt es auch in einer vereinfachten Form. Leichtes Englisch heißt zum Beispiel „Easy to read“ (Übersetzung: „Leicht zu lesen“) und wird in den USA und in Großbritannien verwendet. Auch in Frankreich, den Niederlanden, Skandinavien und vielen weiteren Ländern ist die Leichte Sprache schon lange anerkannt.


#6: Wie entstehen Texte in Leichter Sprache?

Ähnlich wie für Fremdsprachen gibt es auch für die Leichte Sprache Übersetzerinnen und Übersetzer. Sie werden von Institutionen, Organisationen oder Verlagen beauftragt. Bevor sie anfangen, einen Text in die Leichte Sprache zu übertragen, fassen sie den Inhalt grob zusammen. Dabei achten sie vor allem darauf, welche Informationen für Menschen mit Lernschwierigkeiten besonders wichtig sind und was wegfallen kann, damit der Text in Leichter Sprache nicht zu lang wird. Für ein gutes Ergebnis besprechen die Übersetzerinnen und Übersetzer die wichtigen Inhalte am besten mit Prüferinnen und Prüfern für Leichte Sprache (siehe #7).


#7: Woher wissen die Übersetzerinnen und Übersetzer, wann Menschen mit Lernschwierigkeiten einen Text gut verstehen können?

Wenn ein Text in die Leichte Sprache übertragen wurde, lesen ihn anschließend Prüferinnen und Prüfer mit Lernschwierigkeiten. Sie kontrollieren, wie gut die Übersetzung ist. Verstehen sie einen Satz oder den ganzen Text nicht, müssen die Übersetzerinnen und Übersetzer ihn noch einmal überarbeiten.


#8: Gibt es auch Kritik am Konzept der Leichten Sprache?

Ja, einige Politiker und Journalistinnen haben zum Beispiel kritisiert, dass bei der Übertragung in die Leichte Sprache Inhalte weggelassen oder zu stark vereinfacht erklärt werden. Oft kennen sich Kritikerinnen und Kritiker aber gar nicht richtig mit der Leichten Sprache aus: Sie wissen nicht, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten genau diese Vereinfachungen brauchen, um einen Text überhaupt zu verstehen.





Impfen, füttern, ausmisten: Wie ein 19-Jähriger seinen Traumjob fand

Tobias Koddebusch steht im Stallgang zwischen zwei großen Sauenboxen. Er greift einen großen Schwung Heu aus einer Schubkarre und stopft das Futter in die Raufe der rechten Box. Unter dem Behälter drängeln sich schon einige Sauen, die ungeduldig die ersten Halme herausrupfen. „Die Schweine müssen sich schon etwas anstrengen, um das Heu aus den kleinen Löchern der Raufe zu ziehen“, erklärt der 19-Jährige. „Das ist für sie wie ein Spiel und deshalb eine gute Beschäftigung.“ Er versorgt auch die Sauen in der anderen Box mit Heu, dann geht er weiter in den nächsten Stallbereich, schnappt sich die Mistschaufel und macht sich daran, die Boxen der Mutterschweine und Ferkel auszumisten.

Seit gut zwei Jahren kümmert sich Tobias Koddebusch zusammen mit zwei Kollegen um die rund 550 Tiere, die auf dem Hof der Bertelsbeck GbR im münsterländischen Coesfeld leben. Mit der Arbeitsstelle hat sich der größte Traum des jungen Mannes erfüllt, der das Down-Syndrom hat. Er wollte schon als kleiner Junge später einmal Landwirt werden, denn seine Eltern führen selbst einen landwirtschaftlichen Betrieb im 40 Kilometer entfernten Lüdinghausen. Dem 19-Jährigen sind die Arbeiten rund um Hof und Tiere also schon lange vertraut.

Wegen seiner Behinderung war es für Tobias Koddebusch aber trotzdem nicht selbstverständlich, dass er seinen Traumberuf auch tatsächlich ergreifen konnte. Nachdem er die Hauptschule abgeschlossen hatte, stand er vor der Frage, ob er in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung arbeiten sollte oder ob er eine Stelle in einem Inklusionsbetrieb finden würde. „Ich bin dann hier gelandet“, sagt er strahlend. „Und hier bin ich sehr glücklich.“

Tobias Koddebusch mistet gerade in seiner Arbeitskleidung den Schweine-Stall aus.
Der junge Mann macht alle Aufgaben gerne, auch das Ausmisten des Stalls. Foto: LWL/Busch

Inklusion aus Überzeugung

Den Weg in diesen Beruf ebnete ihm zu einem großen Teil die Betriebsleiterin Silke Witte. Gemeinsam mit ihren Arbeitgebern Alois Homann und Bernhard Langehaneberg machte sie aus der Bertelsbeck GbR das inklusive Unternehmen, das sie heute ist – aus Überzeugung und Leidenschaft für das Konzept. „Mein Vater leitet in Münster auch einen inklusiven landwirtschaftlichen Betrieb, in dem ich sehr viele Erfahrungen sammeln konnte“, erzählt die 33-Jährige. „Die tolle Stimmung dort hat mich total begeistert. Das wollte ich auch machen.“
Nach ihrer Landwirtschaftslehre absolvierte Silke Witte eine Fortbildung zur staatlich geprüften Agrarbetriebswirtin, seit 2015 leitet sie den Hof in Coesfeld im Auftrag der Bertelsbeck GbR. Als im Jahr 2016 ein Kollege in den Ruhestand ging, wurde eine Stelle frei. Die Betriebsleiterin nutzte die Gelegenheit und wandte sich an Mechthild Schickhoff, die Inklusionsberaterin der Landwirtschaftskammer NRW. Sie stellte den Kontakt zu Tobias Koddebusch her, der zunächst ein Jahrespraktikum im Betrieb machte. Heute ist er als landwirtschaftlicher Helfer fest bei der Bertelsbeck GbR angestellt.

Enge Zusammenarbeit und Unterstützung

An vier Tagen pro Woche hilft der junge Mann im Stall mit. Eine seiner Hauptaufgaben ist es, die Ferkel zu versorgen. Drei Tage nach der Geburt impft er die Tiere gegen verschiedene Krankheiten, setzt ihnen Ohrmarken und kupiert die Schwänze. All das hat er in Coesfeld gelernt, denn auf dem Hof seiner Eltern werden keine Ferkel, sondern nur etwas ältere Jungsauen aufgezogen. „Am Anfang war das merkwürdig für mich, ich musste so viel Neues lernen und behalten“, erinnert er sich. Silke Witte und ihr Kollege Markus Schwaag begleiteten ihn während dieser Phase eng und unterstützen ihn auch heute noch bei seinen Aufgaben.

Als die Mittagspause vorbei ist, steht für Tobias Koddebusch die Ferkelfütterung auf dem Plan. Silke Witte hilft dabei, die richtigen Futtermengen abzumessen. „Wie viel Trockenfutter die Tiere bekommen, hängt von ihrem Alter ab“, sagt die Betriebsleiterin. „Tobias hat manchmal Schwierigkeiten, das genau auszurechnen.“ Es stört sie aber nicht, dass ihr Helfer ab und zu mehr Unterstützung braucht als andere Mitarbeiter. „Ich muss damit umgehen können, dass manches einfach etwas länger dauert oder öfter wiederholt werden muss“, sagt Silke Witte. „Aber das geht gut. Für uns und unser Team ist die Zusammenarbeit eine Bereicherung und wir haben dabei immer viel Spaß miteinander.“

Silke Witte und Tobias Koddebusch auf dem Hof
Tobias Koddebuschs Chefin Silke Witte hat sich damals dafür eingesetzt, einen Mitarbeiter mit Behinderung einzustellen. Foto: LWL/Busch

Lieblingsaufgabe: Stall waschen

Das Trockenfutter für alle Schweine-Altersgruppen steht bereit, Silke Witte verlässt den Stall wieder: den Rest kann Tobias Koddebusch allein. Er teilt den Ferkeln ihre Portionen zu und schaut sich nebenbei jedes Tier ganz genau an. Die Schweine könnten trotz der Impfungen krank werden. „Wenn ich bemerke, dass ein Tier Durchfall oder Husten hat, sage ich sofort den Kollegen Bescheid“, erklärt der junge Mann. „Sie versorgen es dann, damit es ihm schnell besser geht.“ Nach dem Füttern fegt er die Gänge in den Ställen und mistet noch einmal aus. Dann tauscht er seine Arbeitskleidung gegen einen wasserfesten Overall und Ohrenschützer. Er grinst dabei die ganze Zeit, denn jetzt kommt seine Lieblingsaufgabe: den Stall waschen. Wie jeden Mittwoch säubert er mit dem Hochdruckreiniger die Boxen, die nach dem Verkauf einiger Jungschweine freigeworden sind.

Schnell ist alles blitzsauber und bereit für die neuen Ferkel, die in den nächsten Tagen geboren werden. Tobias Koddebusch hängt seinen Overall zum Trocknen auf, zieht Jeans und Pullover an und holt sein E-Bike aus dem Büro. Eine Stunde wird er für den Heimweg brauchen. Insgesamt ist er jeden Tag zwei Stunden unterwegs: Morgens fährt er mit dem Rad vom Hof seiner Eltern zum Bahnhof in Lüdinghausen, von dort mit der Bahn nach Coesfeld und dann wieder mit dem Fahrrad zu seinem Arbeitsplatz, abends denselben Weg zurück. „Die Strecke macht mir aber gar nichts aus“, sagt er. „Ich freu mich schon auf morgen!“





Die Inklusion auf dem Arbeitsmarkt ist im Aufschwung

Die Situation in der Arbeitswelt verbessert sich für Menschen mit Behinderung stetig – das bestätigt das Inklusionsbarometer Arbeit 2018 auch in diesem Jahr wieder. Für diese Studie untersucht die Aktion Mensch seit fünf Jahren mit wissenschaftlichen Methoden, wie sich die Inklusion auf dem deutschen Arbeitsmarkt entwickelt. Wie schon in den vergangenen Jahren befragte die Stiftung dafür sowohl Unternehmen als auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Behinderung. Und sie arbeitete eng mit dem Handelsblatt Research Institute zusammen.

Arbeitslosenquote sinkt

Die beste Nachricht aus der Studie ist: Die Quote von Menschen mit Behinderung, die keinen festen Arbeitsplatz haben, wird geringer.
Dazu passt auch der Zahlenwert, mit dem das Inklusionsbarometer die Entwicklung des Arbeitsmarktes im Bereich Inklusion insgesamt anzeigt. Dieser ist dieses Jahr so hoch wie noch nie seit Erscheinen des ersten Inklusionsbarometers vor fünf Jahren (2013): Er liegt bei 107,2 Punkten im Vergleich zu 105,1 Punkten im Jahr 2017. Die Zahl drückt aus, ob sich der Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung insgesamt eher positiv oder eher negativ entwickelt. Wenn der Wert unter Hundert sinkt, bedeutet das eine Verschlechterung; steigt er über Hundert, ist die Arbeitsmarkt-Inklusion auf einem guten Weg. Und diese erfreuliche Entwicklung konnten die Forscherinnen und Forscher auch dieses Jahr wieder beobachten.

Illustration der Aktion Mensch mit den Zahlen aus dem Inklusionsbarometer Arbeit 2018.
Die wichtigsten Ergebnisse des Inklusionsbarometers 2018 als Grafik. Illustration: Aktion Mensch

Ostdeutschland hat die Nase vorn

Für die Studie wurde Deutschland in sechs Regionen aufgeteilt: Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und in die Region Ostdeutschland (Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen).
Alle sechs verbesserten sich im Vergleich zum Vorjahr. An der Spitze steht erneut die Region Ostdeutschland mit einem Wert von 111,9 (Vorjahr: 109,9), das Schlusslicht ist weiterhin Niedersachsen mit einem Wert von 103,8 (Vorjahr: 102,0).

Noch viel zu tun

Es gibt aber auch schlechte Nachrichten, vor allem im Vergleich zur Situation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ohne Behinderung. Die Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderung ist nach wie vor doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Behinderung (11,7 Prozent im Vergleich zu 5,7 Prozent). Auch der Anteil der Langzeitarbeitslosen unter arbeitslosen Menschen mit Schwerbehinderung (44,4 Prozent) ist deutlich höher als bei den allgemeinen Arbeitslosen (35,6 Prozent). Und Menschen mit Behinderung brauchen im Schnitt auch länger als Menschen ohne Handicap, um eine neue Stelle zu finden: Sie suchen rund 366 Tage nach einem neuen Job. Das sind 104 Tage mehr als bei allen anderen.




Was genau ist das „Budget für Arbeit“?

Herr Wedershoven, wie würden Sie einem Außenstehenden in wenigen Sätzen das Budget für Arbeit erklären, das Anfang 2018 im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes in ganz Deutschland eingeführt wurde?

Das Budget für Arbeit ist kein „Budget“ im eigentlichen Sinne, sondern eine Sammlung verschiedener Geldleistungen und Förderangebote. Diese sind dazu da, Menschen mit (schweren) Behinderungen dabei zu unterstützen, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, die aktuell noch in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) arbeiten oder kurz davor sind, zum Beispiel aus der Förderschule dorthin zu wechseln. Darüber hinaus können sich Menschen mit Behinderung und deren Arbeitgeber von Fachleuten der örtlichen Inklusionsfachdienste (IFD) begleiten lassen, damit die Zusammenarbeit für beide Seiten von Anfang an optimal gestaltet werden kann. Die Förderangebote richten sich aber nicht nur an Arbeitssuchende mit Behinderung selbst, sondern auch an Betriebe, die gern Menschen mit Behinderung einstellen möchten.

Was haben die Arbeitgeber davon?

Wenn sie neue Arbeitsplätze für Menschen mit Handicap schaffen, haben sie meist einen höheren Betreuungsaufwand und mehr Kosten, weil die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderung oft etwas langsamer arbeiten oder mehr Pausen einlegen müssen. Dafür bekommen die Unternehmen aber dann einen finanziellen Ausgleich über das Budget für Arbeit, den so genannten Nachteilsausgleich.

Wie ist dieses Programm entstanden – und wie verändert es das (Arbeits-)Leben von Menschen mit Behinderung?

In Nordrhein-Westfalen gibt es das Budget für Arbeit schon seit fast zehn Jahren – es hieß nur lange Zeit anders beziehungsweise war etwas anders aufgestellt. In Westfalen wird es vom LWL organisiert und finanziert, im Rheinland ist der Landschaftsverband Rheinland (LVR) zuständig. Angefangen hat in Westfalen alles mit den Programmen „aktion5“ und „Übergang plus“. Damit wurden zum Beispiel Schülerinnen und Schüler schon vor dem Schulabschluss mit einem so genannten „Vorbereitungsbudget“ für den späteren Berufsalltag in einem regulären Betrieb unterstützt. Auch Menschen, die schon einen solchen Job oder eine Ausbildung angefangen hatten, konnten mit „aktion5“ bestimmte Leistungen nutzen, die sie im Arbeitsalltag unterstützt haben – zum Beispiel Computerkurse. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) wurden zusätzlich mit dem Programm „Übergang plus“ dabei unterstützt, auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu wechseln.

Bekamen auch die Arbeitgeber in diesen beiden Modellen Unterstützung?

Ja, für sie gab es in beiden Programmen unter anderem Prämien, wenn sie einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz für einen Menschen mit schwerer Behinderung in ihrem Betrieb geschaffen hatten, und natürlich auch Lohnkostenzuschüsse. Mit „aktion5“ wurden so zwischen 2008 und 2017 insgesamt rund 8.500 Menschen oder Betriebe gefördert, mit „Übergang plus“ schafften rund 850 Menschen den Sprung aus der Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt.

Hat sich seit Anfang 2018 etwas verändert, als dieses Konzept unter dem Namen „Budget für Arbeit“ in ganz Deutschland eingeführt wurde?

Die Struktur wurde etwas verändert, ja. Aus zwei Programmen mit mehreren Modulen wurde ein Programm mit vier Modulen. Insgesamt ist der Ansatz aber gleich geblieben. Wir gehen fest davon aus, dass mit dieser Ausweitung des Programms auf ganz Deutschland noch viel mehr Menschen die Chance bekommen werden, aus der Schule oder aus Werkstätten in ein reguläres Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnis zu wechseln – also einen tariflich bezahlten, unbefristeten Arbeitsplatz zu finden, mit dem sie ihren Lebensunterhalt eigenständig finanzieren können.

Für wen ist dieses neue „Budget für Arbeit“ gedacht und wer kann es beantragen?

Das Programm richtet sich an Schülerinnen und Schüler aus Förderschulen, die kurz vor dem Abschluss stehen, aber auch an Menschen, die sich aktuell noch in psychiatrischen Einrichtungen befinden und wieder in den Arbeitsmarkt einsteigen möchten. Eine wichtige Zielgruppe sind auch Personen, die in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) arbeiten und wechseln wollen. Wir wollen also vor allem Arbeitsuchende erreichen, die vor der Entscheidung stehen, ob sie in einer Werkstatt anfangen beziehungsweise weiterarbeiten möchten oder ihren Weg auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt machen wollen. Wir begleiten auf diese Weise viele Menschen mit Behinderung sehr frühzeitig auf ihrer beruflichen Laufbahn, zeigen Chancen auf und helfen, die Weichen zu stellen. Das Ziel ist immer, sie auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln – das ist unsere wichtigste Botschaft und auch der Kern des Programms.

Wo sehen Sie Schwierigkeiten? Hören Sie auch kritische Stimmen von Menschen mit Behinderung, die das Budget für Arbeit nutzen?

Insgesamt kommen die Förderangebote sehr gut an, weil sie einfach viele tolle Chancen eröffnen und wir schon sehr viel damit erreicht haben. Aber sie greifen stellenweise leider immer noch zu kurz. Viele Menschen, die Leistungen aus dem Budget für Arbeit beantragt haben, finden sie zu gering. Manche Angebote wiederum können nur Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung nutzen, obwohl sie vielleicht auch für Menschen mit geringeren Behinderungen sinnvoll wären. Über das Budget für Arbeit werden leider auch keine schulischen Ausbildungen gefördert, was ebenfalls ein Manko ist. Und bei Werkstattwechslerinnen und -wechslern kann es vereinzelt vorkommen, dass ihre Rente geringer ausfällt, wenn sie auf einem regulären Arbeitsplatz ihr Geld verdienen, als wenn sie in der Werkstatt bleiben würden.

Können Sie als großer Träger von Sozialhilfeleistungen diese Probleme selbst angehen?

Nur zum Teil, weil die Zusammenhänge komplex sind: Oft sind uns durch die aktuelle Gesetzgebung die Hände gebunden, manchmal dürfen wir nur aus bestimmten Töpfen Geld schöpfen und kommen damit einfach nicht hin. Aber wie gesagt: Insgesamt ist das Budget für Arbeit ein sehr gutes Konzept, weil es das erreicht, was es soll: Möglichst viele Menschen mit Behinderung auf unbefristete Arbeitsplätze vermitteln und sie dauerhaft dort halten.

Nun gibt es seit 2008 auch noch das so genannte „Persönliche Budget“, das wieder häufiger Thema in den Medien war, seit das Bundesteilhabegesetz in Kraft getreten ist. Wo liegt der Unterschied zum Budget für Arbeit?

Grob erklärt ist das Persönliche Budget ein monatlicher Geldbetrag, der vom Staat allen Menschen mit einer anerkannten Behinderung zur Verfügung gestellt wird, wenn diese einen Anspruch auf eine Leistung der Eingliederungshilfe haben. Sie können damit dann bestimmte Leistungen bezahlen, zum Beispiel eine Einkaufshilfe oder einen Sprachcomputer – je nachdem, was gebraucht und gewünscht ist. Das Budget für Arbeit dagegen ist ein gezieltes Förderprogramm, mit dem Menschen mit schweren Behinderungen durch verschiedene Leistungen Chancen eröffnet werden sollen, aus einer Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu wechseln. Beide Budgets haben aber im Grunde das gleiche Ziel: Menschen mit Behinderung sollen selbst bestimmen können, wie sie ihr Leben gestalten möchten, und sie sollen sich dieses Leben auch selbst finanzieren können. Das geht aus unserer Sicht nur mit einem richtigen Job und einem vernünftigen Einkommen.





Lehren und Lernen auf Augenhöhe

Frau Groß, „Institut für Inklusive Bildung“ klingt für Laien etwas trocken. Wie würden Sie einem Außenstehenden Ihre Arbeit erklären?

Wir setzen uns dafür ein, dass Inklusion in der Bildung, im Arbeitsleben und auch in anderen Lebensbereichen in der Praxis besser funktioniert. Ein Beispiel aus dem Schulkontext: Kinder mit einer Behinderung sollen im inklusiven Unterricht genauso gut lernen wie alle anderen Schülerinnen und Schüler in der Klasse. Das wird zwar heute schon umgesetzt, die Lehrkräfte sind aber fast immer Menschen, die selbst keine Behinderung haben und sich zugleich mit dem Thema in der Ausbildung kaum auseinandersetzen mussten. Das finden wir schwierig, denn gerade die Lehrkräfte spielen ja bei der Inklusion eine wichtige Rolle. Sie müssen also eine bessere Idee davon bekommen, was in Menschen mit Behinderung vorgeht, wie sie die Welt sehen, welche Bedürfnisse sie im Unterricht haben. Und genau hier kommt das Institut für Inklusive Bildung ins Spiel.

Wie erreichen Sie die künftigen Lehrerinnen, Lehrer und anderen Bildungsfachkräfte?

Wir entwickeln Seminare für Hochschulen, Fachschulen und andere Bildungseinrichtungen, in denen wir angehende Lehrerinnen und Lehrer, Bildungsfachkräfte sowie Fachschülerinnen und -schüler in der Ausbildung genau dafür sensibel machen.
Wir sprechen aber zum Beispiel auch Führungskräfte und Personalverantwortliche in Betrieben an. Das Besondere an unserem Konzept ist, dass wir uns zwar gezielt an Menschen ohne Behinderung richten, unsere Lehrkräfte aber immer Menschen sind, die selbst eine Behinderung haben. Sie wissen nämlich am besten, wie ihre Lebenswelt aussieht und was sie brauchen, sind also „Experten in eigener Sache“. Sie müssen aus unserer Sicht deshalb gerade in der Bildung unbedingt mitreden.
Um sie für diese Tätigkeit fit zu machen, bilden wir sie wie gesagt speziell für die inklusive Bildungsarbeit mit Menschen „aus, die ohne leben. Das Ziel ist, die Barrieren in den Köpfen abzubauen. Wir wollen erreichen, dass sich eines Tages alle Menschen auf Augenhöhe begegnen und mehr miteinander anstatt übereinander sprechen. Genau so lautet auch unser Motto: „Nicht über uns ohne uns!“

Wie sind diese Idee und das Institut entstanden?

Das Ganze hat mit einem Innovations-Workshop angefangen, der im Jahr 2008 von der Stiftung Drachensee durchgeführt wurde. Daraus entstand die gute Idee, Menschen aus Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) in die Ausbildung angehender Lehr- und Fachkräfte einzubinden. Im Studiengang „Soziale Arbeit“ an der Fachhochschule Kiel gab es kurz danach ein erstes Seminar namens „Meine Welt“, das von 13 Menschen mit Behinderung und drei Sozialpädagoginnen ins Leben gerufen wurde.

Haben die Studierenden das Angebot gut angenommen?

Ja, sehr gut sogar! Das Seminar lief drei Jahre lang, bis 2012. Leider konnte es dann so nicht mehr weitergehen. Der Aufwand und die Barrieren für diejenigen, die das Seminar veranstalteten, waren hoch. Alle Beteiligten machten das ja neben dem normalen Arbeitsalltag. Dazu kam, dass die Menschen mit Behinderungen, die am Seminar beteiligt waren, eigentlich gar nicht an der Hochschule sein durften – schon gar nicht als Lehrende. Außerdem merkten viele, wie anspruchsvoll und anstrengend Bildungsarbeit sein kann. Das schöne Konzept drohte zu scheitern.

Blick in einen vollen Hörsaal
Ein Team vom Institut für Inklusive Bildung erklärt Studierenden im Audimax-Hörsaal der Europa-Universität in Flensburg, was diese später zum Thema Inklusion in ihren Berufen wissen müssen. Foto: Institut für Inklusive Bildung

Wie ging es weiter?

Die Stiftung Drachensee entschied kurzerhand, das Angebot professioneller aufzustellen. Sie begann, Menschen mit geistigen Behinderungen zu Bildungsfachkräften auszubilden – und das wurde mit dem Institut für Inklusive Bildung dann nochmal auf ganz neue Beine gestellt.

Und wie genau bilden Sie Menschen mit Behinderung zu Bildungsfachkräften aus?

Wir arbeiten immer mit Menschen, die aktuell noch in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) tätig sind. Die Qualifizierung bei uns dauert drei Jahre und findet in Vollzeit statt, das Konzept ähnelt also einer klassischen Ausbildung etwa an einem Berufskolleg. Wer die Ausbildung erfolgreich absolviert, hat nach der Prüfung eine gute Chance auf einen festen Arbeitsplatz in der Bildungsarbeit bei uns. Das war uns von Anfang an sehr wichtig. Damit die Qualifizierung nach festen Standards verläuft, haben wir ein eigenes Modulhandbuch entwickelt, das bestimmte Ziele, Inhalte und Prüfungsanforderungen festlegt.

Wie organisieren Sie die Sensibilisierungs-Seminare?

Meistens führen zwei Bildungsfachkräfte gemeinsam ein Seminar durch und werden dabei von einer pädagogischen Assistenz unterstützt. Manchmal arbeitet aber auch nur eine einzelne Bildungsfachkraft mit einer hauptamtlichen Lehrkraft zusammen, also zum Beispiel mit einer Professorin an der Uni oder einem Lehrer an der Schule. Das nennen wir Co-Teaching. So können wir ganz gewöhnliche Seminare über ein komplettes Semester hinweg anbieten.
Wir bieten ansonsten aber auch einzelne Vorlesungen oder Workshops an, sind als Gastdozentinnen oder -dozenten bei Konferenzen dabei oder machen Bildungsarbeit bei anderen großen Veranstaltungen. Unser Bildungs-Teams kommen also immer dann ins Spiel, wenn über kurz oder lang neue Strukturen, Abläufe und Denkweisen geschaffen werden sollen, die gut zu den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung passen, damit sie gleichberechtigt an verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft teilhaben können.

Wenn es nicht nur in Schulen, sondern auch auf dem Arbeitsmarkt inklusiv zugehen würde, könnten Menschen mit Behinderung eigenständig und selbstbestimmt ihren Lebensunterhalt verdienen anstatt in einer Werkstatt nur ein „Taschengeld“ zu bekommen. Wie trägt Ihre Arbeit dazu bei, diese Entwicklung voranzutreiben?

Genau das ist der Kern unseres Angebots. Auf der einen Seite schaffen wir ein breites Bewusstsein bei unseren Zielgruppen, auf der anderen Seite bieten wir mit unserem Qualifizierungsangebot Menschen in Werkstätten eine echte Perspektive auf einen unbefristeten, dauerhaften und nach Tarif bezahlten Job bei uns im Institut. Im November 2016 fingen bei uns die ersten fünf Bildungsfachkräfte auf festen Stellen zu arbeiten an, heute gestalten sie aktiv die Bildungslandschaft von Schleswig-Holstein im Sinne der Inklusion mit.
Unser Institut hat außerdem Kontakt zu über 60 Hochschulen aus dem In- und Ausland aufgebaut, die entweder gern Erfahrungen mit uns austauschen wollen oder die Leistungen unserer Bildungsfachkräfte in Anspruch nehmen möchten. Wir streuen also unser Wissen. Im Wintersemester 2017/2018 starteten zum Beispiel sieben neue Menschen mit Behinderung in Baden-Württemberg an der Uni Heidelberg ihre Ausbildung zur Bildungsfachkraft – und es sind noch mehr an anderen Orten geplant.

Welche Projekte planen Sie sonst noch?

In den nächsten fünf Jahren wollen wir 60 neue Qualifizierungsplätze für Menschen mit Behinderungen an zehn deutschen Hochschulstandorten schaffen. So wollen wir mit unserer inklusiven Bildungsarbeit jedes Jahr 20.000 angehende Lehrkräfte und andere Zielgruppen direkt erreichen. Bei diesem Vorhaben werden wir von der Aktion Mensch Stiftung und der Software AG Stiftung mit Fördergeldern unterstützt.
Darüber hinaus haben wir in Nordrhein-Westfalen kürzlich eine gemeinnützige GmbH gegründet („Institut für Inklusive Bildung NRW gGmbH“). Über diese „Zweigstelle“ starten wir ab April 2019 eine Kooperation mit der Technischen Hochschule Köln, an der wir zunächst sechs weitere Menschen mit Behinderungen zu Bildungsfachkräften ausbilden wollen – vorausgesetzt, die Mittel dafür werden bewilligt.

Wenn Sie noch weiter in die Zukunft schauen könnten: Wo würden Sie gern in zehn Jahren stehen?

Ich wünsche mir, dass das Konzept des Instituts in zehn Jahren weltweit (Hoch-)Schule gemacht hat!






Das Inklusionsklima wird besser – aber es bleibt viel zu tun

Am 3.12. ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung. Pünktlich zu diesem Anlass meldet die Aktion Mensch einen positiven Trend beim Thema Inklusion in der Arbeitswelt: In ihrem „Inklusionsbarometer Arbeit 2017“ hat sie schon zum fünften Mal die Entwicklung des deutschen Arbeitsmarkts für Menschen mit Behinderung wissenschaftlich erhoben und vor einigen Tagen die Ergebnisse veröffentlicht. Für die Studie befragte die Aktion Mensch wieder gemeinsam mit dem Handelsblatt Research Institute Unternehmen und Arbeitnehmer mit Behinderung. Das Fazit: Die Lage verbessert sich weiter, aber es bleibt auch noch viel zu tun.

Positiv ist zum Beispiel, dass der Gesamtwert des Barometers (der ausdrückt, welche Tendenz die Entwicklung des Arbeitsmarktes im Bereich Inklusion hat) erneut einen deutlichen Sprung von im Vorjahr 106,7 auf 114,2 Punkte gemacht hat. Einer der Gründe dafür ist, dass Unternehmen die Inklusion erneut positiver einschätzen als noch im Vorjahr (von 35,5 auf 37,0). Aber auch Arbeitnehmer mit Behinderung selbst werden immer optimistischer: In diesem Bereich erreichte das Barometer dieses Jahr einen Rekordwert von 45,7 (Vorjahr: 38,7). Ab einem Schwellenwert von 50 spricht die Aktion Mensch hier von einem insgesamt positiven Trend beim Arbeitsklima – diese Marke ist dieses Jahr erstmals fast geknackt.

Neben diesen erfreulichen Entwicklungen gibt aber auch weiterhin viele Aufgaben zu lösen. Zu wenige Unternehmen sind barrierefrei gestaltet und ausgebaut, längst nicht alle haben schriftliche Grundsätze dazu ausgearbeitet. Sehr viele kennen und nutzen aber auch die staatlichen Förderungsmöglichkeiten nicht, die ihnen zustehen, wenn sie Menschen mit Behinderung beschäftigen: 39 Prozent der kleinen Unternehmen, die bereits Menschen mit Handicap beschäftigen, sind diese Zuschüsse gänzlich unbekannt und 23 Prozent der Personalverantwortlichen, denen die staatliche Förderung bekannt ist, nehmen diese Möglichkeiten nicht in Anspruch.




Ein neuer Blickwinkel

Anna Spindelndreier will mit ihren Bildern Menschen erreichen, aufklären und sie zugleich berühren und glücklich machen. Mit uns hat sie über ihren Beruf, den Einstieg in die Selbstständigkeit, ihre Wünsche für die Zukunft, aber auch über die Vorurteile gesprochen, die ihr im Laufe ihrer Karriere immer wieder begegnet sind.


Frau Spindelndreier, seit wann fasziniert Sie die Fotografie?

Ich habe als Kind meinem Vater viel über die Schulter geguckt, der als Verleger arbeitet und viel fotografiert hat. Er hat früher viele Bildbände und Postkartenbücher gestaltet. Bei ihm im Büro lagen immer tausende Dias und Fotos herum. Das hat mich schon früh fasziniert. Mit neun Jahren bekam ich dann von meinem Patenonkel zur Kommunion meine erste eigene Kamera geschenkt. In dieser Zeit fing ich damit an, meine ganze Umwelt auf Zelluloid zu bannen und alles zu fotografieren, was mir vor die Linse kam.

Wie sind Sie Fotografin geworden?

Das war anfangs sehr schwierig. Nach dem Abitur wollte ich eigentlich gern eine Ausbildung zur Mediengestalterin machen, war mit meinen Bewerbungen aber nicht erfolgreich. Gleichzeitig hatte ich mich als Auszubildende für Fotografie beworben, bekam bei den Vorstellungsgesprächen aber leider zu hören, dass man mich nicht anstellen könne, weil man nicht wisse, wie Kunden auf mich als kleinwüchsige Fotografin reagieren würden. Schließlich klappte es nach über 80 Bewerbungen dann doch noch. Nach dem Abschluss der Ausbildung konnte ich leider keine Festanstellung finden – ich bin nicht sicher, ob es vor allem an der schwierigen Arbeitsmarktsituation in dieser Branche lag oder doch an meinem Kleinwuchs. Eingeredet habe ich mir immer das erstere. Ich habe dann erst einmal als Assistentin in einem Fotostudio angefangen zu arbeiten. Mit der Erfahrung und den Fähigkeiten, die ich dort sammeln konnte, habe ich mich schließlich selbstständig gemacht und parallel ein Studium begonnen.

Wie war der Einstieg in die Selbstständigkeit für Sie?

Zu Beginn meiner Selbstständigkeit lag mein Fokus noch sehr auf dem Studium. Ich habe in dieser Zeit vor allem freie Fotoprojekte für die Uni gemacht und mich daneben mit studentischen Hilfsjobs über Wasser gehalten. Viel Akquise habe ich damals aber nicht betrieben. Die ersten Aufträge bekam ich dadurch, dass ich weiterempfohlen wurde, weil ich vorher schon mal anderswo gute Arbeit geleistet hatte. Was das betrifft, ist mein Einstieg in die Freiberuflichkeit also weitestgehend positiv verlaufen, sie trug sich nach und nach und ich wurde unabhängiger. Trotzdem war das rückblickend betrachtet keine einfache Phase. In der Selbstständigkeit erlebt man gerade in kreativen Branchen viele Höhen und Tiefen, erst recht am Anfang. Es braucht immer viel Disziplin. Man muss lernen, sich seine Zeit vernünftig einzuteilen, zugleich muss man mit abstrakten Arbeitsstrukturen gut umgehen können oder sich darin am besten sogar sehr wohl fühlen.

Was für Aufträge hatten Sie am Anfang und wie kamen sie zustande?

Wie gesagt waren meine ersten freien Projekte die an der Uni, zugleich bin ich, wie viele andere Fotografen auch, über die Hochzeitsfotografie an Aufträge gekommen. Das erste Vertrauen von anderen, dass ich gut in meinem Beruf bin, bekam ich also vor allem von Freunden und Freunden von Freunden.

Welchen Schwerpunkt setzen Sie in Ihrer Arbeit?

Für mich war in der Ausbildung eigentlich klar, dass ich später mal in der Still-Life-Photography Fuß würde fassen wollen, mich also auf Produktfotos spezialisieren wollte. Bei dieser Art der Fotografie fehlte mir aber schon bald die menschliche Komponente. Deshalb verlagerte ich meinen Schwerpunkt nach und nach auf die Porträtfotografie, die heute ganz klar mein Hauptbereich ist.

Sie sind als selbstständige Fotografin ja in einem Berufsfeld unterwegs, in dem die Konkurrenz groß ist. Wie heben Sie sich von den Kolleginnen und Kollegen ab?

Das ist in meinem Beruf tatsächlich gar nicht so einfach. Eine Art Markenzeichen meiner Fotografie ist wohl, dass ich Stereotypen zu durchbrechen und neue Blickwinkel zu eröffnen versuche. Bei den Motiven ziehen sich vor allem Menschen mit Behinderung wie ein roter Faden durch meine Arbeit. Am wichtigsten ist mir hierbei, dass ich mit meinem ganz persönlichen, subjektiven Blick durch die Linse schaue. Ich beschönige nichts, meine Fotos sprechen klar alles so aus, wie es ist. Ich weiß auch, dass ich das sehr gut mache und vor allem deshalb gebucht werde. Abseits davon ist aber natürlich auch meine für viele Menschen ungewöhnliche Körpergröße ein bedeutendes Merkmal – auch wenn ich immer wieder gerne betone, dass ich in erster Linie Fotografin bin und erst in zweiter Linie kleinwüchsig. Aber diese körperliche Eigenschaft spiegelt sich indirekt eben auch öfter in der Perspektive meiner Fotos wider. Man kann dabei vielleicht ein bisschen von einer „Heldenperspektive“ sprechen, also einer Sicht von unten, die ich durch meine Größe ganz automatisch einnehme. Das ist ein Blickwinkel, der besonders gerne bei Models und Politikern verwendet wird. Mit Hilfe meiner Trittleiter kann ich natürlich trotzdem auch die „normale“ Perspektive anbieten.

Wer engagiert Sie – und mit welchen Kunden arbeiten Sie am liebsten zusammen?

Aktuell arbeite ich vor allem mit vielen Selbsthilfevereinen zusammen, unter meinen Kunden sind aber auch soziale Organisationen wie Special Olympics NRW, Change.org, Aktion Mensch, die AWO oder auch mal Privatleute wie der TV-Koch Volker Westermann, der selbst kleinwüchsig ist. Lieblingskunden gibt es dabei nicht, das ist immer von den Projekten selbst abhängig, die ich machen darf. Hier begeistern mich vor allem die Aufträge, bei denen mit besonders viel Herzblut gearbeitet wird. Wenn ich abends auf meinem Rechner die Bilder sortiere und dabei in freudestrahlende Gesichter schaue, dann weiß ich genau, warum ich diesen Job mache und liebe.

Wenn Sie an Aufträge der jüngeren Vergangenheit zurückdenken: Welcher hat Ihnen besonders viel Spaß gemacht und warum?

Vor einigen Wochen habe ich zusammen mit meiner sehr geschätzten Kollegin die Landesspiele der Special Olympics NRW in Neuss fotografiert. Dort haben über 1000 Athleten und Athletinnen mit Lernschwierigkeiten in unterschiedlichsten Leichtathletik-Disziplinen ihr Können gezeigt – das waren drei Tage voller Adrenalin, Action, Emotionen und Herzlichkeit, die ich so schnell nicht vergessen werde.

Wie sah bei diesem Auftrag Ihr Alltag aus?

Wir standen um 8 Uhr morgens auf dem Sportplatz, um den Startschuss der Wettkämpfe mitzubekommen. Danach und für den Rest des Tages sind wir von Sportstätte zu Sportstätte gezogen und haben dabei möglichst jede Sportart festgehalten und sehr viele Sportler porträtiert. Abends gegen sieben waren wir wieder zurück im Hotel, haben die Daten gesichert, eine kleine Bildauswahl gemacht für die sozialen Medien – Marketing gehört zwischendurch auch immer mit dazu –, und die Kamera-Akkus geladen. Anschließend sind wir ziemlich erschöpft ins Bett gefallen, und am nächsten Tag ging es fit und frisch in die zweite Runde.

Sehen Sie sich privat oder beruflich manchmal mit Vorurteilen oder anderen Barrieren konfrontiert – und falls ja, wie gehen Sie damit um?

Mal abgesehen von den baulichen Barrieren, die einem im Alltag ständig begegnen – zu hohe Ladentheken, Geldscheinautomaten, Lichtschalter und so weiter – werde ich hin und wieder leider auch mit Vorurteilen konfrontiert. Am häufigsten habe ich das Gefühl, dass andere Menschen meinen, sie könnten von meiner körperlichen auf meine intellektuelle Größe schließen.

Gibt es etwas, das Sie sich in Ihrem Beruf für die Zukunft wünschen würden?

Die Fotografie ist, wie viele andere Branchen auch, ein immer noch stark von Männern dominiertes Berufsfeld. Ich würde mir sehr wünschen, dass sich das in den nächsten Jahren ändert und mehr Frauen sich trauen, in diesem Beruf selbstständig zu arbeiten. Darüber hinaus könnte die ganze Medienbranche gerne etwas lockerer und offener werden. Ich möchte nie wieder hören müssen, dass ich einen Auftrag nicht bekomme, weil man nicht weiß, wie die Kunden auf mich – also auf meinen Kleinwuchs – reagieren könnten. Der größte Erfolg wäre es aber für mich, wenn ich es so lange wie möglich schaffen könnte, mit meiner Fotografie möglichst viele unterschiedliche Leute zu erreichen, aufzuklären und glücklich zu machen. –