Ein alter Beruf und ein modernes Hilfsmittel: Wie ein Scherenmonteur mit bionischer Unterstützung arbeitet

Herr Schrage, in welchem Beruf arbeiten Sie und wann haben Sie damit begonnen?

Ich habe 1978 mit meiner Ausbildung zum Scherenmonteur angefangen. In diesem Beruf habe ich 21 Jahre lang gearbeitet. Im Jahr 1999 habe ich ins LVR-Industriemuseum Gesenkschmiede Hendrichs gewechselt. Dort habe ich von Solinger Handwerksmeistern auch noch das Schleifen von Messern gelernt.

Bei so viel Erfahrung passt es sehr gut, dass Sie im LVR-Industriemuseum Gesenkschmiede Hendrichs heute den Schleif- und Reparaturservice betreuen. Warum hat das Museum so einen Service und was ist Ihr Job dort?

Der damalige Museumsleiter wusste um meine langjährige Berufserfahrung und hatte deshalb die Idee, in der Gesenkschmiede nicht nur Führungen anzubieten, sondern zusätzlich auch noch einen Besucherservice, zu dem die Leute ihre Scheren und Messer mitbringen und bei uns schärfen lassen können. Wir haben seinerzeit sogar eine eigene Schere für das Museum entwickelt. Meine Hauptaufgabe ist aber eigentlich nicht das Schleifen, vor allem betreue, begleite und führe ich die Besucherinnen und Besucher der Gesenkschmiede.  

Sie arbeiten also nicht nur handwerklich, sondern vermitteln auch Wissen?

Genau, ich arbeite sehr viel museumspädagogisch. Zum Beispiel, wenn Kindergärten, Schulklassen und Erwachsenengruppen zu Besuch kommen, oder an Aktionstagen wie dem „Girlsday“ oder dem „Boysday“. Dann zeige ich jungen Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen die Ausstellung, damit sie einen Eindruck der jeweils vielleicht eher geschlechteruntypischen Berufe in der Schmiede bekommen können. Ich führe auch Jugendliche im Rahmen des „MINT-Mädchen“-Projekts des Bundesministeriums für Bildung und Forschung durch die Gesenkschmiede, also junge Frauen, die sich für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften oder Technik interessieren. Und ich gebe Workshops zu verschiedenen Themen, beispielsweise zum Bau von Taschenmessern.

Wenn Sie wieder am Schleifstein sitzen, benutzen Sie ein Hilfsmittel, einen bionischen Handschuh. Wie funktioniert diese Technik und wofür nutzen Sie sie?

Ich kann meine rechte Schulter und den Daumen der rechten Hand nur sehr eingeschränkt benutzen. Der Handschuh unterstützt mich und gleicht die fehlende Kraft aus. Er hat Sensoren, die die Bewegung meiner Finger erkennen. Und die Elektronik im dazugehörigen Rucksack verstärkt mit einem Motor die Kraft der Finger. Dadurch kann ich Messergriffe und die Scheren beim Schleifen sicher halten, Scherenklingen mit einem Hammer abrichten und Scheren montieren. Ohne den Handschuh könnte ich diese Arbeiten nicht präzise ausführen.

Wie sind Sie auf diesen Handschuh gekommen?

Das war nicht ich, sondern Norbert Poqué vom technischen Beratungsdienst des LVR-Inklusionsamtes. Er kannte meinen Fall und hat mir den Handschuh empfohlen. Finanziert wurde das Hilfsmittel dann über die Fachstelle für Menschen mit Behinderung im Arbeitsleben in Solingen.

Kommen Sie gut damit klar oder würden Sie gern etwas daran verbessern?

Der Handschuh unterstützt mich sehr gut in der täglichen Arbeit. Die Sensorik reagiert aber natürlich schon ein wenig träger als der Körper selbst. Ich spüre durchaus einen Unterschied zwischen der linken und der rechten Hand. Wenn es künftig möglich wäre, das zu verfeinern, fände ich das toll. Aber der Handschuh ist wie gesagt auch so ein tolles Hilfsmittel. Ich benutze ihn auch zu Hause bei vielen alltäglichen Arbeiten, bei denen ich Kraft zum Greifen brauche. Zum Beispiel im Garten, wenn ich Pflanzen ins Beet setzen will.

Bei der A+A-Messe führen Sie am gemeinsamen Infostand des LVR und LWL Ihre Fähigkeiten an einem alten Schleifstein vor. Unterscheidet sich diese alte Schleiftechnik von der heutigen Art, Messer und Scheren zu schärfen?

Ein Reparaturservice funktioniert sowieso nur von Hand, daher gibt es hier kein Alt und Neu. Das LVR-Industriemuseum will ja außerdem die Arbeitsbedingungen in der Solinger Schneidwarenindustrie aus dem vergangenen Jahrhundert zeigen. Ich arbeite also auch noch mit der Technik von früher, die heutige Art des Schärfens kann ich daher nicht direkt beurteilen. Ich weiß, dass die Solinger Schneidwarenindustrie inzwischen oft mit computergesteuerten Schleifmaschinen arbeitet. Es gibt aber auch weiterhin einige Betriebe, die besonders hochwertige Schneidwaren herstellen und auch heute noch von Hand schleifen – genauso wie vor 100 Jahren.






Computerschrift zeigt Gefühle

Herr Schlippe, Sie haben 2015 Ihr Startup Silicon Surfer gegründet und es zuerst in Teilzeit betrieben, ab Anfang 2018 dann in Vollzeit. Kurz danach haben Sie „WaveFont“ entwickelt. Was ist das für eine Software und was hat sie mit Inklusion zu tun?

WaveFont ist eine Technologie, mit der es zum ersten Mal möglich ist, Informationen in Filmen einzubinden, von denen Menschen mit einer Hörbehinderung bisher oft ausgeschlossen waren. Diese Infos können nämlich nur hörende Menschen entschlüsseln – zum Beispiel die Betonung und die Geschwindigkeit, mit der Menschen in einem Film sprechen oder die Pausen, die sie einlegen. Mit meiner Software werden solche Emotionen in der Sprecherstimme automatisch analysiert und können dann in den Untertiteln eines Videos dargestellt werden.

Wie genau funktioniert die Software?

Der Ausgangspunkt ist die gesprochene Sprache. Sie ist entweder in der Audiospur eines Videos vorhanden oder sie wird über ein Mikrofon aufgenommen. WaveFont analysiert die Aussprache der Sätze, Wörter und einzelnen Buchstaben. Aktuell werden die Geschwindigkeit und Lautstärke des Gesprochenen ausgewertet und anschließend in Zahlen umgewandelt. Dafür setzen wir Künstliche Intelligenz und Machine-Learning-Technologien ein.
Im nächsten Schritt werden diese Zahlenwerte in Schrift umgewandelt. Ein laut gesprochenes Wort wird zum Beispiel in fetter Schrift dargestellt, die beim Lesen automatisch mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ein sehr langsam gesprochenes Wort erzeugt dagegen breite Buchstaben. Daraus entstehen breitere Wörter, für die man automatisch mehr Zeit zum Lesen braucht – und damit verlangsamt sich der Lesefluss. Das sind nur zwei Beispiele. WaveFont kann auch noch weitere, individuelle Merkmale in Untertiteln umsetzen, die ganz auf die Bedürfnisse der jeweiligen Zielgruppe zugeschnitten werden können.

Das sind ja vor allem gehörlose Menschen. Woher wussten Sie, dass eine solche Technologie gebraucht wird?

Weil ich bei deutschen Gehörlosenvereinen und -verbänden genau dazu Umfragen durchgeführt habe. Die Antworten zeigten, dass es einen deutlichen Bedarf für emotionalere Untertitel gibt. 98% der Befragten finden, dass so eine Technologie einen Mehrwert für sie hätte und würden WaveFont-Untertitel auch gern nutzen. Übrigens profitieren auch hörende Menschen von dieser emotionalen Darstellung von Schrift, zum Beispiel, wenn sie auf ihren Smartphones Videos ohne Ton schauen möchten. Oder Menschen, die gerade eine fremde Sprache lernen: Sie werden durch die visuellen Informationen in den Untertiteln zusätzlich beim Lernen unterstützt.


WaveFont in Aktion

Fußball ist ein sehr emotionaler Sport – für die Spieler auf dem Platz, für die Zuschauer, aber auch für die Sportjournalisten, die das Spiel aus dem Off beobachten und kommentieren. Der folgende Ausschnitt aus einem Spiel der Fußball-WM zeigt, wie mit WaveFont die Betonungen in der Stimme des Kommentators über die Untertitel transportiert werden (Video unten).

An die Hörenden unter euch: Schaltet doch mal den Ton aus und lest nur mit, während das Video läuft. Ihr werdet merken, dass es etwas Übung braucht, um die Betonungen richtig zu lesen – aber auch, dass die WaveFont-Untertitel wirklich mehr als nur inhaltliche Informationen transportieren können.
Wenn ihr noch mehr Video-Beispiele sehen wollt, schaut doch einfach auf der WaveFont-Facebookseite vorbei oder besucht den Instagram-Account von Silicon Surfer.

Warum reicht die bisherige Darstellung von Untertiteln für gehörlose Menschen nicht aus?

Weil menschliche Sprache ja nicht nur aus neutralen Informationen besteht. Der Tonfall und viele andere kleine Merkmale lassen Rückschlüsse auf den Charakter oder die Stimmung eines Menschen zu. Ist der Sprecher vielleicht gerade traurig und spricht deshalb sehr leise und langsam? Oder macht er gerade einen Witz und spricht dadurch eher laut und schnell? Vor allem dann, wenn jemand in einem Video aus dem „Off“ spricht, seine Mimik also nicht zu sehen ist, können Menschen mit einer Hörbehinderung solche Botschaften gar nicht entschlüsseln. Sie sind von diesen wichtigen Zusatzinformationen also komplett ausgeschlossen, und da helfen „normale“ Untertitel eben auch nicht weiter. Mit WaveFont will ich das ändern – und so langfristig zu mehr Barrierefreiheit und Inklusion im öffentlichen Raum beitragen.

Und wie finanzieren Sie Ihr Projekt?

Am Anfang durch eine erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne bei Startnext. Damit hatte ich die finanziellen Mittel, um die Technologie von Grund auf zu entwickeln und weiterzudenken. Die Kampagne ist Ende August 2018 ausgelaufen, seither habe ich mein Angebot sogar noch erweitern können.

Ihre Technologie ist also schon im Einsatz?

Ja! Jeder, der gerade einen Film produziert, kann uns einfach ansprechen und uns um ein Angebot bitten (Kontaktdaten siehe unten). Unsere Kunden senden uns dafür zuerst ihr Video zu. Wir machen dann anhand der Länge und Komplexität des Filmmaterials ein Angebot. Wenn der Kunde damit einverstanden ist, beginnen wir mit der Arbeit. Zum Schluss liefern wir den Film mit den schon eingebundenen WaveFont-Untertiteln zurück. Interessant ist so etwas zum Beispiel für Unternehmen, die inklusive Imagefilme produzieren wollen, aber auch für Fernsehsender, Filmproduzenten, Video-On-Demand-Anbieter, Mediathek-Betreiber oder Werbeagenturen. Im Prinzip können uns aber auch Privatpersonen ihre Filme zuschicken.


Gibt es WaveFont auch in anderen Sprachen?

Ja, neben Deutsch setze ich Video-Untertitel in englischer und in spanischer Sprache um. Dieses Angebot möchte ich jetzt schrittweise noch weiter ausbauen. Mein Ziel ist es, diesen Service eines Tages in sehr vielen anderen Sprachen anzubieten, damit weltweit Menschen davon profitieren können.

Was ist Ihr Plan für die Zukunft?

Ich will WaveFont eines Tages als Standardtechnologie etablieren. Dafür mache ich jetzt schon Kampagnen, weil diese Art von Untertiteln ja doch eine sehr neue Art ist, einen Film oder ein Video zu erleben. Außerdem will ich Gehörlose und Menschen mit Hörbehinderung weiterhin in den Prozess einbinden, um die Technologie für sie optimal weiterzuentwickeln. Dafür könnte ich mir zum Beispiel auch weitere Studien mit den Gehörlosen-Verbänden gut vorstellen.




„Wir möchten mit gutem Beispiel vorangehen“

Ihr beiden, wie kamt ihr auf die Idee, aus „Zurück zu den Wurzeln“ ein inklusives Festival zu machen?

Christian: Das war im Grunde ein großer Zufall. Wir haben schon früher Open-Airs im Wald oder in Berliner Industrieruinen organisiert. Bei einer Veranstaltung trafen wir einen Gast mitten im Wald, der mit Rollstuhl unterwegs war. Aus Interesse fragten wir ihn, wie er es bis zur Bühne geschafft hatte. Die Antwort: Seine Freunde hatten ihn geschoben und getragen. Er war also komplett auf andere angewiesen, um an so einer Kulturveranstaltung überhaupt teilnehmen zu können – das hat uns sehr beschäftigt. Nach dieser Begegnung haben wir angefangen, uns mit der Frage zu befassen, wie Menschen mit Behinderung eigentlich Festivals erleben und wie wir als Veranstalter darauf reagieren sollten.

Björn: Wir stellten dann schnell fest, dass das Thema Inklusion für die meisten anderen Festival-Verantwortlichen völlig uninteressant ist. Das finden wir überhaupt nicht gut, aber aus wirtschaftlicher Sicht können wir es auch irgendwie verstehen. Um ein Festivalgelände behindertengerecht umzubauen, muss man einfach enorm viel investieren. Es klingt hart, aber wenn am Ende nur 150 bis 200 zahlende Gäste mit Behinderung zur Veranstaltung kommen, ist das rein finanziell betrachtet ein Verlustgeschäft. Wir selbst haben uns trotzdem dazu entschieden – wir machen das für‘s Karma! (lacht) Nein, wir finden das Thema einfach sehr wichtig und möchten mit gutem Beispiel vorangehen. Und wir hoffen, dass wir so auch anderen Menschen aus der Musikszene, die Veranstaltungen organisieren, die Augen für inklusive Fragen öffnen können.

Barrierefreie gestalteter Weg auf dem Wurzelfestival.
Foto: Höme – Magazin für Festivalkultur/Sascha Krautz

Euer Festivalgelände ist also seit dem vergangenen Jahr für Menschen, die mit Rollstuhl oder mit Gehhilfen unterwegs sind, komplett barrierefrei gestaltet. Was bedeutet das genau?

Björn: Unser Anspruch ist, dass Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer jede Bühne selbstständig erreichen können sollen. Für uns heißt das in der Vorbereitung: Wir ebnen den Waldboden, damit richtige Wege entstehen, und legen Schwerlastplatten aus, wie sie auch auf Baustellen verwendet werden. Diese Platten sind geriffelt, so dass die Reifen eines Rollstuhls guten Halt darauf haben und nicht wegrutschen. Nach dem Festival bauen wir alles wieder zurück und lockern auch den Boden wieder auf. Das ist viel Arbeit, aber sehr wichtig für die Umwelt.

Christian: Zur Barrierefreiheit gehören natürlich auch rollstuhlgerechte Duschen und Toiletten, die es bei uns ebenfalls gibt. Wir richten außerdem ein so genanntes „Inklusionscamp“ auf unserem Gelände ein, wo große Zelte mit Betten, einer Küche und Kühlschränken für Medikamente stehen. Wenn jemand Unterstützung braucht, kann sie oder er sich an unsere Heilerziehungspflegerinnen und -pfleger im Camp wenden, die ständig dort sind. Auf dem gesamten Gelände sind auch Inklusionslotsen unterwegs, die wir liebevoll „Buddys“ nennen. Sie begleiten unsere Gäste mit Behinderung während der ganzen Festivalzeit, wenn diese das möchten. Bei uns soll niemand allein gelassen werden.

Das klingt wirklich nach großem Aufwand. Wie hoch sind die Kosten für diese Maßnahmen?

Christian: Da kommen schon so rund 80.000 Euro zusammen. Die Inklusionslotsen arbeiten zwar ehrenamtlich für uns, und beim Aufbau helfen uns 400 Freiwillige. Aber die müssen ja auch was essen und trinken in der ganzen Zeit, was wir natürlich zahlen – und zwar drei Wochen lang. Dazu kommen die Kosten für den Bagger, der den Boden ebnen muss, und die Miete für die Schwerlastplatten. Die allein kosten schon 22.000 Euro.

Blick auf einen Rollstuhl in einem Übernachtungszelt.
Blick in eines der großen Zelte, die im Inklusionscamp des Festivals jedes Jahr aufgestellt werden. Foto: Höme – Magazin für Festivalkultur/Sascha Krautz

Diese Ausgaben lassen sich ja wahrscheinlich nicht komplett über Eintrittsgelder wieder reinholen. Wie finanziert ihr das?

Björn: Wir setzen zumindest für einen Teil der Kosten auf das Engagement und die Zuwendung von Menschen, die unser Konzept gut finden und unterstützen wollen. Für die Miete der Platten zum Beispiel haben wir eine Crowdfunding-Kampagne gestartet und konnten so mehr als 11.000 Euro einsammeln, hatten damit also schon mal die Hälfte gedeckt. Außerdem haben wir einen Zuschuss von 25.000 Euro für die Errichtung des Inklusionscamps vom Berliner Musicboard bekommen – das ist eine GmbH des Landes, die im Auftrag des Senats Musikprojekte fördert. Den Rest, also immer noch mehr als die Hälfte der Gesamtkosten, müssen wir aus den Eintrittsgeldern stemmen. Deshalb haben wir die Preise entsprechend angepasst. Wir betrachten das als eine Art Solidarbeitrag: Wenn es in unserer Gesellschaft schon überhaupt Geld kosten muss, dass Menschen mit Behinderung mitmachen können und nicht ausgegrenzt werden, dann müssen das alle gemeinsam stemmen, finden wir. Das sehen unsere Festivalgäste zum Glück ganz genauso.

Christian: Ja, und das haben wir auch schon bei der Crowdfunding-Kampagne beobachtet: Selbst Menschen, die sowieso sehr wenig haben – wie Hartz-IV-Empfängerinnen und -empfänger – haben sich daran beteiligt und ein paar Euro gespendet. Aber das ist auch das Besondere an unserem Festival. Alle helfen sich gegenseitig, packen beim Zeltaufbau mit an, laden ihre Nachbarinnen und Nachbarn zum Essen ein. Und sie sind auch finanziell sehr solidarisch, was nicht weniger wichtig ist, damit jede und jeder dabei sein kann.

Wie sieht es mit der Crew und den Künstlerinnen und Künstlern aus? Beschäftigt und bucht ihr auch Menschen mit Behinderung?

Björn: Natürlich. Unsere Kollegin Julie Rabong – wir sind im Büro-Team zu viert – hat zum Beispiel eine Gehbehinderung. Und im vergangenen Jahr hat zum ersten Mal Jan Haufe aka DJ Eltron bei uns aufgelegt – er lebt seit einigen Jahren mit Rollstuhl. Beide haben uns viele wichtige Tipps gegeben, wie wir die Barrierefreiheit auf unserem Festival weiter verbessern können. Ob unter unseren vielen freiwilligen Helfern auch Menschen mit Behinderung sind oder nicht, darüber habe ich ehrlich gesagt gar keinen Überblick. Im Grunde spielt das für uns auch gar keine Rolle, denn genau das bedeutet ja für uns Gleichberechtigung. Über eine Behinderung sprechen wir erst dann, wenn es irgendwo Schwierigkeiten gibt.

Festivalbesucher spielen auf dem Gelände des Festivals.
Foto: Höme – Magazin für Festivalkultur/Sascha Krautz

Welche Hinweise haben Julie und Jan euch gegeben – und was habt ihr daraufhin verändert?

Christian: Jan hat im vergangenen Jahr mit seinem Rollstuhl unsere Wege getestet und festgestellt, dass die Platten verrutscht und dadurch Lücken entstanden sind. Das wird für Rollstuhlfahrer natürlich schnell zum Problem. Deshalb haben wir in diesem Jahr andere Platten gemietet. Sie sind größer als die bisherigen und werden jetzt fest im Boden verankert.

Björn: Was wir auch nicht bedacht hatten: Die Tresen an den Bars waren im vergangenen Jahr zu hoch für Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer. Sie mussten sich ihre Getränke deshalb von anderen Gästen holen lassen. Darauf hat Julie uns aufmerksam gemacht, das war ein sehr wertvoller Hinweis, weil wir selbst darüber einfach noch gar nicht nachgedacht hatten. In diesem Jahr haben wir anders geplant und bauen die Bars jetzt so auf, dass alle Gäste selbstständig ordern können. An diesem Beispiel sieht man sehr gut, dass das ein Prozess für uns ist. Wir lernen immer mehr dazu und müssen manchmal damit leben, dass wir nicht alles perfekt machen können – und oft improvisieren wir auch einfach. Was uns sehr dabei hilft, ist die gemeinnützige Gesellschaft ‚Inklusion muss laut sein‘, die sich für die Barrierefreiheit von Kulturveranstaltungen engagiert und uns super bei der Festivalplanung berät. Wir sind ja selbst keine Experten für das Thema, sondern hatten einfach Bock auf das Projekt.

Welche Pläne habt ihr für die Zukunft?

Christian: Wir möchten unser Festival irgendwann auch für Menschen mit Sehbehinderung barrierefrei gestalten, dafür fehlt uns im Moment aber leider noch das Geld. Die erste große Barriere für die Gäste ist unsere Website, die ganz neu aufgebaut werden muss. Das wird 3.000 bis 4.000 Euro kosten. Auch unser Festivalgelände müssen wir anders gestalten, wir brauchen ein taktiles Leitsystem mit genoppten Bodenplatten, wie man sie von Bahnhöfen oder modernen Straßenbahnhaltestellen kennt. Dafür müssen wir mit 50.000 bis 80.000 Euro rechnen. Was auch toll wäre: akustische Signale, die den Gästen den Weg zur Bühne oder zu den sanitären Anlagen weisen. Die Kosten dafür wissen wir aber noch nicht.

Björn: Menschen mit Sehbehinderung sind natürlich trotzdem schon jetzt herzlich willkommen bei uns, auch wenn wir die barrierefreie Ausstattung für sie noch nicht finanzieren können. Wenn sie allein zum Festival kommen möchten, sind unsere Inklusionslotsen gern für sie da und begleiten sie. Wir wissen, dass das noch nicht optimal ist – wie gesagt, das Ganze ist ein Prozess, der oft leider nicht so schnell geht, wie wir es uns wünschen würden. Aber wir machen jedes Jahr einen weiteren Schritt nach vorn.






Reisen für Alle!

Im Urlaub wollen die meisten Menschen Sonne, ein schönes Reiseziel, Spaß, Entspannung und Erholung – und dazu gehört auch, dass eine Reise keinen unnötigen Stress verursacht.

Für viele Menschen mit Behinderung ist genau das allerdings oft schon bei der Planung der Fall. An fremde Orte zu fahren ist meist schwierig, wenn man mit Rollstuhl oder Gehhilfe reist, eine Sehbehinderung hat oder gehörlos ist: Viele Angebote sind nicht darauf eingerichtet, dass auch Menschen mit Behinderung zu ihren Gästen zählen könnten und genauso eigenständig und ohne Hilfe verreisen möchten wie andere Menschen auch.

Damit der nächste Ausflug oder Urlaub entspannt wird, ist also vor allem eins wichtig: verlässliche Informationen über die Voraussetzungen am Reiseziel. Seit 2014 findet ihr genau das auf dem Portal „Reisen für Alle“ für Ziele innerhalb Deutschlands. Alle Übernachtungs- und Gastronomiebetriebe, Unterhaltungs- und Freizeitstätten, die hier gelistet sind, erfüllen unabhängig geprüfte Standards der Barrierefreiheit.

Dabei wird ein Kennzeichnungssystem eingesetzt, das einige wichtige Grundvoraussetzungen festlegt:

  1. Die Angebote (etwa ein Hotel oder ein Freilichtmuseum) dürfen nicht selbst einschätzen, wie barrierefrei sie sind. Sie müssen sich von speziell geschulten Experten auf Herz und Nieren prüfen lassen, bevor sie in die Liste aufgenommen werden.
  2. Alle Angaben zur Barrierefreiheit der Orte im Detail aufgeführt, so dass die Urlauberinnen und Urlauber schon bei der Planung ganz genau wissen, was sie erwartet.
  3. „Reisen für Alle“ sicher, dass mindestens eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter pro Betrieb oder Angebot eine Schulung zum Thema „Barrierefreiheit als Qualitäts- und Komfort-Merkmal“ besucht hat.




Studieren mit Behinderung

Inklusion wird in der öffentlichen Debatte oft nur auf das Thema Schule reduziert. Dabei umfasst sie viel mehr, zum Beispiel die Zeit direkt nach dem Abschluss: Junge Absolventinnen und Absolventen mit Behinderung müssen sich genauso wie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler ohne Handicap überlegen, wie es nach der Schule weitergehen soll. Für diejenigen, die gern studieren möchten, wird es dann oft kompliziert.

Der Grund ist, dass die Barrierefreiheit an vielen Hochschulen immer noch zu wünschen übrig lässt. Und damit sind nicht nur Behindertenparkplätze, Rampen und Aufzüge gemeint, sondern auch die Voraussetzungen für das Lernen in Vorlesungen und Seminaren. Mit technischen Hilfsmitteln ist dabei heute zum Glück schon viel mehr möglich als früher. Viele Unis müssen aber trotzdem noch viel für die Barrierefreiheit in ihren Hörsälen tun und sich insgesamt besser auf Menschen mit Behinderungen einrichten, zum Beispiel auf Studierende mit einer Seh- oder Hörbehinderung oder mit Rollstuhl.

Hürden gibt es also weiterhin viele. Das wissen auch die Studentenwerke und haben deshalb eine eigene Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung (IBS) eingerichtet, an die sich junge Menschen wenden können, die Infos und Hilfe bei der Entscheidung möchten. Die Stelle wird übrigens auch in diesem guten Artikel zum Thema in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung erwähnt.

Darüber hinaus gibt es auch verschiedene Vereine, die junge Menschen bei der Organisation rund um die Studienwahl unterstützen. Die Stiftung MyHandicap hat dazu Informationen zusammengestellt. Sie empfiehlt zum Beispiel, sich frühzeitig um einen geeigneten Studienplatz zu kümmern und auch über Alternativen nachzudenken.




VIER FRAGEN AN… Norbert Sandmann

#1: Herr Sandmann, was bedeutet Inklusion bei der Arbeit für Sie?

Arbeit gehört in unserer Gesellschaft einfach fest zum Leben dazu. Wir verdienen mit ihr nicht nur unseren Lebensunterhalt, sondern definieren uns selbst auch durch das, was wir beruflich tun. Deshalb ist Inklusion im Arbeitsleben so wichtig, denn sie spielt eine große Rolle für unser Selbstwertgefühl und ermöglicht es uns zugleich, unser Leben eigenmächtig zu gestalten. Ein echter Arbeitsplatz, an dem nicht nur Beschäftigungstherapie angesagt ist, gibt jedem Menschen mit Handicap das gute Gefühl, mehr als ein „Quotenbehinderter“ zu sein. Stattdessen wird man oft erst dann als ein wirklich vollwertiges Mitglied der Gesellschaft wahrgenommen.

#2: Was bremst Ihrer Meinung nach die Inklusion – bei der Arbeit, aber auch in der Gesellschaft insgesamt?

Am häufigsten sind es wohl Berührungsängste seitens vieler Kollegen oder Vorgesetzten. Aus dieser Angst, dass Menschen mit Behinderung „anders“ sein könnten, entstehen schnell Vorurteile, und dadurch sehen viele bloß noch das Handicap und nicht mehr den Menschen dahinter.

#3: Mit welchen kleinen oder größeren Handlungen könnten einzelne Menschen aus Ihrer Sicht selbst zur Inklusion beitragen?

Kommunikation ist das A und O, damit Inklusion gelingen kann. Wenn wir alle mehr miteinander reden würden, wäre schon eine Menge geschafft. Das gilt übrigens für beide Seiten. Wir als Betroffene sollten ungezwungener auf unsere Mitmenschen zugehen, ihnen Unsicherheiten zugestehen und offen und ehrlich erklären, ob, wann und warum wir Hilfe benötigen – und genauso auch, wann diese unnötig ist. Auf ähnliche Weise gilt das umgekehrt auch für Nichtbehinderte: Sie sollten versuchen, nicht aus Angst oder Scham gar nichts mehr zu sagen, sondern lieber ein Gespräch suchen und gegebenenfalls auch die eigenen Unsicherheiten ansprechen.

#4: Wenn Sie Ihren Traum-Arbeitsplatz frei entwerfen könnten: Wie sähe der aus?

Ich würde ich mir vor allem ein Team wünschen, bei dem das Thema Behinderung keine Rolle spielt. Gerade im Arbeitsleben ist das eine sehr spannende Sache, weil hier neben Persönlichkeit immer auch Leistung gefragt ist. Damit diese auch effektiv erbracht werden kann, ist es umso wichtiger, dass sich alle aufeinander einstellen. Bei meinem Traum-Arbeitsplatz würden daher alle auf die jeweils unterschiedlichen Bedürfnisse, Kenntnisse und auch Einschränkungen der anderen achten, um dadurch im Arbeitsleben gemeinsam stark zu sein.




Kommunizieren ohne Hürden

Kurz eine Mail tippen, eben den Kontostand prüfen, fix den Weg für den nächsten Termin heraussuchen: Vieles lässt sich heute mit ein paar Klicks im Internet erledigen, was früher kompliziert und langwierig war.
Doch so einfach und selbstverständlich ist es nicht für jeden. Gerade das Web kann für viele Menschen voller Hürden sein, die sie teils kaum oder gar nicht überwinden können. Was in der Realität beispielsweise Treppen ohne Rampen sind, sind im Internet etwa zu kleine Schriftgrößen, unübersichtliche Webseitenstrukturen, schlecht programmierte Seiten oder schwer verständliche Texte.

Damit das in Zukunft besser wird, muss auch in der Internet-Kommunikation viel selbstverständlicher an Barrierefreiheit gedacht werden – doch was das genau bedeutet, wissen nur einige wenige Experten genau.




Barrierefreiheit in Echtzeit

Kurze Sätze, Passiv, Genitiv und Konjunktiv vermeiden, viele Absätze einfügen: Das sind, grob zusammengefasst, die Regeln der Leichten Sprache. Diese Variation des Deutschen ist dazu gedacht, die komplexe Grammatik des Deutschen so stark zu vereinfachen, dass jeder Mensch den Inhalt eines Textes gut verstehen kann – also auch diejenigen, die zum Beispiel keine Muttersprachler sind oder aus anderen Gründen alltägliche Texte kaum verstehen können.

Ein tolles Konzept, das nur einen einzigen kleinen Haken hat: Leichte Sprache ist in Deutschland bisher vor allem eine Schriftsprache. Sie kann also gelesen werden, wird aber (noch) nicht in Echtzeit gesprochen. Oder doch?

Anne Leichtfuß würde hier wohl vehement protestieren, denn ihr Job ist genau das: Live und simultan in Leichter Sprache reden, also komplexe Inhalte in leicht verständliche Sätze übersetzen  zum Beispiel bei Veranstaltungen. Sie ist bundesweit bisher die einzige, die diesen Job hat, die also als Simutandolmetscherin für Leichte Sprache arbeitet. Die TAZ hat dazu im letzten Jahr einen schönen Artikel veröffentlicht, den wir als Linktipp der Woche heute noch einmal wärmstens empfehlen möchten.




Nur, wer alles versteht, kann überall mitmachen

Leichte Sprache ist weit mehr als nur eine Art, sich besonders einfach auszudrücken. Sie ist eine „Variation“ des Deutschen, die eigenen, strengen Regeln folgt. Die Idee dieses Konzeptes: Einen Text in Leichter Sprache soll jeder verstehen können, zum Beispiel auch Menschen mit geistigen oder Lernbehinderungen oder Menschen, die kaum Deutsch sprechen.

Es braucht viel Wissen und Übung, um auf diese Weise schreiben zu können und auch, um aus der Alltagssprache in die Leichte Sprache zu übersetzen. Außerdem müssen alle Texte immer sorgfältig geprüft werden, bevor sie veröffentlicht werden. Es gibt daher ganze Redaktionsbüros, die sich auf diese Arbeit spezialisiert haben, und eines davon stellen wir in diesem Film vor: Das Lebenshilfe Büro für Leichte Sprache Ruhrgebiet, das zugleich ein noch junges Inklusionsunternehmen ist.*



* Die Lebenshilfe musste den Inklusionsbetrieb „Büro für Leichte Sprache Ruhrgebiet“ inzwischen leider schließen. Hier erklärt sie, warum.




Alle sind anders

„Anderssein ist keine Hürde, sondern eine große Chance“, könnte der Grundsatz einer Initiative lauten, die sich in Deutschland für eine bessere Unternehmenskultur engagiert: Die Charta der Vielfalt hat sich zum Ziel gesetzt, dafür zu sorgen, dass in Zukunft das Potenzial aller Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft, Behinderung oder sexueller Orientierung angemessen wertgeschätzt, gefördert und genutzt wird.

„Diversity Management“ heißt dieses Prinzip in der Fachwelt und in den Personalabteilungen von Unternehmen. Die Idee dahinter: Wenn alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einer Firma oder Organisation sich gegenseitig schätzen, untereinander gerne Erfahrungen austauschen und ihr Fachwissen ungehindert weitertragen können, fördert das die Kreativität eines Teams – und das wirkt sich wiederum positiv auf die Innovationskraft des Unternehmens aus. Vielfalt beim Personal lohnt sich für Firmen demnach nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht, es steigert auch deren Anpassungsfähigkeit an neue Entwicklungen auf den Märkten in Deutschland und der Welt.