Virtuelle Einblicke in eine inklusive Arbeitswelt

Frau Mengewein, Frau Scholz, „WayIn“ ist im Jahr 2018 gestartet. Was war die Idee?

Kirsten Mengewein (KM): Es gibt zwar eine Informationsflut rund um das Thema Inklusion und Arbeit, aber im Verhältnis dazu haben noch gar nicht so viele Menschen mit Behinderung tatsächlich eine feste Stelle auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Dieses Missverhältnis wollen wir mit unserem Online-Inklusionswegweiser für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber teilweise auflösen, indem wir Ordnung und Klarheit in das Informationschaos bringen. Außerdem wollen wir helfen, die Chancen für Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern.

Cornelia Scholz (CS): Das Stichwort Arbeit 4.0 ist für uns ganz entscheidend. Dieser Begriff fasst eine Menge Veränderungen zusammen, die gerade für Menschen mit Behinderung ganz neue Möglichkeiten in der Arbeitswelt eröffnen können. Dazu gehören die Digitalisierung, neue Arbeitskonzepte wie „New Work“ oder die Erwartungshaltung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – egal, ob sie eine Behinderung haben oder nicht. Das ganze Bild von Arbeit hat sich in den vergangenen Jahren stark gewandelt.

Wo setzen Sie mit „WayIn“ an?

KM: Wir haben ein benutzerfreundliches Informationsportal zu diesem Thema aufgebaut. Außerdem wollen wir mit Workshops und Webinaren für unser Anliegen sensibilisieren, insbesondere die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie Ausbilderinnen und Ausbilder. Wir wollen so deren Bereitschaft erhöhen, Menschen mit Behinderungen einzustellen. Eines der Herzstücke unserer Onlineplattform sind deshalb die so genannten „Inclusion Journeys“ (übersetzt: Inklusionsreisen).

Was ist das genau?

CS: Wir lassen die Nutzerinnen und Nutzer mit interaktiven Videos zu Arbeitsplätzen von Menschen mit ganz unterschiedlichen Behinderungen reisen, die in verschiedenen Branchen arbeiten. Inklusion ist dort bereits gelebte Realität. So gewähren wir Einblicke in den Arbeitsalltag von Menschen mit Behinderungen. Die Nutzerinnen und Nutzer lernen außerdem Möglichkeiten kennen, die Zusammenarbeit optimal zu gestalten.

Wie läuft so eine „Inclusion Journey“ ab?

KM: Zunächst treffen die potentiellen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber einen Menschen mit Behinderung an ihrem oder seinem Arbeitsplatz. Das geschieht zwar virtuell, wird durch verschiedene Elemente und Übungen aber zu einem interaktiven Erlebnis. Auf der Reise durchlaufen die Nutzerinnen und Nutzer verschiedene Stationen: Sie sehen und hören zum Beispiel Interviews mit Menschen mit Behinderung, danach folgen gespielte Szenen, um eine Situation zu verdeutlichen, später schließt sich eine Übung an. Wir ermöglichen unseren Nutzerinnen und Nutzern auf diese Weise, die Perspektive zu wechseln. Sie erfahren mehr über mögliche Hürden für Menschen mit Behinderung im Berufsalltag und spüren auch eigene Hemmschwellen. Sie lernen neue Wege kennen, diesen Barrieren und den eigenen Berührungsängsten mit Offenheit und Wertschätzung zu begegnen und Lösungen zu finden, anstatt bei den Problemen hängenzubleiben

Welche Lösungen können das sein?

CS: Digitale Medien eignen sich oft ganz hervorragend, um Barrieren abzubauen. Wir stellen in den Journeys deshalb digitale Tools oder andere Hilfsmittel vor, die dabei helfen können – zum Beispiel multimediale Assistenzsysteme. Diese sind in vielen Unternehmen noch nicht bekannt und werden daher selten angewendet.

Wie entstehen die Inhalte bei „WayIn“, insbesondere für die „Inclusion Journeys“?

KM: Alle Angebote von „WayIn“ werden in enger Zusammenarbeit mit Menschen entwickelt, die selbst eine Behinderung haben. Das reicht von der Beratung über Drehbücher und Ideen für die Übungen bis hin zur inhaltlichen Konzeption der Präsenzworkshops und der Webinare. Diese vertiefen die „Inclusion Journeys“. Auf unserer Website gibt es außerdem noch viele weitere Materialien, etwa Interviews oder weiterführende Links.

CS: Die Humboldt-Universität Berlin hat eine inklusive Lernplattform namens „LAYA“ entwickelt. Die Abkürzung steht für „Learn As You Are“ (übersetzt: „Lerne, wie du bist“). Getreu diesem Motto sind alle unsere „Inclusion Journeys“ entstanden und werden auf dieser Plattform auch angeboten – in verschiedenen Darstellungsformen und -niveaus, die bei Bedarf hinzugeschaltet werden können. Das Angebot ist für Menschen mit verschiedenen Behinderungen und Beeinträchtigungen barrierefrei: Die Inhalte sind für Screenreader geeignet, in Gebärdensprache übersetzt oder mit zuschaltbaren Untertiteln versehen.

Ihr Angebot ist schon jetzt vorwiegend digital. Hilft Ihnen das in Corona-Zeiten?

KM: Ja und nein. Einige unserer Angebote sind schon immer digital, bis zu den Kontaktbeschränkungen wegen Corona haben wir aber auch analoge Veranstaltungen organisiert, die gut besucht waren. Es ergaben sich dort viele Diskussionen und Gespräche, und so ein Austausch bringt alle Beteiligten immer sehr weiter. Unsere Webinare sind zwar sehr interaktiv angelegt, Gespräche sind also auch dort möglich – aber in einem sehr viel kleineren Rahmen. Nun sind wir gespannt, ob unsere große Abschlussveranstaltung am 5. Oktober 2020 stattfinden kann, denn unser Projekt läuft nach insgesamt drei Jahren am Ende dieses Jahres aus. Wir arbeiten zur Zeit schon daran, unser Angebot auch darüber hinaus zur Verfügung zu stellen.


Über unsere Interviewpartnerinnen




Ein Gemeinschaftsbüro für alle

Barrierefreie Räume, höhenverstellbare Schreibtische, Braille-Tastaturen: Das und noch vieles mehr bietet Deutschlands erster inklusiver Coworking-Space „TUECHTIG“ seit dem Jahr 2017.

Das Gemeinschaftsbüro liegt mitten im Berliner Stadtteil Wedding. Menschen mit und ohne Handicap können hier einen Schreibtisch oder Konferenzraum anmieten, sich mit anderen Gründerinnen und Freiberuflern austauschen oder auch gemeinsame Projekte entwickeln.

Das „TUECHTIG“ bietet auf Wunsch auch Angestellten einen Ort zum Arbeiten an, die nach einem Unfall oder einer Erkrankung einen barrierefreien Arbeitsplatz brauchen, ihr Arbeitgeber diesen aber noch nicht zur Verfügung stellen kann.

Den ganzen Tag lang stehen im Gemeinschaftsbüro mehrere Arbeitsassistentinnen und -assistenten bereit. Sie unterstützen alle, die es wünschen, bei der Arbeit. Außerdem ist im „TUECHTIG“ eine Psychologin fest angestellt. Sie begleitet zum Beispiel Menschen nach einem Burn-Out oder anderen Erkrankungen dabei, wieder ins Berufsleben zurückzukehren und neue Arbeitsabläufe zu entwickeln.




„Man kann auch wunderbar hinter den Plattentellern SITZEN“

Jan, was hat sich seit 2012 für dich verändert?

Alles (grinst). Zuallererst musste ich lernen, zu akzeptieren, dass ich ab sofort auf Hilfe angewiesen sein würde. Und ich musste alles neu organisieren. Meine Frau und ich mussten uns zum Beispiel eine neue Wohnung suchen, weil ich ja eine barrierefreie Umgebung brauchte. Das ist aber gar nicht so einfach in Berlin, da hat man die Qual der Wahl zwischen unbezahlbaren Angeboten oder Wohnungen in Gegenden, in denen die Infrastruktur schlecht ist. Die Suche dauerte fast drei Jahre. In der Zwischenzeit hat uns zum Glück meine Schwester herzlich in ihren Haushalt aufgenommen.

Welche Schwierigkeiten begegnen euch sonst im Alltag?

Zunächst mal ist viel Spontaneität verloren gegangen, es muss nämlich immer alles umfangreich und langfristig organisiert und geplant werden, egal ob es Ausflüge, Treffen mit Freunden, Urlaube oder andere Aktivitäten sind. Dazu kommt, dass zum Beispiel viele Orte nicht allzu verlässliche Infos zur Barrierefreiheit auf ihren Websites zur Verfügung stellen, so dass ich damit nicht gut planen kann. Wenn wir dann da ankommen, sind die Bedingungen oft nicht so optimal. Da kriegt man manchmal sowas zu hören wie „Ist doch nur eine Stufe!“ oder „Vier Man, vier Ecken – da tragen wir dich einfach rüber!“. So entsteht unnötiger Stress für mich.

Hat sich bei all diesen Veränderungen für dich auch etwas zum Positiven verändert?

Ja. Die Beziehungen zu Familie und Freunden sind enger geworden, weil sie von Anfang an zu mir und meiner Frau gehalten und uns unterstützt haben. Darüber bin ich sehr glücklich. Außerdem bin ich dankbar dafür, überlebt zu haben – und durch diese Sicht auf die Dinge hat sich für mich vieles relativiert. Früher stand beruflicher Erfolg für mich zum Beispiel sehr weit oben auf der Liste. Das ist jetzt nicht mehr so. Es gibt sehr viel wichtigere Dinge im Leben, und das habe ich durch die Erkrankung und das, was danach passiert ist, für mich erkannt.

Und wie stand es damals um deinen Beruf? Du konntest ja durch deine Behinderung nicht so weiterarbeiten wie vorher.

Für mich brach von heute auf morgen meine gesamte Existenzgrundlage zusammen. Ich konnte nicht mehr durch die Gegend reisen wie früher, außerdem brauchte ich ab sofort ganz andere Bedingungen bei Veranstaltungen. Das ging erstmal nicht so ohne weiteres. Statt meines Einkommens bekomme ich eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Meine Frau kümmert sich als Pflegerin um mich und arbeitet in ihrem bisherigen Job weiter, jetzt aber am Telearbeitsplatz von Zuhause aus.

Inzwischen arbeitest du aber wieder als DJ. Was war der Anlass für dich, wieder einzusteigen?

Ich hatte nach den Erlebnissen 2012 eigentlich komplett mit dem Auflegen abgeschlossen und konnte mir nicht vorstellen, jemals wieder hinter Plattentellern zu stehen. Aber dann brachte mich ein Freund von mir, Hannes Teichmann, zum Nachdenken. Er sagte, man könnte doch wunderbar auch hinter den Plattentellern sitzen! Er und sein Bruder sind in der Szene bekannt als die „Gebrüder Teichmann“. Im Jahr 2015 lud das Museum Hamburger Bahnhof Berlin die beiden ein, bei der internationalen Tagung „Inklusion ist schön“ aufzulegen, und sie holten mich kurzerhand mit ins Boot. In diesem geschützten Rahmen schufen sie ein perfektes Setting für mich, wieder in den Job einzusteigen: ein DJ-Pult auf Rolli-Höhe, Bewegungsfreiheit in alle Richtungen. Außerdem waren die beiden die ganze Zeit in Reichweite und standen mir zur Seite. Das war super. Ich selbst hatte mich wochenlang auf diesen ersten Gig vorbereitet. Durch all das war der Wiedereinstieg wirklich sehr angenehm.

Hat das deine Meinung zum Thema Auflegen geändert?

Ich habe dadurch auf jeden Fall wieder Selbstvertrauen in mich und meine Fähigkeiten gewonnen. Das Event und die Resonanz waren toll und das Erlebnis, wieder aufzulegen, auch. Die nächste Gelegenheit ließ dann auch gar nicht lange auf sich warten: Beim Festival „Zurück zu den Wurzeln“ hatte ich 2017 die Chance, das erste Mal wieder vor einem richtig großen Publikum aufzutreten. Da habe ich natürlich Ja gesagt.

Was ist das für ein Festival?

„Zurück zu den Wurzeln“ hat sich die Inklusion auf die Fahnen geschrieben, das heißt, alle Menschen sollen mitmachen und das Festival-Erlebnis genießen können. Das gesamte Gelände wird jedes Jahr barrierefrei auf- und ausgebaut, es gibt Inklusionslotsen und behindertengerechte Toiletten. Das sind ideale Voraussetzungen für Gäste mit Behinderung, und entsprechend viele sind dort auch vertreten. Dem Veranstalter ist es außerdem wichtig, nicht nur Gäste, sondern auch Künstler mit Behinderung dabeizuhaben. Er kannte mich noch aus meiner früheren, aktiven Zeit als DJ, daher fragte er mich, ob ich mitmachen wollte.

Wie war dieser erste große Gig nach der langen Pause für dich?

Vor meinem Auftritt war ich sehr aufgeregt, obwohl ich mich intensiv vorbereitet hatte. Ich hatte vorher ja schon oft die Erfahrung gemacht, dass es nicht unbedingt etwas heißt, wenn ein Ort oder eine Veranstaltung sich ‚barrierefrei‘ nennt – in der Wirklichkeit sah das für mich leider oft ganz anders aus. Dadurch entstand eine Doppelbelastung: Zum einen wollte und will ich als Künstler einen perfekten Auftritt abliefern und hoffe dafür natürlich immer auf ideale Bedingungen. Die Technik, der Sound müssen stimmen, damit es richtig gut wird. Zum anderen bin ich als Rollifahrer auch auf gute Voraussetzungen in Sachen Barrierefreiheit angewiesen. Das DJ-Pult muss auf der richtigen Höhe und mit dem Rollstuhl unterfahrbar sein, damit ich die Technik gut erreichen kann. Außerdem muss ich ohne Hilfe an meinen Arbeitsplatz gelangen können, der Zuweg vom Auto bis zum DJ-Pult muss also ebenfalls barrierefrei sein. Zum Glück waren bei „Zurück zu den Wurzeln“ all diese Bedingungen optimal erfüllt. Als ich dann meine ersten Platten auflegte und das Publikum begeistert feierte, verfolg meine Aufregung ganz schnell.

Was empfindest du als größtes Hindernis für deine Arbeit als DJ?

In erster Linie meine eigene Einschränkung, also die Tatsache, dass ich nicht mehr zu jeder Tages- oder Nachtzeit auftreten und nach meinen Ansprüchen abliefern kann.

Was planst du für die Zukunft?

Im letzten Jahr habe ich zwei Remixe produziert und rausgebracht. Im Moment bin ich dabei, meine Vinyl-Plattensammlung für zukünftige Auftritte zu digitalisieren. Vor meiner Erkrankung habe ich fast ausschließlich mit Platten aufgelegt und das mit CDs ergänzt. Durch die motorischen Störungen zittern aber jetzt meine Hände, daher ist Auflegen mit Vinyl leider nicht mehr möglich.
Ganz unabhängig von der Musik versuche ich außerdem, mich für Barrierefreiheit im öffentlichen Raum zu engagieren – zum Beispiel, indem ich Tipps für Verbesserungen gebe, wenn ich irgendwo unterwegs bin und mir etwas auffällt. Das finde ich nicht nur für mich selbst wichtig.