Ohne Umwege in den Beruf

Frau Lebek, wie kamen Sie und Ihr Team auf die Idee, ein Job-Speed-Dating für Schülerinnen und Schüler mit Handicap zu organisieren?

Karin Lebek: Das Konzept, das es schon in anderen Regionen und Städten gibt, wollten wir gern nach Westfalen-Lippe holen. Unser Ziel war und ist es, Unternehmen durch kurze Gespräche und auf dem „schnellen Weg“ mit Schülerinnen und Schülern zusammenzubringen und so erste Kontaktpunkte herzustellen.
Dabei haben wir eng mit der Großkundenberatung der Bundesagentur für Arbeit zusammengearbeitet. Wir wollten gemeinsam möglichst vielen jungen Leuten Perspektiven bieten, zum Beispiel Anlern- oder Helfertätigkeiten, Praktika, Einstiegsqualifizierungen, Ausbildungen zu machen.
Für beide Seiten hat das gut funktioniert: Die Schülerinnen und Schüler konnten beim Job-Speed-Dating erste berufliche Kontakte knüpfen. Und die Vertreterinnen und Vertreter der Unternehmen konnten junge Nachwuchstalente kennenlernen und sich einen Eindruck von deren Persönlichkeiten und Fähigkeiten verschaffen.

Wen wollten Sie mit dieser Aktion ansprechen?

Carsten Roman: Wir wollten Schülerinnen und Schüler zum Mitmachen anregen, die über das NRW-Projekt KAoA-STAR durch einen Integrationsfachdienst unterstützt werden. Darunter sind zum Beispiel junge Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung, Autismus-Spektrum-Störungen oder auch solche, die sonderpädagogisch gefördert werden, zum Beispiel wegen körperlicher, motorischer oder geistiger Entwicklungsstörungen, Seh- oder Hörbehinderungen oder wegen Handicaps in Kommunikation und Sprache. Sie alle absolvieren im Moment das neunte beziehungsweise vorletzte Schuljahr.

Werden diese Schülerinnen und Schüler denn beim Berufseinstieg schon begleitet, abgesehen vom Job-Speed-Dating?

Karin Lebek: Ja, mit dem besagten Projekt des Landes NRW KAoA-STAR. Die Abkürzungen bedeuten „Kein Abschluss ohne Anschluss“ und „Schule trifft Arbeitswelt“. Insgesamt gibt es 20 Integrationsfachdienste im Westfalen-Lippe, bei denen die dort arbeitenden Fachkräfte junge Menschen beim Übergang von der Schule in den Beruf unterstützen. Sie begleiten die Jugendlichen also auch bei der Berufsorientierung.
Beim Job-Speed-Dating waren unsere Leute aus den Integrationsfachdiensten Gelsenkirchen, Bottrop und Gladbeck, Dortmund, Hagen und Ennepe-Ruhr sowie Bochum und Herne beteiligt. Sie haben mit den Schülerinnen und Schülern zum Beispiel Bewerbungsunterlagen vorbereitet und ihnen dabei geholfen, sich über Unternehmen vorab zu informieren. Außerdem überlegen sie mit ihnen gemeinsam, welcher Berufsweg für sie der richtige sein könnte.

Melissa Adem und Daniel-Joel Meißner
Die beiden Schüler Melissa Adem und Daniel-Joel Meißner nutzten das Job-Speed-Dating in Dortmund, um sich über Handwerksberufe im Elektrobereich zu informieren.
Foto: LWL/Rütershoff | Bearbeitung: LWL

Wie muss ein solches Job-Speed-Dating organisiert sein, damit es gut funktioniert und Erfolge bringt?

Carsten Roman: Das beginnt schon bei der Anreise der Schülerinnen und Schüler. Wir haben das in zwei „Wellen“ organisiert und so dafür gesorgt, dass nicht alle 120 jungen Menschen auf einmal in Dortmund ankamen. So hatte jede und jeder genug Zeit für die Gespräche, die ja auch aufregend für die jungen Leute sind.
Die Schülerinnen und Schüler wurden teilweise auch von ihren Lehrerinnen und Lehrern begleitet. Sie haben die Gespräche an sich aber ganz eigenständig geführt. Das war uns und ihnen sehr wichtig. Die Räumlichkeiten, in denen das Speed-Dating stattfand, waren außerdem barrierefrei, zum Beispiel auch dank der technischen Ausstattung, die es dort gab. Damit konnten auch junge Leute mit Hörbehinderung ohne Probleme teilnehmen. Wichtig war natürlich auch die Privatsphäre bei den Unterhaltungen. Deshalb haben wir Trennwände zwischen den Tischen der einzelnen Unternehmen aufgestellt. Und wir haben Gebärdensprachdolmetscherinnen und -dolmetscher engagiert, um eine reibungslose Kommunikation sicherzustellen.

Gab es Aspekte, auf die die teilnehmenden Unternehmen achten mussten?

Karin Lebek: Die Firmen haben uns im Vorfeld mitgeteilt, welche beruflichen Möglichkeiten und Perspektiven es in ihren Unternehmen gibt, so dass die Gespräche und Zusammensetzungen schon vorher geplant werden konnten. Umgekehrt haben wir den Unternehmen, Betrieben und Institutionen viel über die Schülerinnen und Schüler erzählt und diesen je ein Infopaket zur Verfügung gestellt. Darin konnten sie nachlesen, wie sie vom Land und vom Bund bei der Beschäftigung von Menschen mit einer (Schwer-)Behinderung unterstützt werden können. Einige Unternehmen und Betriebe beschäftigen aber zum Teil sowieso schon Menschen mit Handicaps und kennen sich mit dem Thema aus.

Was war für Sie persönlich besonders positiv?

Carsten Roman: Zum einen die hohe Anzahl an Teilnehmerinnen und Teilnehmern: Es waren etwa 120 junge Menschen mit dabei, die auf elf Unternehmen unterschiedlicher Branchen trafen. Neben Großunternehmen waren auch Inklusionsbetriebe angereist. Die Schülerinnen und Schüler konnten sich zusätzlich von der Landwirtschaftskammer, der Handwerkskammer und der regionalen Agentur für Arbeit Dortmund beraten lassen.
Und ich fand es toll, dass auch einige Auszubildende aus den Unternehmen mitgereist waren. Das hat die Atmosphäre und auch den Wissenstransfer sehr positiv beeinflusst, weil diese jungen Menschen ja schon von ihren eigenen Erfahrungen in den Betrieben berichten konnten. Außerdem sind alle, die von Arbeitgeberseite mit dabei waren – die Vertreterinnen und Vertreter der Unternehmen, die der Kammern und die der Agentur für Arbeit – sehr offen und wertschätzend mit den Jugendlichen umgegangen.

Was waren für Sie die wichtigsten Ergebnisse des Tages?

Karin Lebek: Zunächst einmal konnten sich die Schülerinnen und Schüler in den persönlichen Gesprächen gut über Perspektiven im jeweiligen Betrieb informieren. Sie haben also einen guten Eindruck davon bekommen, welche Möglichkeiten ihnen offenstehen. Aus den Gesprächen haben sich schon einige Praktika ergeben und möglicherweise auch eine Ausbildung. Genaueres wird die Auswertung der Veranstaltung zeigen: Wir aktualisieren den Stand dieser Analyse regelmäßig im Abstand von drei Monaten.

Planen Sie schon ein zweites Job-Speed-Dating?

Carsten Roman: Ja, in Dortmund wird die nächste Veranstaltung voraussichtlich im September 2019 stattfinden, denn wir haben sehr viel positives Feedback von allen Beteiligten bekommen. Kurz nach der Veranstaltung haben wir die Schülerinnen und Schüler nach ihren Eindrücken befragt. Dabei kam heraus, dass die jungen Leute das Speed-Dating mit einem positiven Gefühl verlassen haben. Auch die Unternehmen haben uns gespiegelt, dass es eine gelungene Veranstaltung war. Die Jugendlichen waren aus Sicht der Firmen sehr gut vorbereitet. Einige der Unternehmen planen jetzt – auch als Reaktion auf das Job-Speed-Dating – noch mehr Perspektiven in ihren Betrieben für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung zu schaffen. Das freut uns natürlich sehr und wir können uns deshalb auch gut vorstellen, das Konzept auf weitere Regionen in Westfalen-Lippe auszuweiten.


Über unsere Interviewpartner:innen





Was genau ist das „Budget für Arbeit“?

Herr Wedershoven, wie würden Sie einem Außenstehenden in wenigen Sätzen das Budget für Arbeit erklären, das Anfang 2018 im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes in ganz Deutschland eingeführt wurde?

Das Budget für Arbeit ist kein „Budget“ im eigentlichen Sinne, sondern eine Sammlung verschiedener Geldleistungen und Förderangebote. Diese sind dazu da, Menschen mit (schweren) Behinderungen dabei zu unterstützen, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, die aktuell noch in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) arbeiten oder kurz davor sind, zum Beispiel aus der Förderschule dorthin zu wechseln. Darüber hinaus können sich Menschen mit Behinderung und deren Arbeitgeber von Fachleuten der örtlichen Inklusionsfachdienste (IFD) begleiten lassen, damit die Zusammenarbeit für beide Seiten von Anfang an optimal gestaltet werden kann. Die Förderangebote richten sich aber nicht nur an Arbeitssuchende mit Behinderung selbst, sondern auch an Betriebe, die gern Menschen mit Behinderung einstellen möchten.

Was haben die Arbeitgeber davon?

Wenn sie neue Arbeitsplätze für Menschen mit Handicap schaffen, haben sie meist einen höheren Betreuungsaufwand und mehr Kosten, weil die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderung oft etwas langsamer arbeiten oder mehr Pausen einlegen müssen. Dafür bekommen die Unternehmen aber dann einen finanziellen Ausgleich über das Budget für Arbeit, den so genannten Nachteilsausgleich.

Wie ist dieses Programm entstanden – und wie verändert es das (Arbeits-)Leben von Menschen mit Behinderung?

In Nordrhein-Westfalen gibt es das Budget für Arbeit schon seit fast zehn Jahren – es hieß nur lange Zeit anders beziehungsweise war etwas anders aufgestellt. In Westfalen wird es vom LWL organisiert und finanziert, im Rheinland ist der Landschaftsverband Rheinland (LVR) zuständig. Angefangen hat in Westfalen alles mit den Programmen „aktion5“ und „Übergang plus“. Damit wurden zum Beispiel Schülerinnen und Schüler schon vor dem Schulabschluss mit einem so genannten „Vorbereitungsbudget“ für den späteren Berufsalltag in einem regulären Betrieb unterstützt. Auch Menschen, die schon einen solchen Job oder eine Ausbildung angefangen hatten, konnten mit „aktion5“ bestimmte Leistungen nutzen, die sie im Arbeitsalltag unterstützt haben – zum Beispiel Computerkurse. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) wurden zusätzlich mit dem Programm „Übergang plus“ dabei unterstützt, auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu wechseln.

Bekamen auch die Arbeitgeber in diesen beiden Modellen Unterstützung?

Ja, für sie gab es in beiden Programmen unter anderem Prämien, wenn sie einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz für einen Menschen mit schwerer Behinderung in ihrem Betrieb geschaffen hatten, und natürlich auch Lohnkostenzuschüsse. Mit „aktion5“ wurden so zwischen 2008 und 2017 insgesamt rund 8.500 Menschen oder Betriebe gefördert, mit „Übergang plus“ schafften rund 850 Menschen den Sprung aus der Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt.

Hat sich seit Anfang 2018 etwas verändert, als dieses Konzept unter dem Namen „Budget für Arbeit“ in ganz Deutschland eingeführt wurde?

Die Struktur wurde etwas verändert, ja. Aus zwei Programmen mit mehreren Modulen wurde ein Programm mit vier Modulen. Insgesamt ist der Ansatz aber gleich geblieben. Wir gehen fest davon aus, dass mit dieser Ausweitung des Programms auf ganz Deutschland noch viel mehr Menschen die Chance bekommen werden, aus der Schule oder aus Werkstätten in ein reguläres Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnis zu wechseln – also einen tariflich bezahlten, unbefristeten Arbeitsplatz zu finden, mit dem sie ihren Lebensunterhalt eigenständig finanzieren können.

Für wen ist dieses neue „Budget für Arbeit“ gedacht und wer kann es beantragen?

Das Programm richtet sich an Schülerinnen und Schüler aus Förderschulen, die kurz vor dem Abschluss stehen, aber auch an Menschen, die sich aktuell noch in psychiatrischen Einrichtungen befinden und wieder in den Arbeitsmarkt einsteigen möchten. Eine wichtige Zielgruppe sind auch Personen, die in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) arbeiten und wechseln wollen. Wir wollen also vor allem Arbeitsuchende erreichen, die vor der Entscheidung stehen, ob sie in einer Werkstatt anfangen beziehungsweise weiterarbeiten möchten oder ihren Weg auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt machen wollen. Wir begleiten auf diese Weise viele Menschen mit Behinderung sehr frühzeitig auf ihrer beruflichen Laufbahn, zeigen Chancen auf und helfen, die Weichen zu stellen. Das Ziel ist immer, sie auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln – das ist unsere wichtigste Botschaft und auch der Kern des Programms.

Wo sehen Sie Schwierigkeiten? Hören Sie auch kritische Stimmen von Menschen mit Behinderung, die das Budget für Arbeit nutzen?

Insgesamt kommen die Förderangebote sehr gut an, weil sie einfach viele tolle Chancen eröffnen und wir schon sehr viel damit erreicht haben. Aber sie greifen stellenweise leider immer noch zu kurz. Viele Menschen, die Leistungen aus dem Budget für Arbeit beantragt haben, finden sie zu gering. Manche Angebote wiederum können nur Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung nutzen, obwohl sie vielleicht auch für Menschen mit geringeren Behinderungen sinnvoll wären. Über das Budget für Arbeit werden leider auch keine schulischen Ausbildungen gefördert, was ebenfalls ein Manko ist. Und bei Werkstattwechslerinnen und -wechslern kann es vereinzelt vorkommen, dass ihre Rente geringer ausfällt, wenn sie auf einem regulären Arbeitsplatz ihr Geld verdienen, als wenn sie in der Werkstatt bleiben würden.

Können Sie als großer Träger von Sozialhilfeleistungen diese Probleme selbst angehen?

Nur zum Teil, weil die Zusammenhänge komplex sind: Oft sind uns durch die aktuelle Gesetzgebung die Hände gebunden, manchmal dürfen wir nur aus bestimmten Töpfen Geld schöpfen und kommen damit einfach nicht hin. Aber wie gesagt: Insgesamt ist das Budget für Arbeit ein sehr gutes Konzept, weil es das erreicht, was es soll: Möglichst viele Menschen mit Behinderung auf unbefristete Arbeitsplätze vermitteln und sie dauerhaft dort halten.

Nun gibt es seit 2008 auch noch das so genannte „Persönliche Budget“, das wieder häufiger Thema in den Medien war, seit das Bundesteilhabegesetz in Kraft getreten ist. Wo liegt der Unterschied zum Budget für Arbeit?

Grob erklärt ist das Persönliche Budget ein monatlicher Geldbetrag, der vom Staat allen Menschen mit einer anerkannten Behinderung zur Verfügung gestellt wird, wenn diese einen Anspruch auf eine Leistung der Eingliederungshilfe haben. Sie können damit dann bestimmte Leistungen bezahlen, zum Beispiel eine Einkaufshilfe oder einen Sprachcomputer – je nachdem, was gebraucht und gewünscht ist. Das Budget für Arbeit dagegen ist ein gezieltes Förderprogramm, mit dem Menschen mit schweren Behinderungen durch verschiedene Leistungen Chancen eröffnet werden sollen, aus einer Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu wechseln. Beide Budgets haben aber im Grunde das gleiche Ziel: Menschen mit Behinderung sollen selbst bestimmen können, wie sie ihr Leben gestalten möchten, und sie sollen sich dieses Leben auch selbst finanzieren können. Das geht aus unserer Sicht nur mit einem richtigen Job und einem vernünftigen Einkommen.