„Eine vermeintliche Einschränkung kann eine Bereicherung für alle sein“

Frau Roye, die Initiative Discovering Hands ist noch vergleichsweise jung, viele Frauen kennen die Tastuntersuchung durch eine Medizinisch-Taktile Untersucherin wie Sie noch nicht. Wie läuft so ein Termin bei Ihnen ab?

Für eine gründliche Tastuntersuchung nehme ich mir – abhängig von der Größe der Brust – 30 bis 50 Minuten Zeit. Ich beginne immer mit einer Anamnese, also einem Vorgespräch mit der Patientin. Das ist sehr wichtig, um mir einen Überblick über mögliche Risikofaktoren zu verschaffen. Ich frage die Patientin beispielsweise, ob sie sich einer längeren Hormontherapie unterzogen hat, ob Familienangehörige Brustkrebs haben oder hatten oder ob sie selbst schon einmal erkrankt war.
Während sie sitzt, führe ich schon eine erste Untersuchung durch, taste die Brust ab und untersuche die Lymphbahnen in den Achseln, am Schlüsselbein und am Hals. Anschließend legt sich die Patientin hin. Ich klebe dann fünf Spezialklebestreifen auf ihren Oberkörper, die eine Art Raster bilden. Daran orientiere ich mich bei der Untersuchung und kann die Brust damit zentimetergenau, in ganzer Breite und in allen Gewebetiefen abtasten.

Wie geht es danach weiter?

Ich arbeite in meinem Beruf sehr eng mit den Gynäkologinnen und Gynäkologen der jeweiligen Praxen zusammen und dokumentiere für sie meinen Befund ganz genau. Die Ärztinnen und Ärzte besprechen das Ergebnis dann mit der Patientin.
Wenn ich eine Veränderung oder einen Knoten im Drüsengewebe ertastet habe, teile ich das der Patientin schon während der Untersuchung behutsam mit. Wichtig ist aber, dass natürlich nicht jede Veränderung sofort bedeutet, dass sie an Brustkrebs erkrankt ist. Es gibt auch viele harmlose Befunde. Um das abzuklären, übernimmt der behandelnde Arzt oder die Ärztin die weitere Diagnostik und führt zum Beispiel eine Ultraschalluntersuchung der Brust durch. Wenn die Gewebeveränderungen dann immer noch unklar sind, werden der Patientin Gewebeproben entnommen.
Übrigens sprechen wir immer automatisch von „der Patientin“ – dabei können auch Männer an Brustkrebs erkranken. Sie dürfen die spezielle Früherkennungsuntersuchung durch eine MTU ebenfalls in Anspruch nehmen, denn unter den rund 70.000 neuerkrankten Menschen in Deutschland sind zwar nur ein Prozent Männer, aber bei ihnen wird ein Tumor in der Brust oft erst sehr spät entdeckt.

Wie haben Sie sich während der Ausbildung auf Ihren Berufsalltag vorbereitet? Sie mussten diese Untersuchungen ja bestimmt auch praktisch üben.

Ja, praktischer Unterricht gehörte natürlich auch dazu. Unsere Ausbilderin hat uns in den Übungen unter anderem gezeigt, wo und wie wir die Orientierungsstreifen anbringen und wie genau wir die Untersuchung durchführen müssen. Wir Kursteilnehmerinnen haben uns dafür im Unterricht gegenseitig untersucht, außerdem hatten wir Testpatientinnen, die sich zu Lernzwecken für die Untersuchung zur Verfügung gestellt haben.
Ein ebenso wichtiger Teil der Ausbildung ist natürlich auch das medizinische Fachwissen, das im theoretischen Unterricht vermittelt wird. Ich kenne beispielsweise die Anatomie der weiblichen Brust sehr genau, genauso wie die gut- und bösartigen Erkrankungen, die in diesem Gewebe auftreten können. Die medizinische Ausbildung dauert insgesamt neun Monate, danach absolviert jede MTU ein dreimonatiges Praktikum in einer gynäkologischen Praxis oder Klinik, um erste Erfahrungen zu sammeln.

Was ist für Ihren Beruf – außer eines ausgeprägten Tastsinns – noch wichtig?

Großes Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit, ruhig und gut mit Menschen zu kommunizieren. Viele Patientinnen sind vor der Untersuchung aufgeregt und hoffen natürlich darauf, dass ich nichts finde und Entwarnung geben kann. Manche haben richtig Angst und brechen in Tränen aus. Ihnen muss ich dann ganz besonders zur Seite stehen. Aber auch für diejenigen, die sich keine so großen Sorgen machen, ist das eine sehr intime und oft ungewohnte Situation. Als MTU muss ich eine vertrauensvolle Atmosphäre schaffen, damit jede Patientin und jeder Patient sich nicht nur fachlich, sondern auch zwischenmenschlich gut aufgehoben fühlt.

Was mögen Sie besonders an Ihrer Arbeit?

Ich gehe gern mit Menschen um und freue mich, wenn ich ihnen helfen kann. In diesem Beruf kann ich die Arbeit von Ärztinnen und Ärzten sinnvoll ergänzen, indem ich meinen ausgeprägten Tastsinn einsetze. Das ist schon toll, weil ich so einen wichtigen Beitrag zur Krebsprävention leisten kann. Die Mediziner schätzen das sehr, und auch von den Patientinnen und Patienten bekomme ich viele positive Rückmeldungen. Ich freue mich einfach, die Dankbarkeit dafür mitzuerleben, dass es meinen Beruf gibt und ich damit etwas Gutes leisten kann.

Hat sich durch Ihre Arbeit als MTU ihre Einstellung dazu verändert, blind zu sein?

Ich finde, dass jeder Mensch auf seine Stärken setzen sollte. Eine vermeintliche Einschränkung wie meine Sehbehinderung kann eine Bereicherung für alle sein. Mein Beruf ist ein ganz besonders schönes Beispiel dafür und hat mich so immer mehr in meiner Haltung bestärkt. Ich pflege mit meinen Kolleginnen und Kollegen, egal, ob sehend oder blind, einen lockeren und tollen Umgang auf Augenhöhe. So sollte es ja eigentlich auch in allen Bereichen des Lebens sein: Man sollte eine Einschränkung gar nicht erst zu einer Behinderung machen oder werden lassen.




„Ich sehe mich als gleichwertig mit meinen Kollegen, wir unterstützen uns gegenseitig“

Herr Weinmann, viele Menschen können sich nicht vorstellen, wie Sie mit einer so starken Sehbehinderung im Berufsalltag zurechtkommen. Wie machen Sie das genau?

Da ich nicht blind bin, kann ich mir mit meiner Restsehkraft in vielen Situationen gut allein weiterhelfen. Und wenn es doch mal schwieriger wird, kann ich ganz auf die Unterstützung meiner sehr hilfsbereiten Kollegen zählen. Die stehen mir immer zur Seite, damit habe ich bisher also wirklich keine negativen Erfahrungen gemacht. Als Hilfsmittel nutze ich Taschenlupen und für die Arbeit am Computer stellt mir mein Arbeitgeber einen speziellen PC mit einem Lupenprogramm zur Verfügung. Das geht also alles ziemlich gut.

Es heißt, dass blinde oder fast blinde Menschen – also auch Sie – einen besonders ausgeprägten Tastsinn haben. Stimmt das oder ist das ein Klischee?

Ich glaube nicht, dass das ein Klischee ist. Wenn eine Sinneswahrnehmung ausfällt, kann der Körper dieses Defizit ja bekanntlich mit anderen Funktionen kompensieren. Nehmen Sie das Beispiel der Blindenschrift: Wenn ein Sehender versucht, die einzelnen Punkte der Schrift zu ertasten, ist das für ihn sehr schwer und dauert sehr lange. Schaut man dagegen einem blinden Menschen beim Lesen der Schrift zu, kann man nur staunen, mit welcher Geschwindigkeit er einen Text bewältigt und versteht. Das ist bei mir nicht anders, Tasten ist auf jeden Fall meine Stärke.

Setzen Sie das auch in Ihrem Beruf ein?

Ja, natürlich! Als Physiotherapeut muss ich ja mit den Händen und Fingern Veränderungen im Gewebe erspüren. Da sehe ich mich durch meinen ausgeprägteren Tastsinn im Vorteil gegenüber Kollegen, die keine Sehbehinderung haben. Das haben die mir auch schon oft bestätigt.

Sie konkurrieren also mit Ihren Kollegen ohne Sehbehinderung?

Nein, in meinem Beruf im Krankenhaus nicht direkt. Ich sehe mich als gleichwertig mit meinen Kollegen, wir unterstützen uns gegenseitig. Wo ich besser tasten kann, können sie besser sehen und damit andere Anforderungen des Berufs einfacher bewältigen – und mich wiederum dabei unterstützen. Das ist ein sehr harmonisches Miteinander.

Ihre Sehbehinderung bringt in Ihrem Beruf also sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich. Wie äußert sich das im Alltag?

Zum Beispiel an meinem Einsatzgebiet im Krankenhaus. Das ist aktuell auf eine Station reduziert, weil mir in anderen Gebäudeteilen die Orientierung schwerfällt und diese dort erst noch trainieren muss. Ein großer Vorteil ist wiederum, dass mir wegen meiner Behinderung finanzielle Förderungen des für meinen Wohnort zuständigen Inklusionsamtes zustehen. Dadurch konnte ich schon einige Fortbildungen besuchen, die sonst viel Geld kosten und eher schwer zu finanzieren sind. Diese Möglichkeit haben viele Kollegen so nicht.

Auf der RehaCare-Messe im Jahr 2010 haben Sie unter anderem eine Massage-Station aufgestellt und den vorbeilaufenden Besucherinnen und Besuchern Nackenmassagen angeboten. Abgesehen davon, dass Sie damit eine Kostprobe Ihrer beruflichen Fähigkeiten gegeben haben: Welche Botschaft wollten Sie mit dieser Aktion vermitteln?

Ich wollte allen Besuchern der Messe zeigen, dass ein Mensch mit Behinderung ein genauso leistungsfähiger Mitarbeiter oder Kollege sein kann wie jemand ohne Handicap, wenn nur die Voraussetzungen stimmen. Und ich wollte anderen Menschen mit Behinderung Mut machen, ihren beruflichen Weg zu gehen und sich nicht von ihrer Behinderung davon abhalten zu lassen. Dafür habe ich auch gutes Feedback bekommen. Neben der Massagestation habe ich auf einer der Messe-Bühnen zusammen mit den Besucherinnen und Besuchern ein kleines Übungsprogramm für den Rücken durchgeführt – auch das kam sehr gut bei den Teilnehmern an. Viele hätten mir das vorher nicht zugetraut.

Sie sind jetzt im September auf einer weiteren Veranstaltung mit dabei, der Fachmesse ZukunftPersonal dabei. Was dürfen die Besucherinnen und Besucher dieses Mal von Ihnen erwarten – und was erhoffen Sie selbst sich von der Messe?

Ich habe dort wieder meinen Stand mit der Massagestation, da muss ich den Vorgaben folgen. So komme ich aber auch am allerbesten mit Besucherinnen und Besuchern ins Gespräch. Das ist einer der Hauptgründe, warum ich das mache: Ich möchte mit den Leuten über das Thema Inklusion und Menschen mit Behinderung reden und dabei aus der Sicht eines Betroffenen sprechen – auch, um Vorurteile auszuräumen.