Ein Pilotprojekt für Autor:innen mit Lernschwierigkeiten: die „Literatur-Bootschaft“ des Vereins ‚Ohrenschmaus‘

Toni, warum haben Sie sich für die „Literatur-Bootschaft“ beworben?

Toni: Ich drücke mich gerne mit Worten aus und habe schon als Jugendlicher angefangen, zu schreiben. Im Deutschunterricht in der Schule haben wir uns aber eher mit Grammatik als mit Geschichten beschäftigt. Ich habe mich zwar damals und auch als Erwachsener in meiner Freizeit an meine Texte gesetzt, aber leider immer wieder den Faden verloren. Durch das Projekt habe ich jetzt die Unterstützung, die mir vorher gefehlt hat. Wir sind alle hier, um zu schreiben, und sprechen viel über unsere Texte. Das hilft sehr. Ich habe in den ersten Wochen schon zwei Kurzgeschichten fertig geschrieben.

In welchem Beruf haben Sie bisher gearbeitet?

Toni: Ich bin gelernter Einzelhandelskaufmann, konnte irgendwann aber aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in dem Beruf arbeiten. Ein paar Jahre lang habe ich Gelegenheitsjobs angenommen. Im vergangenen Winter habe ich dann eine Stelle als Rezeptionist in einem Hotel bekommen. Das hat mir Spaß gemacht, allerdings bin ich mit der 45-Stunden-Woche nicht so gut zurechtgekommen.

Wie sieht Ihr Tagesablauf in der „Literatur-Bootschaft“ aus?

Toni: Die beiden anderen Autor:innen, unsere Mentorinnen und ich treffen uns morgens auf dem Badeschiff am Donaukanal (Anm.: ein Veranstaltungsort mit Schwimmbad und Gastronomie, der von einem inklusiven Team betrieben wird). Unsere Mentorinnen stellen uns jeden Tag eine neue Gedicht- oder Textart vor und erklären, welche Regeln wir beim Schreiben beachten müssen. Wir probieren dann selbst aus, tragen unsere Entwürfe vor, besprechen sie mit den anderen und arbeiten anschließend daran weiter. Es ist eine Art interaktiver Unterricht.

Frau Figl, Sie leiten die „Literatur-Bootschaft“ und begleiten die Autor:innen als Mentorin, blicken also von der anderen Seite auf das Projekt. Wie unterstützen Sie die Teilnehmer:innen über den Unterricht hinaus?

Figl: Meine Kolleginnen und ich helfen den Schreibenden zum Beispiel dabei, ihren Arbeitsalltag zu organisieren. Es ist für die meisten ja sehr ungewohnt, so vieles selbst zu gestalten. Wir machen deshalb gemeinsam mit ihnen Wochenpläne, tragen am Ende der Woche die Arbeitsstunden ein und unterstützen sie dabei, Texte und andere Dateien nach einem sinnvollen System abzuspeichern. Wir sind drei Mentorinnen, jede von uns betreut bestimmte Unterrichtsmodule und begleitet jeweils eine Person im Projekt. In diesen Tandems besprechen wir einmal pro Woche, welche Ziele wir erreichen möchten und wie wir Mentorinnen dabei unterstützen können. Das Ganze ist im Moment noch relativ schulisch, das wird sich aber im Laufe der Zeit sicher verändern.

Die Teilnehmer:innen der „Literatur-Bootschaft“ sind im Verein für eineinhalb Jahre fest angestellt. Wie werden sie bezahlt?

Figl: Die Autor:innen arbeiten 20 Stunden pro Woche, das Gehalt richtet sich nach dem Fair Pay Schema für eine Assistenz im Kulturbereich.

Wie viele Autor:innen haben sich für das Projekt beworben?

Figl: Nach unserem ersten Aufruf war der Rücklauf erst einmal zögerlich. Wir haben nur vier Bewerbungen bekommen. Das hat uns selbst etwas überrascht, weil der Verein „Ohrenschmaus“ ja sehr etabliert und als einzige Anlaufstelle für Autor:innen mit Lernschwierigkeiten bekannt ist. Ein Grund könnte sein, dass manche Autor:innen, die wir schon von anderen „Ohrenschmaus“-Projekten kennen, in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeiten. Für die „Literatur-Bootschaft“ hätten sie die Werkstatt zumindest vorübergehend verlassen müssen – da gab es viele Unsicherheiten und Fragen. Wir haben versucht, viele davon zu beantworten, und noch einmal für das Projekt geworben. Am Ende konnten wir zehn Bewerbungen an unsere Jury weitergeben, zu der unter anderem Autorinnen und eine Journalistin gehören.

Nach welchen Kriterien hat die Jury die Teilnehmenden ausgewählt?

Figl: Es ist natürlich sehr schwierig, kreative Arbeit zu beurteilen und zu vergleichen. Die Expert:innen in der Jury haben Kriterien wie Fantasie, Textaufbau und den sprachlichen Ausdruck diskutiert. Ein Thema war außerdem, ob und wie stark wir die Konstellation der Projektgruppe mitbedenken wollen. Eine reine Männergruppe fänden wir zum Beispiel eher unglücklich. Jede Person in der Jury hat vor dem Hintergrund dieser Überlegungen drei Bewerbungstexte ausgesucht, in denen sie Potenzial gesehen hat. Dadurch sind vier Bewerber:innen in die engere Auswahl gekommen, die wir zum Gespräch eingeladen haben. Im Organisationsteam überlegen und besprechen wir nun erneut, wie wir das Auswahlverfahren in der nächsten Runde gestalten wollen. Das ist ein ständiger Lernprozess.

Der erste Projektzeitraum endet im Herbst 2024. Was möchten Sie bis dahin erreichen?

Figl: Wir haben das Projekt in drei Abschnitte von je einem halben Jahr aufgeteilt. Der erste hat im Mai begonnen. In dieser Phase ging es erst einmal darum, beim Schreiben Neues kennenzulernen und sich auszuprobieren. Im zweiten Abschnitt werden wir dieses Wissen und die neuen Fähigkeiten vertiefen. Im dritten Block schauen wir dann schon auf die Zeit nach dem Projekt: Welchen Berufsweg können sich die Teilnehmenden vorstellen? Was möchten sie gerne praktisch ausprobieren? Es gibt ja sehr viele Möglichkeiten für Autor:innen und Texter:innen. Sie könnten sich auf Praktikumsplätze bewerben oder auf Stellen in der Öffentlichkeitsarbeit bei Unternehmen. Oder sie schreiben Ausstellungstexte in einfacher Sprache für Museen. Vielleicht möchte jemand auch gerne Veranstaltungen moderieren oder im Kulturbereich Führungen anbieten. Wir helfen unseren Autor:innen bei der Orientierung und natürlich auch bei den Bewerbungen. Und wir hoffen, dass wir durch unser Projekt Autor:innen mit Lernschwierigkeiten im Laufe der Zeit sichtbarer machen und ihnen neue Türen öffnen.

Toni, noch einmal Ihre Sicht als Autor im Projekt: Was ist Ihr persönliches Ziel für die Zeit nach der „Literatur-Bootschaft“?

Toni: Mein Traum ist es, Drehbuchautor zu werden und auf diesem Weg Themen in die Welt zu bringen, die mir wichtig sind. Ich finde, die Gesellschaft wird immer introvertierter. Viele Menschen glauben, dass sie niemanden brauchen. Sie sind mit sich selbst zufrieden. Meiner Meinung nach stecken Enttäuschungen hinter dieser Haltung. Aber wenn man sich davor versteckt, zieht man sich ja auch von den positiven Dingen zurück. Deshalb sollte man besser lernen, mit Enttäuschungen umzugehen.

Warum möchten Sie Ihre Themen gern in Filmen und nicht mit Texten zeigen?

Toni: Filme haben eine große Reichweite und sprechen viele Menschen direkter an als Bücher. Außerdem schreiben Drehbuchautor:innen ja nicht allein und für sich, sondern arbeiten mit anderen Filmleuten zusammen. Das gefällt mir. —


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Tipps für mehr Barrierefreiheit und Inklusion, Teil 1: Ein kostenloser Online-Kurs für Einfache Sprache

Einfache Sprache ist vor allem für Menschen gedacht, die Lernschwierigkeiten oder eine Lese-Rechtschreib-Schwäche haben oder die noch nicht so gut Deutsch sprechen. Zu diesen Zielgruppen gehören in Deutschland mindestens zehn Millionen Menschen. Gut verständliche Texte helfen aber natürlich allen Leser:innen. Anders als für die Leichte Sprache (die Unterschiede erklären wir hier genauer) gibt es für die Einfache Sprache kein festes Regelwerk, sondern nur Empfehlungen. Diese helfen dabei, einen Text gut aufzubauen und so zu formulieren, dass möglichst viele Menschen ihn problemlos lesen und verstehen können.

Der Selbstlernkurs „Einfache Sprache“ der Aktion Mensch erklärt diese Empfehlungen in kurzen Videos und auf übersichtlichen Info-Folien mit vielen Beispielen. Außerdem gibt es zwischendurch kleine Übungen. Den wichtigsten Tipp gibt Kursleiterin Conny Lopez am Schluss: Einfach anfangen und keine Angst haben, etwas falsch zu machen!




Eine Anlaufstelle für alle Fragen: Die Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) für Menschen mit Behinderung

Frau Wagner, Frau Donat, wer kann sich an Ihre Beratungsstelle wenden und bei welchen Fragen können Sie helfen?

Wagner: Das Prinzip jeder EUTB ist ‚Eine für alle‘. Menschen mit Behinderung, ihre Angehörigen und Menschen, die ein erhöhtes Risiko für eine Behinderung haben – sie alle können mit sämtlichen Anliegen zu uns kommen. Am häufigsten beantworten wir Fragen zum Schwerbehindertenausweis, zur Inklusionsassistenz in der Schule, zu Wohnangeboten und zur Pflege. Wenn jemand wegen einer Erkrankung seinen Beruf nicht mehr ausüben kann oder Hilfsmittel beantragen möchte, um weiterarbeiten zu können, helfen wir auch gerne weiter.

Donat: Ich bin Peer-Beraterin für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Das heißt, ich bin selbst betroffen und berate auf der Grundlage meiner eigenen Erfahrungen. Ich helfe Menschen zum Beispiel dabei, nach einem Klinikaufenthalt den Übergang in ihren Alltag zu Hause gut zu gestalten und die Wartezeit bis zu einer ambulanten Therapie zu überbrücken. Oft erkläre ich ihnen dazu erst einmal die Hilfs- und Unterstützungsangebote im psychiatrischen Versorgungssystem, die viele Menschen ja gar nicht kennen. Wenn jemand längere Zeit krankgeschrieben war, muss außerdem geklärt werden, wie die Wiedereingliederung am Arbeitsplatz gelingen kann.

Wie lange begleiten Sie Ratsuchende?

Wagner: Solange es nötig ist. Manchmal übernehmen wir eher eine Lotsenfunktion, weil etwa der Integrationsfachdienst, das Inklusionsamt Arbeit oder die Reha-Abteilung der Arbeitsagentur konkreter beraten können. Auf Wunsch begleiten wir Menschen dann aber weiter und ergänzen die Arbeit der spezialisierten Anlaufstellen. Von einer Behinderung oder Erkrankung ist ja selten nur ein Lebensbereich betroffen. Wir haben einen Blick auf das Gesamtbild und können mit jeder Person immer wieder überlegen, wo sie noch Unterstützung und Infos braucht. Oft tauchen ja auch nach längerer Zeit wieder neue Fragen auf, wenn jemand in eine neue Lebensphase tritt.

Donat: Manchmal arbeiten wir auch sehr kleinschrittig. Wir unterstützen zum Beispiel erst einmal dabei, in einem einzelnen Lebensbereich Struktur zu schaffen, zum Beispiel eine gute gesundheitliche Versorgung sicherzustellen. Dann kommt der Beruf dran, dann die Freizeit. Das alles braucht Zeit.

Wie genau sieht diese kleinschrittige Arbeit aus?

Donat: Am Anfang lassen wir die Menschen erst einmal erzählen, wo sie stehen, was passiert ist und welche Probleme sie haben. Dann legen wir mit ihnen gemeinsam fest, was das langfristige Ziel der Beratung ist und welchen ersten kleinen Schritt wir in Angriff nehmen wollen. Die Ratsuchenden sollen ja einen Überblick bekommen, aber nach Möglichkeit auch schnell selbst etwas tun können. Das ist sehr wichtig für das Selbstwertgefühl. Meistens verteilen wir deshalb kleine Hausaufgaben, die beide Seiten bis zum nächsten Treffen erledigen sollen. Das können zum Beispiel Papiere sein, die die ratsuchende Person zusammenstellen oder eventuell erst besorgen muss. Die Beraterin erstellt währenddessen vielleicht eine Liste mit möglichen Therapeut:innen oder fragt nach, wo Plätze für ambulant begleitetes Wohnen frei sind. Manchmal müssen wir auch Dolmetscher:innen für eine Fremdsprache oder die Deutsche Gebärdensprache engagieren und Kontakt zu anderen Anlaufstellen aufnehmen.

Wagner: Wie die Aufgabenverteilung genau aussieht, ist aber sehr individuell. Grundsätzlich arbeiten wir nach dem sogenannten Empowerment-Ansatz. Das bedeutet, wir möchten Menschen befähigen, selbst zu handeln. Wenn sich jemand nach einem Unfall oder in einer anderen Extremsituation aber erst einmal fangen muss, übernehmen die Beraterinnen zu Beginn vieles für die ratsuchende Person, geben ihr also nicht gleich eine lange Liste mit Aufgaben. Andersherum kommen Menschen manchmal schon mit sehr konkreten Vorstellungen und möchten gerne mehr Dinge selbst tun. Das besprechen wir jeweils im Einzelfall.

Bieten Sie immer auch eine Peer-Beratung an, also Gespräche mit Berater:innen, die selbst eine Behinderung oder Erkrankung haben?

Wagner: In unserem Team haben alle hauptamtlichen Mitarbeiter:innen entweder selbst eine Behinderung oder Angehörige mit Behinderung, bringen also persönliche Erfahrungen mit dem Thema mit. Wir organisieren es so, dass immer die Beraterin eine neue Anfrage übernimmt, die als erste einen Termin frei hat. Sie ist dann fest für die ratsuchende Person zuständig. Darüber hinaus haben wir ehrenamtliche Mitarbeiter:innen, die jeweils zu ihren eigenen Erfahrungen beraten. Ein Kollege wird zum Beispiel rund um die Uhr durch eine Assistenz unterstützt. Er kommt auf Wunsch von Ratsuchenden dazu, wenn dieses Thema bei ihnen auftaucht, und bringt als Peer-Berater sein Wissen ein. Genauso haben wir auch Berater:innen mit Seh- oder Hörbehinderung und mit Lernschwierigkeiten.

Frau Donat, Sie sagten bereits, dass Sie Peer-Beraterin für Menschen mit psychischen Erkrankungen sind. Welche Vorteile hat das für die Menschen, die zu Ihnen kommen?

Donat: Die Ratsuchenden merken es, wenn ihre Beraterin schon einmal in einer ähnlichen Situation war und daher genau weiß, wie es ihnen gerade geht. Sie fassen schneller Vertrauen und können auf einer anderen Ebene mit mir sprechen. Da ich als hauptamtliche Mitarbeiterin fest in unserer Beratungsstelle angestellt bin, ist die Peer-Beratung für psychisch Erkrankte aber nur ein Teil meiner Arbeit. Ich berate auch Menschen, die mit anderen Anliegen zu uns kommen, genau wie meine Kolleginnen. Bei Bedarf hole ich eine weitere Peer-Person dazu.

Warum haben Sie sich entschieden, als Peer-Beraterin zu arbeiten?

Donat: Ich habe in meinem früheren Beruf gearbeitet, bis ich durch ein schweres Trauma eine psychische Erkrankung bekam. Es hat mehrere Jahre gedauert, bis ich mich davon erholt hatte. Damals bin ich durch einen Zufall auf die „Qualifikation zur Genesungsbegleiterin“ gestoßen, eine zwölfmonatige Weiterbildung, die unter anderem in Bielefeld-Bethel angeboten wird. Menschen mit Psychiatrieerfahrung werden damit vorbereitet, andere Menschen mit psychischen Erkrankungen zu begleiten und zu unterstützen, also sozusagen als Bindeglied zwischen den Betroffenen und professionellen Helfer:innen aufzutreten. Nachdem ich diese Weiterbildung abgeschlossen hatte, bekam ich hier in Lippe einen Minijob als Peer-Beraterin. Das ist genau das Richtige für mich. Ich kann so wieder am Arbeitsleben teilnehmen und mit all dem, was ich erlebt habe, anderen Menschen helfen. Es ist so ein Glücksgefühl, wenn jemand in der Beratung Mut fasst und wieder lächelt!

Wieder an Sie beide: Können Sie von Beratungen mit solchen positiven Entwicklungen erzählen?

Wagner: Ich berate zurzeit viele Menschen mit Fluchthintergrund, die eine Behinderung oder Angehörige mit Behinderung haben. Diese Menschen sind gerade erst in unserer Region angekommen und wissen nicht, wo sie überhaupt Unterstützung bekommen können. Ich helfe ihnen dabei, die nötigen Anträge auszufüllen. Das ist für sie ein wichtiger Schritt zu gesellschaftlicher Teilhabe. Ich glaube, dass ich da viel bewirken kann.

Donat: Ich habe einmal eine Frau beraten, die selbst eine psychische Erkrankung hat und gleichzeitig auch als Angehörige betroffen ist. Ihr Mann war damals in einer psychiatrischen Klinik und verbrachte nur die Wochenenden zuhause. Kurz vor dem Ende seines Klinikaufenthalts hatte die Frau unglaubliche Angst davor, dass sie es zu Hause nicht schaffen würden. Wir haben in der Beratung herausgearbeitet, warum sie diese Sorgen hat, und dann auch ihren Ehemann mit ins Boot geholt. Später erzählten mir die beiden, dass diese Gespräche sehr viel Druck von ihnen genommen und Klarheit geschaffen haben. Als der Mann aus der Klinik entlassen wurde, hatten sie kaum Probleme, inzwischen arbeiten beide wieder. Darüber freue ich mich sehr. —


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„Eine der größten Hürden für Kreative mit Behinderung ist der fehlende Zugang zu künstlerischer Bildung“

Frau Müller-Giannetti, wie inklusiv ist die Kunst- und Kulturbranche schon?

In den letzten fünf Jahren ist viel in Bewegung gekommen. Die Branche hat ein starkes Bewusstsein dafür entwickelt, dass etwas passieren muss. Aber diese Veränderungen stehen noch am Anfang und viele Verantwortliche sind unsicher, wie Inklusion in der künstlerischen Arbeit aussehen kann und muss.

EUCREA will diese Lücke schließen und engagiert sich für mehr Vielfalt in der Kunst. Was bedeutet das genau?

Zum einen unterstützen wir Künstler:innen mit Behinderung dabei, ihre Ideen umzusetzen und neue Impulse einzubringen. Dazu organisieren wir regelmäßig inklusive Projekte wie das „Democratic Bootcamp“ im vergangenen Jahr, bei dem Künstler:innen mit und ohne Lernschwierigkeiten gemeinsam eine große Show entwickelt haben. Sowohl das Handlungskonzept als auch die Dramaturgie, die Ausstattung und am Ende die Umsetzung haben inklusive Teams gestaltet. Bei dem Projekt ging es um demokratische Strukturen im künstlerischen Bereich. Und – wie bei all unseren Projekten – darum, Künstler:innen mit Behinderung sichtbar und hörbar zu machen.
Neben solchen Produktionen beschäftigen wir uns bei EUCREA auch mit den Strukturen in der Branche. Wir versuchen, grundsätzliche Veränderungen anzustoßen.

Mit welchen Mitteln versuchen Sie, die Strukturen aufzubrechen?

Wir richten Fachtagungen aus und machen viel Öffentlichkeitsarbeit. Seit ein paar Jahren sind wir außerdem politischer geworden und mischen uns mit Positionspapieren in öffentliche Debatten ein. Die Branche muss sich verändern, die künstlerische Ausbildung und der Arbeitsmarkt müssen sich öffnen. Und das beginnt gerade.

Woran merken Sie, dass sich etwas bewegt?

Bei unserem Programm ARTplus arbeiten wir mit vielen verschiedenen Hochschulen zusammen, an denen Menschen mit Behinderung eine künstlerische Ausbildung absolvieren. Unser Ziel ist es, junge Kreative zu fördern, die später beruflich tanzen, schauspielern, Musik machen oder in der bildenden Kunst ihren Weg machen wollen. Gleichzeitig möchten wir herausfinden, was sich an den Akademien und Unis strukturell verändern muss, damit mehr Teilhabe möglich wird. Als wir das Programm vor ein paar Jahren geplant haben, mussten wir noch richtig „Klinken putzen“, um Hochschulen dafür zu gewinnen. Die Verantwortlichen fanden das Thema zwar schon irgendwie gut, aber es hatte für sie keine Priorität. Viele hatten einfach noch nicht auf dem Schirm, dass der Kulturbetrieb viel diverser werden muss. Inzwischen melden sich Hochschulen sogar von sich aus bei uns und wir haben auch große, öffentliche Unis dabei, was eine gute Außenwirkung hat und so andere nachzieht.

Welche Barrieren für Kreative mit Behinderung sehen Sie an den Hochschulen?

Eine der größten Hürden ist es, überhaupt Zugang zur künstlerischen Bildung zu bekommen. In der Regel können Bewerber:innen an den Hochschulen zwar jetzt schon eine Begabtenprüfung ablegen, um auch ohne Abitur einen Studienplatz zu bekommen. Für viele Menschen mit Behinderungen ist der Weg bis zu dieser Aufnahmeprüfung aber sehr weit. Sie trauen sie sich oft nicht zu oder verfügen nicht über die entsprechende Vorbildung, weil sie als Kinder und Jugendliche künstlerisch weniger gefördert wurden als Gleichaltrige ohne Behinderung. In einzelnen Künsten, zum Beispiel im darstellenden Bereich, sind Menschen mit physischen, sichtbaren Behinderungen für das Genre noch neu.

Neue Regeln für den Zugang zu künstlerischen Studiengängen reichen also nicht aus?

Ich würde viel früher ansetzen. Viele junge Menschen mit Behinderung sind schon seit mehreren Jahren nicht mehr zur Schule gegangen, wenn sie 18 oder 19 Jahre alt sind, also zu dem Zeitpunkt, an dem sie sich eigentlich an einer Hochschule bewerben müssten. Stattdessen haben sie einen anderen Weg eingeschlagen, waren zum Beispiel in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Es ist dann eine riesige Hürde für sie, wieder ins Bildungssystem einzusteigen. Und wenn es ihnen gelingt, starten sie trotzdem unter schlechteren Voraussetzungen als diejenigen, die das Abitur oder die Fachhochschulreife haben.

Haben Sie einen Vorschlag, wie der Zugang barriereärmer gestaltet werden könnte?

Das deutsche Schulsystem ist sehr stark darauf ausgerichtet, dass bestimmte Abschlüsse erreicht werden müssen. Ich würde mir wünschen, dass es sich davon etwas löst und es künftig stattdessen darum geht, jungen Menschen so lange wie möglich den Zugang zu Bildung offenzuhalten.

Das Schulsystem wird sich aber sicher nicht so bald ändern.

Nein, und genau hier setzen wir mit ARTplus an. Wir möchten diese Lücke gemeinsam mit den Hochschulen schließen. Die Unis können Kurse anbieten, mit denen sich junge Menschen auf die Aufnahmeprüfung und das Studium vorbereiten können. Diese Kurse vermitteln künstlerische Bildung, aber auch, wie Studieren funktioniert.

Könnte das auch anderen Menschen helfen? Zum Beispiel solchen, die nicht aus Akademikerfamilien stammen und deshalb weniger über darüber wissen, wie die Abläufe in höheren Bildungseinrichtungen sind?

Ganz sicher, das wäre für viele ein Gewinn. Für mich ist genau das der Grundgedanke von Inklusion: Dass wir gesellschaftliches Potenzial nicht dadurch verschenken, dass wir Menschen von vornherein ausschließen.

Bei ARTplus geht es auch darum, wie das Studium als solches inklusiver werden könnte. Welche Antworten haben Sie auf diese Frage schon gefunden?

Neben barrierefreier Infrastruktur geht es um die Willkommenskultur der Hochschulen und den Zugang zur Aufnahmeprüfung. Darüber hinaus müssen die Hochschulen hinsichtlich Leistungsnachweisen und Prüfungen neue Formen des Nachteilsausgleichs entwickeln. Inklusive Lehrformate, die für mehr Menschen zugänglich sind, sind ein weiteres Thema. Und manche Studierende mit Behinderung brauchen einen barrierearmen Zugang zu staatlich finanzierten Assistenzleistungen.

Das klingt nach viel Arbeit.

Ja, vor allem anfangs müssen wir Zeit investieren und uns viele Gedanken machen. Aber ich bin überzeugt davon, dass es nach dieser Startphase, in der viel umgestellt und eine Infrastruktur entwickelt werden muss, im weiteren Betrieb ohne zusätzlichen Aufwand laufen kann. Und ich glaube, dass wir mit ARTplus viel erarbeiten können, was sich später auch auf andere Fachbereiche übertragen lässt. In der Kunst gibt es viele Möglichkeiten, Dinge auszuprobieren, und die meisten Dozent:innen und Studierenden sind offen für Neues. Wir können zeigen, was alles möglich ist.

Wie geht es für die jungen Künstler:innen nach dem Studium weiter?

Wir von EUCREA bemühen uns darum, Türen für mehr Inklusion zu öffnen. Viele Verantwortliche in Kulturbetrieben sind aber auch schon von sich aus interessiert und brauchen eher praktische Unterstützung. Ein Thema ist zum Beispiel die Auffindbarkeit. Manche Filmschaffende möchten gerne Schauspieler:innen mit Behinderung engagieren, haben aber noch gar keine passenden Kontakte. Wir haben deshalb mit dem internationalen Portal „Filmmakers“ zusammengearbeitet, in dem Darsteller:innen sich mit einem Foto und ihrem Profil präsentieren können. Die Betreiber:innen haben auf unseren Vorschlag hin die Funktion ergänzt, mit der auch eine Behinderung angegeben werden kann, die dann in der Suche auftaucht beziehungsweise nach der Filmproduzent:innen und Castingagenturen filtern können. Die Nachfrage ist ja da – und solche kleinen Stellschrauben können helfen, Chancen zu eröffnen.






Hör-Tipp zu den Special Olympics in Berlin: Eine inklusive Radiosendung in Einfacher Sprache

Die Sendung ist im vergangenen Sommer bei den deutschen Special Olympics entstanden. Damals bereiteten sich die Sportler:innen aus Deutschland auf den internationalen Wettkampf in diesem Jahr vor. Bei der nationalen Veranstaltung 2022 lernten sich die Radioreporter Lorenz Schröter und Nikolai Prodöhl kennen und beschlossen, eine gemeinsame Sendung zu produzieren. Sie sprechen darin mit verschiedenen Athlet:innen darüber, warum sie ihre Sportart und den Wettkampf mögen und was der Sport mit Freiheit und Selbstbewusstsein zu tun hat. Außerdem kommen Ärzt:innen zu Wort, die die Sportler:innen während des Wettbewerbs untersuchen. Das ist ein wichtiger Bestandteil der Special Olympics, denn viele Menschen mit Lernschwierigkeiten erfahren erst bei dieser Sportuntersuchung, dass sie zum Beispiel eine Brille brauchen oder eine Hörbehinderung haben.

Die Hörer:innen erfahren in der Sendung nicht nur viel über die Special Olympics, sondern auch darüber, wie inklusiver Journalismus funktioniert. Zwischen den Interviews und Eindrücken vom Wettkampfgelände sind die beiden Reporter zu hören, die im Studio an der Sendung arbeiten. Lorenz Schröter liest zum Beispiel Texte vor, die er in Einfacher Sprache für den Radiobeitrag geschrieben hat. Nikolai Prodöhl, der selbst eine Behinderung hat, prüft, ob die Texte gut zu verstehen sind. Und er erklärt, wann in der Radiosendung Musik eingespielt werden soll, weil Hörer:innen mit Lernschwierigkeiten nach einem langen Interview oder vielen Informationen eine Pause brauchen.




Audio-Tipp: Politiker:innen mit Behinderung berichten von ihrer Arbeit – im Podcast „IGEL – Inklusion Ganz Einfach Leben“

Eine der drei Politiker:innen in der Runde ist Annette Standop, die hauptberuflich als Coachin arbeitet und ehrenamtlich Vorsitzende der Grünen-Fraktion in Bonn ist – für sie ein herausforderndes, aber sehr lohnendes Ehrenamt.
Der zweite Gast Oswald Utz saß für die Grünen im Münchner Stadtrat und hat dort viel bewegt, wie er sagt. Nach einer Wahlperiode ist er aber nicht erneut angetreten und engagiert sich stattdessen seit vielen Jahren als Behindertenbeauftragter der Stadt München.
Katrin Gensecke ist SPD-Abgeordnete im Landtag von Sachsen-Anhalt und die einzige Berufspolitikerin in der Runde. Sie erzählt, welche Unterstützung sie für ihre Arbeit erhält, damit sie gegenüber Menschen ohne Behinderung keine Nachteile hat.
Die vierte Gesprächsparterin ist Ellen Kubica vom Verein „Bildungs- und Forschungsinstitut zum selbstbestimmten Leben Behinderter e. V. (bifos)“. Sie lebt selbst mit Rollstuhl und möchte anderen Menschen mit Behinderung mit der kostenpflichtigen Fortbildung „Empowerment zur Selbstvertretung“ das Handwerkszeug vermitteln, sich parteipolitisch oder in einer anderen Organisation zu engagieren. Ihrer Ansicht nach ist jede Form der Selbstvertretung politisch – und sehr wichtig.




Einheitliche Ansprechstellen für Arbeitgeber (EAA): Ein kostenloses Beratungsangebot für Unternehmen, die Menschen mit Behinderung beschäftigen möchten

Frau Zumbrock und Herr Münch, Sie beraten und unterstützen Arbeitgeber:innen in den neuen Einheitlichen Ansprechstellen. Was können Sie für Unternehmen in dieser Position tun?

Christian Münch: Wenn ein Betrieb einen Menschen mit Schwerbehinderung einstellen, ausbilden oder weiterbeschäftigen möchte, helfen wir bei allen Fragen dazu weiter. Wir haben zwar nicht selbst alle Antworten, aber wir kennen die richtigen Ansprechpersonen und vermitteln dann. Deshalb werden wir und unsere Kolleg:innen in den anderen EAA auch als Lotsinnen und Lotsen bezeichnet. Das Hilfesystem mit den vielen verschiedenen Trägern und Institutionen ist ja sehr komplex – wir lotsen Unternehmen daher zu der für sie passenden Lösung und Unterstützung.

Ursula Zumbrock: Wir gehen dabei sehr pragmatisch vor und bringen viel Verständnis für die Arbeitgeber:innen mit. Für ihre Fragen und Anliegen, vielleicht aber auch ihre Sorgen, weil sie sich einfach noch nicht so gut auskennen. Wir überlegen gemeinsam mit ihnen, was in ihrem Unternehmen möglich ist, für welche Aufgaben sie neue Arbeitskräfte brauchen und wie wir unterstützen können.

Können sich auch Unternehmen bei Ihnen melden, die noch gar nicht genau wissen, ob sie einen inklusiven Arbeitsplatz einrichten möchten?

Münch: Natürlich, solche Anfragen bekommen wir oft. Ich habe neulich ein Industrieunternehmen besucht, das wegen des Fachkräftemangels Schwierigkeiten hatte, Stellen zu besetzen. Die Geschäftsführung wollte deshalb den Betrieb anders organisieren und fragte mich um Rat. Bei einem Rundgang durch das Unternehmen fiel mir auf, dass im Lager eine ausgebildete Fachkraft damit beschäftigt war, Material umzupacken. Hier gäbe es die Möglichkeit, einen Mitarbeiter mit Behinderung einzusetzen, der möglicherweise keine Fachausbildung hat, was für diese Aufgabe aber auch nicht nötig ist. Die Fachkraft wiederum hätte dann mehr Zeit für andere Tätigkeiten.
Der Betrieb suchte außerdem eine:n Auszubildende:n für Lagerlogistik. Auch hier gäbe es die Möglichkeit, einen inklusiven Arbeitsplatz zu schaffen. Am Ende des Rundgangs hatten wir vier oder fünf Stellen im Betrieb gefunden, an denen wir ansetzen können.

Sie schauen sich also auch die Bedingungen vor Ort an?

Zumbrock: Ja, das machen wir sogar oft. Ein solcher Rundgang ist sehr sinnvoll, weil wir von außen in einen Betrieb hineinkommen und einen ganz frischen Blick auf alle Arbeitsplätze und Abläufe haben. Mir fallen dabei oft gleich mehrere Kontakte ein, die ich ansprechen könnte, damit diese für einen bestimmten Aufgabenbereich passende Bewerber:innen vermitteln.

Was brauchen Arbeitgeber:innen, um neue inklusive Arbeitsplätze zu schaffen?

Münch: Meiner Erfahrung nach ist es wichtig, dass wir nach der Beratung direkt die richtigen Kontakte herstellen können. Die Unternehmen wollen ja gern schnell anfangen, sobald wir ihnen die Möglichkeiten aufgezeigt haben. Bevor ich einen Vorschlag mache, frage ich mich deshalb immer: Habe ich Kontakte in meinem Netzwerk, die ich dem Betrieb gleich morgen nennen kann?

Wie geht es weiter, wenn Unternehmen und Bewerber:innen zusammengefunden haben?

Zumbrock: Oft unterstützen wir dann dabei, den neuen Arbeitsplatz behinderungsgerecht auszustatten oder andere Hilfen zu bekommen. Wir vermitteln an die zuständigen Träger weiter, helfen aber auf Wunsch auch, die nötigen Anträge auszufüllen. Wie lange und wie viel wir unterstützen, ist sehr unterschiedlich. Manchmal ist es sehr komplex, weil wir selbst erst einmal klären müssen, welche Träger wir überhaupt einbeziehen müssen. Manchmal reicht auch ein einziger Kontakt, damit es danach gut ohne uns weitergehen kann. Auf jeden Fall begleiten wir jedes Unternehmen so lange, wie es Unterstützung braucht.

Viele Unternehmen kennen Ihr Angebot wahrscheinlich noch gar nicht. Was tun sie, um die EAA bekannter zu machen?

Münch: Wir versuchen das auf ganz verschiedenen Wegen. Wir machen hier in der Region viel allgemeine Öffentlichkeitsarbeit, also zum Beispiel in den sozialen Medien und mit Flyern. Die Berufskammern, bei denen in Nordrhein-Westfalen auch EAA angesiedelt sind, informieren ihre Mitglieder über Newsletter und Magazine.

Gehen Sie auch direkt auf einzelne Unternehmen zu?

Zumbrock: Ja, wir sind auf vielen Veranstaltungen unterwegs, wo wir Arbeitgeber:innen aus verschiedenen Branchen treffen, zum Beispiel bei Unternehmerfrühstücken oder Fachtagungen. Meistens geht es bei diesen Veranstaltungen nicht vorwiegend um Inklusion, sondern um andere Themen. Wir stellen uns den Teilnehmer:innen dort dann trotzdem kurz vor. Oft ergibt sich es sich später, dass wir mit einzelnen Unternehmer:innen direkt ins Gespräch kommen. Neulich habe ich eine Ausbildungsmesse besucht und dort viele Betriebe angesprochen. Ein paar Tage später meldete sich ein Unternehmer bei mir: Er hatte für eine Stelle einen passenden Bewerber mit Behinderung, wusste aber nicht, wie er nun finanzielle Unterstützung für den behinderungsgerechten Arbeitsplatz bekommen konnte. Inzwischen konnten wir schon alles für seinen neuen Mitarbeiter klären.

Wie hat sich Ihre eigene Arbeit durch die EAA verändert?  

Zumbrock: Ich lerne gerade einen neuen Blickwinkel kennen. In den vergangenen 20 Jahren war ich beim Integrationsfachdienst in der Reha-Vermittlung tätig, meine Arbeit ging immer von Menschen mit Behinderung aus, die ich beraten habe. Jetzt geht es um die Perspektive der Arbeitgeber:innen. Für mich ist diese Aufgabe also durchaus neu, auch wenn ich das Hilfesystem schon sehr gut von der anderen Seite kenne und gut vernetzt bin. Und: Von meiner Arbeit profitiert jetzt im besten Fall nicht nur eine bestimmte Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter, sondern das ganze Team innerhalb eines Betriebs. Denn mit einem inklusiven Arbeitsplatz ändert sich ja oft auch die Unternehmenskultur.

Münch: Ich arbeite seit zehn Jahren als Inklusionsberater bei der Industrie- und Handelskammer, meine Aufgaben jetzt ähneln also denen auf meiner alten Position sehr. Für mich ist es aber ein großer Gewinn, dass wir uns unter den Kolleg:innen noch mehr austauschen. In einigen EAA hier in Westfalen sind auch ganz neue Berater:innen dabei. Dadurch bekomme ich neue Impulse für meine Arbeit.

Hat sich Ihrer Beobachtung nach bei den Unternehmen in den vergangenen zehn Jahren etwas verändert?

Münch: Eigentlich beantworte ich nach wie vor ähnliche Fragen wie in der Anfangszeit. Aber ich stelle fest und höre es auch von Kolleg:innen, dass viele Unternehmen offener werden. Das liegt sicher auch am Fachkräftemangel und dem demografischen Wandel. Viele Arbeitgeber:innen sehen, dass Menschen mit Behinderung Teil der Lösung für die Personalprobleme in ihren Betrieben sein könnten. Und manche fragen uns heute aktiv um Rat, weil sie gezielt Menschen mit Behinderung für offene Stellen suchen – das gab es vor zehn Jahren noch nicht. —


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Europäischer Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen: ein Überblick

Video mit DGS
Video ohne DGS


https://twitter.com/HoernchenCecile/status/1654375948609781763?s=20





Mit dem digitalen Werkzeugkasten „Easy Reading“ Internetseiten leichter lesen und verstehen

Frau Heitplatz, Frau Lueg, was genau ist „Easy Reading“?

Vanessa Heitplatz: Easy Reading ist ein kostenloses Programm, das Internetseiten vereinfacht und mit weniger Barrieren darstellt. Es ist eine Art digitaler Werkzeugkasten mit verschiedenen Hilfsmitteln. Die Werkzeuge helfen zum Beispiel, wenn jemand die Schrift schlecht erkennen kann, Wörter nicht gut versteht oder sich auf einer unübersichtlichen Seite schlecht zurechtfindet.

Marie-Christin Lueg: Das Besondere ist, dass Easy Reading immer gleich aussieht, unabhängig davon, ob und auf welche Weise eine Internetseite schon barrierefrei gestaltet ist. Die Nutzer:innen müssen sich also nicht erst jede Seite und die dort vorhandenen Werkzeuge und Symbole erschließen, sondern können sich direkt mit den Inhalten beschäftigen. Wenn sie Easy Reading auf ihrem Computer installiert haben, finden sie das Programm-Menü auf jeder Internetseite ganz leicht über ein Chamäleon-Symbol. Klicken sie das an, klappt sich der Werkzeugkasten auf.

Können Sie die einzelnen Hilfsmittel genauer beschreiben?

Lueg: Es gibt zum Beispiel eine Vorlesefunktion für Menschen mit Leseschwäche oder Sehbehinderung. Eine andere Unterstützung ist das Leselineal, das jeweils eine Textzeile hervorhebt, während der Rest etwas abgedunkelt wird. So fällt es Menschen mit Lernschwierigkeiten oder mit einer Sehbehinderung leichter, sich den Text zu erschließen. Wer mit vielen Bildern oder Werbeanzeigen auf einer Internetseite überfordert ist, kann den Lesemodus anklicken. Der Text wird dann zentriert in einer vergrößerten Schrift und mit größerem Zeilenabstand dargestellt, während alle ablenkenden Elemente verschwinden. Und zu schwierigen Wörtern kann man sich eine Erklärung, ein Bild oder ein Symbol anzeigen lassen.

Das Video zeigt kurz die Funktion „Leselineal“ und ein Beispiel für Erklärtexte, die dann erscheinen, wenn mit der Maus über ein erklärungsbedürftiges Wort gefahren wird.

Easy Reading soll also hauptsächlich Menschen mit Lernschwierigkeiten helfen?

Heitplatz: Ja, und deshalb haben wir das Programm auch zusammen mit sogenannten Peer-Forschenden entwickelt, also mit Kolleg:innen aus der Zielgruppe. In der ersten Projektphase, die von 2018 bis 2020 gedauert hat und von der EU gefördert wurde, haben wir mit einem internationalen und inklusiven Forschungsteam daran gearbeitet. Am Anfang haben die Peer-Forschenden uns erklärt, auf welche Hürden sie im Internet stoßen, und wir haben gemeinsam überlegt, was ihnen helfen könnte. Später haben sie ausprobiert, ob die Werkzeuge gut funktionieren.
Einige Hilfsmittel unterstützen nicht nur Menschen mit Lernschwierigkeiten, sondern zum Beispiel auch Menschen mit Sehbehinderung. Oder Kinder, die gerade lesen lernen und mit einer vereinfachten Darstellung besser zurechtkommen.

Seit August 2022 arbeiten Sie in einem Anschlussprojekt an der Weiterentwicklung Ihres Programms. Was möchten Sie gern noch verbessern?

Heitplatz: Bei den schon bestehenden Werkzeugen untersuchen wir im Rahmen des Anschlussprojekts auch, ob sie für die zusätzlichen Zielgruppen gut funktionieren oder verbessert werden sollten. Wir möchten außerdem herausfinden, für welche weiteren Zielgruppen Easy Reading sinnvoll sein könnte, zum Beispiel für Senior:innen und Menschen mit Migrationshintergrund oder Fluchtgeschichte. Wir haben schon eine Übersetzungsfunktion für verschiedene Sprachen in unseren Werkzeugkasten aufgenommen. Gerade sind Russisch und Ukrainisch sehr wichtig.

Ein Blick in die Zukunft: Müssten Internetseiten demnächst dann überhaupt noch barrierefrei gestaltet sein, wenn alle Menschen Easy Reading nutzen könnten?

Heitplatz: Ja, auf jeden Fall! Unser Programm kann zwar den Zugang zu nicht barrierefreien Seiten erleichtern, es ist aber ausdrücklich kein Ersatz für eine barrierefreie Gestaltung. Die Betreiber:innen von Webseiten müssen zum Beispiel Alternativtexte für dort verwendete Bilder selbst auf der Seite hinterlegen. Das ist von außen nicht möglich. Auf manchen Seiten gibt es außerdem PDF-Dokumente, die nicht barrierefrei sind, aber wichtige Informationen enthalten. Die kann Easy Reading nicht entschlüsseln. Unser Programm kann auch nicht helfen, wenn das Navigationsmenü unübersichtlich aufgebaut ist. Bei all dem sind die Betreiber:innen also weiterhin selbst gefragt.

Lueg: Easy Reading kann aber auch auf bereits leichter zugänglichen Internetseiten eine gute Ergänzung sein. Es kann beispielsweise die Darstellung noch stärker vereinfachen. Den Nutzer:innen hilft außerdem, dass sie das Programm so konfigurieren können, dass sie die benötigte Unterstützung nicht jedes Mal erneut auswählen müssen. Sie können ihre Einstellungen nämlich abspeichern. Wenn sie dann eine neue Website öffnen, müssen sie nur auf das Chamäleon-Symbol klicken und bekommen sofort eine für sie gut zugängliche Ansicht und ihre bevorzugten Hilfsmittel. Das macht den Zugang noch leichter – und so wird noch mehr digitale Teilhabe möglich. —

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Vier Fragen an… Bernhard Stüer, Inklusionsberater bei der Handwerkskammer Münster

#1: Herr Stüer, was brauchen Betriebe, damit Inklusion im Handwerk gelingt?

Meiner Erfahrung nach brauchen sie vor allem zwei Dinge: eine gute Beratung und finanzielle Unterstützung, etwa für neue Maschinen, die ein Mensch mit einer körperlichen Behinderung gut bedienen kann. Beides hängt damit zusammen, dass die meisten Handwerksbetriebe sehr klein sind. Im Schnitt haben sie zehn bis zwölf Mitarbeiter:innen. Investitionen sind für sie deshalb oft ein größerer Schritt als für Unternehmen mit höheren Umsätzen. Dazu kommt ein Zeitfaktor. In Handwerksfirmen gibt es in der Regel keine Personalabteilung, die Betriebsleitung muss diesen Bereich also „nebenbei“ mit übernehmen. Deshalb ist es wichtig, den Firmen mit einer guten Beratung so viel Aufwand wie möglich abzunehmen oder ganz zu ersparen.

#2: Wie und zu was genau beraten und unterstützen Sie Handwerksfirmen?

Meine Kollegin und ich beantworten alle Fragen zur Ausbildung, Einstellung und Weiterbeschäftigung von Menschen mit Behinderung. Wir informieren über die Rahmenbedingungen und unterstützen Betriebe dabei, Fördermittel zu beantragen. Es geht in den Beratungsgesprächen aber auch um weitere Anlaufstellen rund um das Thema Inklusion. Und wir vermitteln weiter, wenn etwa das Inklusionsamt, die Agentur für Arbeit oder der Integrationsfachdienst zuständig sind.

Die größte Hürde für uns selbst übrigens: Viele Betriebsleiter:innen wissen nach wie vor wenig über die Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderung. Deshalb haben sie Vorbehalte und scheuen sich davor, überhaupt Kontakt zu uns aufzunehmen. Viele beschäftigen sich erst dann mit dem Thema, wenn sie direkt damit in Berührung kommen – etwa weil jemand aus ihrer Belegschaft nach längerer Erkrankung oder einem Unfall eine Schwerbehinderung hat oder weil sich ein Mensch mit Schwerbehinderung bei ihnen bewirbt.

Wir arbeiten deshalb auch im Rahmen der Fachkräftesicherung daran, unsere Angebote bekannter zu machen. Unsere Kolleg:innen aus der Ausbildungs- und Betriebsberatung der Handwerkskammer machen Firmen auf unsere Unterstützungsmöglichkeiten aufmerksam. Das ist sehr wichtig, weil Unternehmen beispielswiese Fördergelder sehr frühzeitig beantragen müssen – nämlich noch bevor sie einen Menschen mit Behinderung neu einstellen. Deshalb sollten sie sich am besten sofort bei uns melden und beraten lassen, sobald das Thema aufkommt.

#3: Welche Fragen stellen Ihnen Betriebsinhaber:innen besonders häufig – und welche Antworten haben Sie gemeinsam mit den Unternehmen schon gefunden?

In mehr als zwei Dritteln unserer Beratungsgespräche geht es um Mitarbeiter:innen, die mit einer Schwerbehinderung in ihren Beruf zurückkehren möchten. Die Betriebsleitung muss prüfen, welche Möglichkeiten es dafür gibt: Welche Tätigkeiten kann die Person noch ausführen? Welche Hilfsmittel braucht sie dafür?
Verständlicherweise sind die Verantwortlichen in dieser Situation oft sehr unsicher. Wir schauen uns daher gemeinsam mit ihnen die Arbeitsabläufe an und überlegen, wo und wie sie eine Fachkraft weiter einsetzen könnten. Manchmal können moderne Maschinen helfen, damit jemand an seinen früheren Arbeitsplatz zurückkehren kann.
Manchmal braucht es aber auch ganz neue Lösungen. Im Idealfall können diese einen großen Mehrwert schaffen: Ein Betrieb, den wir beraten haben, setzt zum Beispiel einen erfahrenen Mitarbeiter mit Behinderung jetzt als zusätzlichen Ausbilder ein und bekommt dadurch viel besser geschulte Nachwuchskräfte. Ein anderes Unternehmen hat einen früheren LKW-Reifen-Monteur zur Servicekraft umgeschult. Er fährt nun zu den Kund:innen und prüft deren Fuhrparks, damit die Fahrer:innen für diesen Check nicht extra in die Werkstatt kommen müssen – eine tolle Dienstleistung, die die Kundenbindung stärkt.

#4: Was müsste sich ändern, damit mehr Betriebe Menschen mit Behinderung ausbilden oder einstellen?

Da gibt es verschiedene Ansatzpunkte. Ich glaube, für die Meister:innen müsste manches noch einfacher werden. Wenn ein Betrieb zum Beispiel einen gehörlosen Menschen beschäftigt, sind für manche Besprechungen oder Schulungen Gebärdensprachdolmetscher:innen nötig. Solche Angebote gibt es zwar, sie können aber oft nur mit einem langen zeitlichen Vorlauf gebucht werden, was im Betriebsalltag schwierig ist.

Angehenden Auszubildenden würde ich raten, ihre Schwerbehinderung schon vor der Einstellung offen anzusprechen. Mir ist klar, dass das eine sehr persönliche Entscheidung ist. Es kann jedoch ein Vorteil für beide Seiten sein, wenn das Thema direkt offen auf dem Tisch liegt. Die Betriebsleitung hat dann nämlich die Chance, sich rechtzeitig um eine passende Unterstützung zu bemühen. So lassen sich viele mögliche Schwierigkeiten im Alltag von vornherein verhindern – es wäre schließlich für beide Seiten schade, wenn ein Ausbildungsverhältnis wegen vermeidbarer Hürden abgebrochen werden muss.

Natürlich müssen sich auch die Betriebe bewegen. Viele suchen zum Beispiel ausschließlich nach Fachkräften, was manche Menschen mit Behinderung – je nach schulischer Vorgeschichte – von vornherein ausschließt. Dabei gibt es viele Tätigkeiten, die nach einer guten Einarbeitung auch Menschen ohne eine abgeschlossene Berufsausbildung übernehmen könnten. Es bräuchte dafür aber auch ein Umdenken bei der Arbeitsteilung. Hier müssen insbesondere die Verantwortlichen von wachsenden Betrieben dabei unterstützt werden, Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung zu ermitteln. Die Chancen für eine Einstellung sind wegen des Fachkräftemangels recht gut, wenn die Anforderungen den Fähigkeiten des Bewerbers entsprechen. Manche Betriebsinhaber:innen sind durch unsere Beratung und erste Erfahrungen dafür inzwischen auch aufgeschlossen. Aber wir brauchen hier noch viel mehr. —