Hör-Tipp: Ein Podcast über Barrierefreiheit und Inklusion bei der „Bank Austria“

In der Bank Austria gibt es seit 2010 ein sogenanntes Disability-Management, also eine eigene Abteilung, die sich um die Bedürfnisse von Kund:innen und Mitarbeiter:innen mit Behinderung kümmert.
Disability-Manager Christian Schinko erzählt im Podcast, dass es dabei anfangs vor allem um Inklusion am Arbeitsplatz ging. Mit der Zeit hat die Bank ihre Bemühungen um Barrierefreiheit und Inklusion aber auch auf die Kund:innen ausgeweitet. Einige der Mitarbeiter:innen mit Behinderung berieten die Verantwortlichen im Konzern dazu, wie sie Gebäude und Dienstleistungen für möglichst viele Menschen barrierefrei gestalten können.
Damit alle Mitarbeiter:innen der Bank ihre Talente möglichst gut entfalten und einsetzen können, arbeitet Schinko außerdem eng mit Christoph Bures zusammen, der als Vertrauensperson die Interessen der Kolleg:innen mit Behinderung vertritt. Er ist als zweiter Gast im Podcast zu hören.

Welche inklusiven Maßnahmen die Bank umgesetzt hat und wie auch sie selbst davon profitiert, hört ihr in der „FreakCasters“-Folge.




Tipps für Arbeitgeber:innen, Teil 2: Worauf es bei der inklusiven Ausbildung ankommt

Die Autor:innen des Leitfadens haben Jugendliche befragt, die Lernschwierigkeiten oder körperliche Behinderungen haben. Ihr Unterstützungsbedarf ist also jeweils unterschiedlich. Manche sind aktuell schon in der Lehre, andere stehen gerade kurz vor ihrer Ausbildung oder haben sie schon abgeschlossen. Die Broschüre, die die aus dieser Befragung entstanden ist, gibt Antworten auf einige wichtige Fragen, die sich Ausbildungsbetriebe idealerweise vorab stellen sollten: Wie kommen Unternehmen und angehende Auszubildende am besten miteinander in Kontakt? Wie sollten Ausbildungsbetriebe ihre Stellenanzeigen formulieren? Und was ist während der Ausbildung besonders wichtig?

Die Autor:innen geben in ihrem Leitfaden konkrete und praxisnahe Tipps, außerdem lassen sie die Jugendlichen in Zitaten auch immer wieder selbst zu Wort kommen. Diese erzählen darin zum Beispiel, was sie sich für die Ausbildung wünschen oder was ihnen während dieser Zeit geholfen hat. Manchmal waren das Hilfsmittel am Arbeitsplatz, oft und vor allem aber eine offene Kommunikation im Team.

Der knapp 30 Seiten lange Leitfaden kann hier als PDF heruntergeladen werden.





Tipps für Arbeitgeber:innen, Teil 1: Bewerbungsverfahren inklusiv gestalten

Viele Menschen haben unbewusste Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung. Deshalb ist die Haltung derjenigen, die Arbeitsplätze im Unternehmen besetzen, ein wichtiger Faktor. Damit Bewerbungsverfahren inklusiver werden können, sollten sich die Personalverantwortlichen daher vorab mit ihren eigenen Vorurteilen auseinandersetzen, damit sie nicht unbeabsichtigt Bewerber:innen bevorzugen, die ihnen ähnlich sind – in vielen Fällen also Menschen, die keine Behinderung haben.

Die GLS-Bank und JOBinklusive geben über diesen ersten Tipp hinaus auch konkrete Empfehlungen, wo und wie Unternehmen gezielt nach Bewerber:innen mit Behinderung suchen und wie sie ihr Auswahlverfahren verändern können. Mögliche Mitarbeiter:innen werden nämlich häufig nach Kriterien beurteilt, die Menschen mit Behinderung von vornherein ausschließen.

Auch, wenn ein:e Mitarbeiter:in mit Behinderung im Unternehmen zu arbeiten anfängt, gibt es einiges zu beachten. Neben einem barrierefreien Arbeitsplatz ist auch hier wieder die Haltung der Vorgesetzten wichtig: Je positiver sie der Inklusion in ihrem Unternehmen gegenüberstehen, desto offener sind wahrscheinlich auch die Kolleg:innen ohne Behinderung.

Hier geht es zu dem ausführlichen Beitrag der GLS-Bank, hier zu einer kompakteren Zusammenfassung der Tipps von JOBinklusive, das übrigens ein Projekt des Vereins Sozialheld:innen ist.




Preisgekrönt: Inklusive Ausbildung bei der „Deutschen Welle“

Insgesamt arbeiten mehr als 100 Menschen mit Behinderung für die „Deutsche Welle“ (DW), das sind rund sechs Prozent der Beschäftigten. Und es sollen noch mehr werden: Das Unternehmen hat sich vorgenommen, die Quote in diesem Jahr auf acht Prozent zu steigern.

Kerstin Nitz hat sich im Sender mit dafür eingesetzt, dass Inklusion am Arbeitsplatz dort selbstverständlich geworden ist. Heute ist sie am Standort Berlin die Vertrauensperson für die festen und freien Mitarbeiter:innen mit Behinderung. Sie sitzt also mit am Tisch, wenn sich eine schwerbehinderte Person um einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz bewirbt, und unterstützt im Arbeitsalltag bei praktischen Fragen.

Der Tagesspiegel aus Berlin hat mit Kerstin Nitz über ihre Arbeit und ihr Engagement gesprochen. Außerdem berichten in dem Text zwei Auszubildende mit Behinderung über ihre Erfahrungen.

Hier geht es direkt zum Artikel.




„Ich möchte, dass mehr Menschen mit Behinderung in Filmen zu sehen sind“

Herr Janßen, Sie waren früher Verwaltungsleiter der Berlinale. Wie kamen Sie dazu, sich für Inklusion in der Filmbranche zu engagieren?

Mein Patenkind Max hat eine Behinderung. Vor einigen Jahren wurde er durch Zufall für eine Rolle in einem Fernsehfilm entdeckt, er hat mit Matthias Brandt und Corinna Harfouch in dem Thriller „Tod einer Schülerin“ gespielt. Danach sagte er: „Wenn das Arbeit ist, will ich Schauspieler werden.“ Ich habe versucht, ihn bei der Suche nach neuen Rollen zu unterstützen, aber es war sehr schwierig, eben weil die Branche noch kaum inklusiv ist. Das möchte ich ändern, damit mehr Menschen mit Behinderung in Filmen und Serien zu sehen sind. Außerdem hatte ich nach zehn Jahren bei der Berlinale Lust, etwas Neues zu machen. Also habe ich „Rollenfang“ gegründet. Meine Erfahrungen und Verbindungen zur Filmszene helfen mir natürlich. Einige Zeit nach der Gründung ist noch das Theater dazugekommen, weil manche Darsteller:innen lieber auf der Bühne spielen möchten.

Was genau bieten Sie Schauspieler:innen mit Behinderung an?

Ich vermittle sie an professionelle Theatergruppen, Film- oder Serienprojekte und handle Verträge für sie aus, ähnlich wie eine Agentur. Anders als andere Agenturen biete ich aber eine Art „Rundum-Sorglos-Paket“ an. Ich buche zum Beispiel Fotograf:innen, die professionelle Bilder für die Bewerbungen machen und mit den Darsteller:innen auch sogenannte Showreels aufnehmen. Das sind kleine Videos, die als Arbeitsproben an die Produktionsfirmen gehen. Außerdem vernetze ich die Schauspieler:innen untereinander und mit anderen Menschen aus der Branche. Und ich betreibe viel Lobbyarbeit, etwa bei Festivals und Verbänden.

Diversität, also Vielfalt, ist seit einigen Jahren ein wichtiges Schlagwort. Ist das auch in der Filmbranche spürbar?

Ja, es hat sich einiges getan. Die Förderanstalt „Moin“ aus Hamburg hat eine „Diversity Checklist“ entwickelt und veröffentlicht, einen Fragenkatalog, den alle Antragsteller:innen ausfüllen müssen. Darin wird unter anderem gefragt, ob Menschen mit Behinderung im Projekt mitarbeiten oder im geplanten Film vorkommen. Andere Fördereinrichtungen werden da sicher nachziehen, da ist also etwas in Bewegung geraten. Das spüren wir auch an unserer eigenen Arbeit bei „Rollenfang“: Viele große Produktionsfirmen hatten lange kaum Interesse an uns, jetzt arbeiten wir mit der UFA Film & TV Produktion GmbH an einem gemeinsamen Projekt. Wir bekommen auch von anderen Firmen Anfragen, weil sie Schauspieler:innen mit Behinderung engagieren möchten – allerdings in der Regel nur dann, wenn im Drehbuch explizit eine Behinderung vorgesehen ist. Eines unserer Ziele für die Zukunft ist, dass die Behinderung irgendwann gar keine Rolle mehr spielt.

Was müsste sich dafür noch verändern?

Die meisten Produzent:innen haben selten oder noch nie mit Menschen mit Behinderung zusammengearbeitet. Das ist ganz ähnlich wie in anderen Branchen auch: Wegen der fehlenden Erfahrung machen sich die Verantwortlichen Sorgen, ob das funktionieren kann. Ob zum Beispiel eine Schauspielerin mit Behinderung lange Drehtage durchhält oder ein Schauspieler mit geistiger Beeinträchtigung deutlich genug spricht.

Wie überzeugen Sie die Produktionsfirmen davon, dennoch Schauspieler:innen mit Behinderung zu engagieren?

In der Regel nehme ich erst einmal Kontakt zu den Caster:innen der Projekte auf, treffe mich mit ihnen, stelle ihnen Leute vor und schicke später Filmmaterial. Dieser persönliche Kontakt ist ganz wichtig. Manchmal kommt das auch bei Veranstaltungen zustande. Wir haben im Frühjahr 2022 ein Kurzfilmfestival organisiert, eine Gala in einem Theater in Berlin, zu der alle „Rollenfang“-Schauspielerinnen und 150 Gäste gekommen sind. Wir haben viele Gespräche geführt und Kurzfilme von und mit unseren Darsteller:innen vorgeführt, um die Qualität ihrer Arbeit zu zeigen. Daraus sind fünf oder sechs Engagements entstanden.
Ganz allein kann ich diese wichtige Netzwerkarbeit aber nicht machen.

Und wo holen Sie sich Unterstützung?

Etliche Filmschaffende und Theaterleute ohne Behinderung haben schon unsere Charta für Inklusion im Film unterzeichnet und setzen für die Ziele von Rollenfang ein. Auch bekannte Schauspieler:innen ohne Behinderung treten als Botschafter:innen für unser Anliegen ein. Sie öffnen Türen, indem sie Kolleg:innen mit Behinderung für Rollen in ihren Produktionen vorschlagen. So sind schon einige tolle Filmprojekte zustande gekommen. Es müssen übrigens ja nicht immer Hauptrollen sein, wir freuen uns auch über interessante Nebenrollen. Darüber hinaus unterstützen einige Schauspieler:innen unsere Darsteller:innen auf Wunsch auch als Coaches und arbeiten bei Dreharbeiten in Tandems mit ihnen zusammen.

Wie genau funktioniert das am Filmset?

Die Coaches sind Ansprechperson für die Produzent:innen und Vertrauensperson für unsere Schauspielerin oder unseren Schauspieler. Sie teilen ihre Erfahrung und helfen auch ganz praktisch, in den langen Wartezeiten an den Drehtagen nochmal den Text für die nächste Szene durchzugehen.

In welchen Filmen und Serien sind denn die Schauspieler:innen zu sehen, die „Rollenfang“ schon vermitteln konnte?

Das ist inzwischen ein sehr breites Spektrum. Wir haben Serien wie „In aller Freundschaft“, „Rote Rosen“ oder „Die Bergretter“ im Portfolio, Fernsehreihen wie „Praxis mit Meerblick“ oder „Polizeiruf 110“, aber auch Kinofilme wie „24 Wochen“ und Florian Henckel von Donnersmarcks „Werk ohne Autor“.

Für Rollen in solchen Produktionen brauchen die Darsteller:innen wahrscheinlich eine gute Ausbildung. Wie einfach oder schwierig ist der Einstieg in diesen Beruf für Menschen mit Behinderung?

Leider ist er meistens schon die erste Hürde. Schauspielschulen sind zwar offiziell für alle offen, tatsächlich bekommen Menschen mit Behinderung aber fast nie einen Platz. Die meisten Schauspieler:innen mit Behinderung haben in inklusiven Theatergruppen erste Erfahrungen gesammelt oder wurden in einer Einrichtung für behinderte Menschen gecastet. Wir bieten deshalb bei „Rollenfang“ auch Weiterbildungen an, etwa einwöchige Kameraworkshops, in denen wir inklusiv besetzte Kurzfilme produzieren. Unsere Coaches bereiten unsere Schauspieler:innen bei Bedarf auch ganz direkt auf neue Rollen oder schwierige Szenen vor, in denen es etwa besonders wichtig ist, zwischen der Rolle und dem realen Leben zu unterscheiden.

Wie finanzieren Sie die Arbeit von „Rollenfang“?

Hauptsächlich wird die Arbeit von Rollenfang durch eine Projektförderung der Aktion Mensch finanziert, außerdem unterstützen uns einige private Stiftungen. Für einen Kurzfilm konnten wir den RBB als Koproduzenten gewinnen, und auch das Medienboard Berlin Brandenburg hat zwei unserer Projekte mitfinanziert.

Was haben Sie sich für die nächsten Jahre vorgenommen?

Unser neuestes Projekt „Rollenfang-Labor“, eine Art Denkfabrik, in der Künstler:innen mit und ohne Behinderung gemeinsam arbeiten. Hier wollen wir inklusiv neue Sichtweisen und Filmstoffe und gleichzeitig Arbeitsmöglickeiten für Regisseur:innen, Drehbuchautor:innen und Musiker:innen mit Behinderung entwickeln, also für alle Gewerke, die hinter der Kamera agieren.




Filmtipp: Inklusives Studium an der Uni Marburg

Anna Mühlhause studiert Psychologie. Sie lebt mit Rollstuhl und braucht im Alltag manchmal Hilfe. Deshalb hat sie sich für die Uni Marburg entschieden: Dort gibt es ein barrierefreies Wohnheim mit einem integrierten Pflegedienst, Assistent:innen und einem Fahrdienst, der sie zur Uni und wieder zurück bringt.
Für die Studentin sind aber nicht nur diese Angebote wichtig, sondern auch die Einstellung ihrer Kommiliton:innen und Dozent:innen. Sie bieten Hilfe an und gestalten Prüfungen ganz unkompliziert so um, dass sie durch ihre Behinderung keinen Nachteil hat.





Hör-Tipp: Ein Podcast zur Inklusion in der Gesellschaft

Jürgen Dusel erzählt im Gespräch mit Simone Fischer, warum er für sein Amt brennt und was Inklusion für ihn bedeutet. Für ihn geht es dabei nämlich um Demokratie und die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Er erklärt außerdem, welche Themen er in den nächsten Jahren besonders in den Blick nehmen möchte: Neben der barrierefreien Mobilität und mehr bezahlbarem, barrierefreien Wohnraum beschäftigt ihn auch die Teilhabe am Arbeitsleben. Der Beauftragte der Bundesregierung schildert, was aus seiner Sicht bei diesem Thema schon gut läuft, aber auch, wo es noch viel zu tun gibt und welche Lösungen er dafür anstrebt.




Wie Arztbesuche inklusiver werden können

Frau Sappok, warum braucht es eine eigene Medizin für Menschen mit Behinderung?

Menschen mit Behinderung werden in Deutschland oft noch nicht so gut medizinisch versorgt, wie es möglich und nötig wäre. Das liegt daran, dass sie häufig viele körperliche und auch psychische Erkrankungen haben und deswegen eine besonders hochwertige ärztliche Versorgung benötigen. Leider erschweren in unserem Gesundheitssystem aber viele Barrieren den Zugang zu einer solchen Betreuung. Und wenn sie dann in einer Arztpraxis oder im Krankenhaus behandelt werden müssen, sind viele Mitarbeiter:innen überfordert. Zum Beispiel, weil sich Ärzt:innen mit bei diesen Personen häufigen Krankheitsbildern kaum oder gar nicht auskennen. Oder schlicht, weil ein Mensch mit einer kognitiven Beeinträchtigung die übliche Eingangsfrage „Was führt Sie zu mir?“ nicht versteht oder nicht beantworten kann – der Arzt oder die Ärztin aber keinen anderen Zugang findet.

Wie wollen Sie das ändern?

In meinen Vorlesungen und Seminaren werde ich medizinisches Fachwissen vermitteln, zu Krankheitsbildern, die bei Menschen mit Behinderungen überdurchschnittlich häufig auftauchen. Um zum Beispiel bestimmte genetische Syndrome zu erkennen, müssen Mediziner:innen erst einmal damit vertraut sein. Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sind übrigens auch häufig im Autismusspektrum. Die Diagnose wird bei ihnen aber mit anderen oder angepassten Untersuchungsverfahren gestellt als bei Menschen ohne Lernbehinderung. Darüber hinaus möchte ich meine Studierenden auf den Umgang mit Patient:innen, die eine Behinderung haben, vorbereiten und sie für die Barrieren im Gesundheitswesen sensibilisieren.

Können Sie diese Barrieren genauer beschreiben?

Die erste große Hürde ist, überhaupt einen Arzttermin zu bekommen. Für Personen im Autismusspektrum ist es oft schon schwierig, in einer Praxis anzurufen. Hier kann helfen, wenn sie die Möglichkeit haben, online einen Termin zu buchen. Aber das ist bisher ja eher die Ausnahme. Ein weiteres Problem ist, dass Praxen und Kliniken Menschen mit Behinderung gar nicht erst als Patient:innen annehmen möchten oder rasch wieder aus der Behandlung entlassen. Deshalb suchen diese Patient:innen häufig Rettungsstellen auf, wo aber nur akute Erkrankungen untersucht und behandelt werden. Eine langfristige medizinische Versorgung ist so natürlich nicht möglich.

Warum lehnen Ärzt:innen denn Menschen mit Behinderung als Patient:innen ab?

Die Behandlung kann kompliziert und zeitintensiv sein, wenn Patient:innen bei bestimmten Untersuchungen Angst haben, etwa in der Gynäkologie oder Urologie. Manchmal wird auch gesagt, sie seien „nicht wartezimmerfähig“ oder in Kliniken „nicht führbar“.

Wie bitte?

Dahinter stecken Ängste und teilweise auch Vorurteile. Viele Ärzt:innen haben einfach kaum Erfahrung mit Menschen mit Behinderung. Sie sind verunsichert, weil sie zum Beispiel nicht wissen, wie sie mit Menschen umgehen und kommunizieren sollen, die nicht sprechen können. Auch das wollen wir ändern, indem unsere Studierenden an der Klinik von Anfang an mit Menschen mit Behinderung in Kontakt kommen. Wir möchten die Perspektive umkehren. Nicht die Patient:innen sollen sich anpassen, sondern Kliniken und Praxen müssen passende Rahmenbedingungen schaffen, etwa, indem medizinisches Personal die Leichte Sprache erlernt.

Der Bedarf für solche Veränderungen ist offenbar groß. Warum gibt es in Deutschland erst jetzt die erste Professur in diesem Fachgebiet?

Menschen mit Behinderung haben keine große Lobby. Und es gibt auch kein großes Interesse bei den Kostenträgern, weil eine individuelle und dadurch zeitintensivere Betreuung teurer ist. Aber eine gute Gesundheitsversorgung ist notwendig, um ein Höchstmaß an Lebensqualität und Teilhabe zu erreichen, so wie es etwa die UN-Behindertenrechtskonvention fordert. Das ist übrigens ein weltweites Problem. In Großbritannien und den Niederlanden gibt es zwar schon Lehrstühle für Behindertenmedizin und mehr Forschung als hier. Aber in den meisten europäischen Ländern oder auch in den USA, in Asien oder weniger entwickelten Ländern spielt das Themengebiet immer noch eine sehr untergeordnete Rolle.

Wie sind Sie selbst zu Ihrem jetzigen Spezialgebiet gekommen?

Das war ein Zufall. Während meiner psychiatrischen Facharztausbildung am Krankenhaus Königin-Elisabeth Herzberge in Berlin wurde ich auch im Behandlungszentrum für psychische Gesundheit bei Entwicklungsstörungen eingesetzt; dort werden psychisch erkrankte Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung behandelt. Dabei habe ich Feuer gefangen. Das Fachgebiet ist spannend und anspruchsvoll, und die Arbeit mit Menschen mit Behinderung hat mir sofort viel Freude gemacht. Bei der Behandlung bin ich immer wieder auf Fragen gestoßen, auf die ich in der Fachliteratur keine Antworten finden konnte. Also habe ich angefangen, mich damit zu beschäftigen und die Fragen selbst zu beantworten. Alle meine Forschungsthemen haben sich direkt aus dem Behandlungsalltag ergeben.

Können Sie ein Beispiel erzählen?

Anfang der 2000er-Jahre kam eine junge Frau mit einer Lernbehinderung zu uns. Ihr Arzt hatte ihr ein Medikament gegen Schizophrenie verordnet, was ihr nicht geholfen hat, denn die Diagnose war falsch – und entsprechend auch das Medikament. Ihre Mutter hat uns erzählt, dass sich die Tochter schon als Kind so verhalten habe wie später als junge Erwachsene. Schizophrenien entwickeln sich aber in der Regel erst im jungen Erwachsenenalter. Ich habe viel recherchiert, was es stattdessen sein könnte, und kam schließlich auf das Thema Autismus. Damals war noch gar nicht bekannt, dass Menschen mit kognitiven Behinderungen häufig Autist:innen sind, und es gab kaum Diagnostikmöglichkeiten für diese Patient:innen. Im Rahmen meiner Habilitationsarbeit habe ich verschiedene Untersuchungsinstrumente entwickelt oder für Menschen mit Behinderungen angepasst, die auch andere Ärzt:innen anwenden können. Seitdem werden seltener Schizophrenien diagnostiziert. Für die Patient:innen ist das sehr wichtig, weil sie keine falschen Medikamente mehr bekommen, sondern ihr Umfeld stattdessen autismusfreundlich gestaltet wird.

Sie treten Anfang 2023 nicht nur Ihre Professur an, sondern werden auch Direktorin der neuen Universitätsklinik für Inklusive Medizin am Krankenhaus Mara in Bethel. Was haben Sie in dieser Klinik vor?

Wir möchten das dortige Zentrum für Behindertenmedizin erweitern. Neben der internistischen und chirurgischen Abteilung wollen wir in Zukunft auch ein psychiatrisches Behandlungsangebot schaffen. Diese drei Stationen sollen aber nicht nebeneinander arbeiten, sondern Patient:innen gemeinsam betreuen. Je nach Diagnose wird natürlich ein:e Expert:in die Fallführung übernehmen, aber Fachleute aus allen Bereichen werden in gemeinsamen Visiten interdisziplinäre Behandlungspläne entwickeln und umsetzen.

Was muss bis Ende des Jahres noch passieren, damit Sie im Januar starten können?

Die Klinik wird für das zusätzliche psychiatrische Angebot umgebaut, wir brauchen Räume und Material für die Kreativ-, Musik- und Ergotherapie, für Einzel- und Gruppengespräche. Darüber hinaus werden wir einen geschützten Bereich einrichten, in dem wir Menschen mit schweren Verhaltensstörungen betreuen werden. Für all diese Angebote suchen wir gerade natürlich auch Personal, etwa Psycholog:innen, Psychiater:innen und Kreativtherapeut:innen.

Werden Sie auch Menschen mit Behinderung im Team haben?

Ja, wir planen, sowohl in der Klinik als auch in der Lehre und Forschung in inklusiven Teams zu arbeiten.

Zum Schluss ein Ausblick: In ein paar Jahren werden Ihre ersten Student:innen ihren Abschluss haben und in den Beruf starten. Wie können diese das Wissen aus Ihren Vorlesungen einsetzen?

Ich wünsche mir, dass sie sich freuen, wenn Menschen mit Behinderung in ihre Praxis oder Klinik kommen. Dass sie Menschen mit Behinderung mit offenen Armen empfangen und diese umgekehrt nicht mehr auf die vielen Schwierigkeiten stoßen wie jetzt. Und ich würde mich freuen, wenn einige Studierende das Fachgebiet so spannend finden, dass sie darin promovieren und ein immer regeres wissenschaftliches Leben entsteht. —




102 Jahre Schwerbehindertenvertretung: Interview mit zwei Vertrauenspersonen, die seit 20 Jahren dabei sind

Frau Porcher, Herr Graute, Sie blicken auf zwei Jahrzehnte Erfahrung damit zurück, Menschen mit Schwerbehinderung innerhalb Ihrer Kliniken zu unterstützen. Sie kennen den Job also sehr gut. Was sollte jemand mitbringen, die oder der sich als Vertrauensperson engagieren möchte?

Graute: Als erstes fällt mir Beharrlichkeit ein. Auch wenn ein Anliegen auf den ersten Blick gar nicht so kompliziert zu sein scheint, ist es manchmal ganz schön komplex, das zu organisieren. Ein Beispiel: Menschen mit Sehbehinderung brauchen einen Computer mit einem großen Arbeitsspeicher, das hat mit der Software zu tun, die Texte auf dem Bildschirm vorliest. Bei der Anschaffung eines solchen Geräts sind beim jeweiligen Kostenträger unter Umständen mehrere Abteilungen oder Sachbearbeiter:innen beteiligt, zwischen denen wir vermitteln müssen. Als Vertreter muss ich also bei allen immer wieder nachhaken und dranbleiben. Oft müssen wir auch erst einmal klären, welcher Kostenträger zuständig ist und ob die Beschäftigten selbst oder die Arbeitgeber ein Hilfsmittel beantragen müssen. Dann meldet sich noch die hauseigene IT-Abteilung, die Probleme mit Geräten hat, die sie nicht selbst angeschafft und zertifiziert hat. All das kann sehr kleinteilig und langwierig sein.

Porcher: Davor sollte aber niemand Angst haben. Vertrauenspersonen müssen meiner Erfahrung nach vor allem empathisch sein und Lust haben, Menschen zu helfen und zu unterstützen. Wer das mitbringt, kann sich das nötige Wissen schrittweise aneignen. Dann lässt es sich sehr zielführend einsetzen. Und das macht Spaß.

Sie beide haben sich also vor 20 Jahren noch einmal in einen ganz neuen „Job“ eingearbeitet. Hatten Sie dabei Hilfe?

Porcher: Ja, es gibt verschiedene Fortbildungen, in denen Vertrauenspersonen das nötige Handwerkszeug lernen, es wird also niemand damit allein gelassen. Wir müssen zum Beispiel über die gesetzlichen Rechte und Pflichten der Schwerbehindertenvertretung Bescheid wissen. Ich engagiere mich seit 2014 auch in der Gesamtschwerbehindertenvertretung des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe. Auch dafür habe ich mich weitergebildet. Heute bin ich außerdem Ansprechpartnerin für das Betriebliche Eingliederungsmanagement.

Ihre Aufgaben haben sich also mit der Zeit entwickelt und Sie mussten nicht von Anfang an über alles Bescheid wissen?

Porcher: Nein, das geht ja auch gar nicht, denn wir beraten ja zu ganz verschiedenen Themen. Im Laufe der Jahre haben wir nach und nach die nötige Erfahrung und das Wissen angesammelt. Ich habe zum Beispiel Kolleg:innen mit einem Rückenleiden dabei unterstützt, die nötigen Anträge zu stellen, damit eine Schwerbehinderung oder eine Gleichstellung bei ihnen anerkannt wird. Wenn Beschäftigte lange krank waren und wiederkommen möchten, helfe ich bei der Wiedereingliederung. Kolleg:innen mit Hörbehinderung brauchen oft bestimmte Hilfsmittel. Ich unterstütze sie dabei, diese auch zu bekommen.
Die eigene Gesundheit oder eben Erkrankung ist ja etwas sehr Persönliches, die Kolleg:innen bringen uns sehr viel Vertrauen entgegen. Dem möchte ich natürlich gerecht werden. Wichtig ist, ein gutes Netzwerk aufzubauen, um immer schnell die benötigte Hilfe oder einen Rat zu bekommen.

Wie ist es Ihnen im Laufe der Jahre damit ergangen, dass die Kolleg:innen sich Ihnen so anvertrauen?

Graute: Das ist ein sehr schönes Gefühl und ja auch einer der Gründe, warum ich diesen Job so gerne mache. Manchmal ist das aber nicht so leicht. Es kommt vor, dass Kolleg:innen mir von einer schweren Erkrankung erzählen, etwa von einer Krebserkrankung mit schlechter Prognose. Oft suchen sie gar keinen konkreten Rat, sondern möchten sich einfach jemandem anvertrauen. In solchen Momenten geht mir das schon sehr nahe.

Porcher: So etwas habe ich auch schon erlebt, das ist mir auch sehr nahegegangen. Aber es gehört dazu, auch dann, wenn man selbst starke Gefühle mit einer Situation hat, empathisch zu sein und zu helfen, so gut es geht.

Und was ist Ihnen aus Ihrer bisherigen Amtszeit besonders positiv in Erinnerung geblieben?

Porcher: Für mich sind es die vielen kleinen Erfolge, über die ich mich freue und die diese Aufgabe so schön machen. Ich bin immer wieder begeistert, wenn Kolleg:innen mit Hörbehinderung dank ihrer Hilfsmittel in Teambesprechungen alles mitbekommen. Das ist nicht nur für sie, sondern für das ganze Team einfacher und entspannter. Und ich freue mich, wenn erkrankte Beschäftigte gut wieder in den Job einsteigen können. Oder auch, wenn wir für jemanden eine Erwerbsminderungsrente auf Zeit erreichen, damit die- oder derjenige sich vollständig von einer Krankheit erholen kann.

Graute: Ich erinnere mich an ein Vorstellungsgespräch in unserer Küche. Der Küchenchef hatte seinen Stellvertreter geschickt. Das stellte sich als großer Glücksfall heraus. Es hatte sich nämlich ein Gehörloser beworben, und der stellvertretende Küchenchef beherrschte die Deutsche Gebärdensprache. Wir haben die Zusammenarbeit ausprobiert, und es klappte gut. Inzwischen arbeiten vier Gehörlose in der Küche. Der frühere stellvertretende Küchenchef, der innerhalb des Teams übersetzen konnte, ist zwar heute nicht mehr da. Aber es klappt im Arbeitsalltag trotzdem gut, weil alle gelernt haben, sich gegenseitig zu verstehen. Das ist für mich ein toller Erfolg.

Was geben Sie Menschen mit auf den Weg, die ganz neu dabei sind, also das erste Mal als Vertrauensperson arbeiten?

Graute: Lasst euch nicht entmutigen, sondern bleibt einfach dran! Bei mir selbst hat es damals auch lange gedauert, bis alle mich in der neuen Rolle akzeptiert und meine Vorschläge angenommen haben. Dass Bärbel Porcher und ich heute oft so gut helfen können, liegt ja auch daran, dass wir schon so lange im Amt sind. Wir haben uns ein großes Netzwerk und einen guten Ruf aufgebaut. Das braucht einfach Zeit. Wer Unterstützung sucht oder sich austauschen möchte, kann sich mit anderen Vertrauenspersonen vernetzen, hier in Nordrhein-Westfalen geht das in der Arbeitsgemeinschaft der Schwerbehindertenvertretungen.

Porcher: Ich finde es wichtig, sich bei Konflikten sofort mit allen Beteiligten zusammenzusetzen, auch mit den Vorgesetzten. Meiner Erfahrung nach ist es am besten, Lösungen aufzuzeigen. Ich versuche immer, zu erklären, wie eine solche Lösung den Arbeitsaufwand reduzieren oder dabei helfen kann, dass jemand gar nicht erst krank wird und ausfällt. Das ist ja eine Win-Win-Situation, die Arbeitgeber:innen meistens gerne unterstützen und umsetzen. —


Die Geschichte der Schwerbehindertenvertretungen

Der Grundstein für die Schwerbehindertenvertretung in Betrieben, wie wir sie heute kennen, wurde schon im Jahr 1920 gelegt. Die Zwischenstationen von damals bis heute:

6. April 1920

Das (damals noch so genannte) Schwerbeschädigtengesetz tritt in Kraft.

Betriebe mit mindestens 100 Arbeitnehmer:innen waren damit erstmals gesetzlich verpflichtet, einen Vetrauensmann einzuführen.

6. April 1920
19. April 1974

Das Schwerbehindertengesetz löst das Schwerbeschädigtengesetz ab.

Der geschützte Personenkreis erstreckt sich nun auf alle Menschen mit Schwerbehinderung, unabhängig von Art und Ursache ihrer Behinderung.

19. April 1974
1. Juli 2001

Das Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) wird eingeführt.

Der (heutige) Teil 3 des Sozialgesetzbuchs umfasst das Schwerbehindertenrecht. Es wird in den Folgejahren umfassend reformiert. Dabei werden unter anderem die Inklusionsvereinbarung und das Betriebliche Eingliederungsmanagement eingeführt.

1. Juli 2001
26. März 2009

In Deutschland tritt die UN-Behindertenrechtskonvention tritt in Kraft.

Das Ziel der Konvention ist die volle Gleichberechtigung für alle Menschen mit Behinderungen mit Blick auf sämtliche Menschenrechte und Grundfreiheiten.

26. März 2009
23. Dezember 2016

Das Bundesteilhabegesetz wird erlassen.

Es tritt in vier Reformstufen bis 2023 in Kraft und umfasst Maßnahmen, die die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen verbessern sollen. Unter anderem erhält die Schwerbehindertenvertretung in Betrieben und Unternehmen (die so genannte Vertrauensperson) mehr Rechte und wird damit gestärkt.

23. Dezember 2016
1. Juli 2022

Die Schwerbehindertenvertretung feiert ihren 102. Geburtstag!

Außerdem werden die Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber (EAA) eingeführt. Sie informieren, beraten und unterstützen Arbeitgeber:innen bei der Ausbildung, Einstellung und Beschäftigung von Menschen mit Schwerbehinderung.

1. Juli 2022



OmniAssist: Ein Pilotprojekt für mehr Inklusion durch digitale Assistenzsysteme

Herr Kuhn, Sie und Ihr Team haben verschiedene Assistenzsysteme entwickelt, die im Projekt OmniAssist ausprobiert werden sollen. Welche sind das und wie funktionieren sie?

Wir haben eine Art Baukasten aus verschiedenen Systemen zusammengestellt. Unternehmen und Organisationen können sich daraus mit ein paar Klicks genau die Funktionen zusammenstellen, die sie für ihre Prozesse brauchen. Es gibt zum Beispiel eine Variante für stationäre Arbeitsplätze, das Mitarbeiter:innen bei Montagearbeiten unterstützt. Menschen mit Lernbehinderung können damit selbstständig komplexe Arbeitsabläufe umsetzen: Das System zeigt ihnen mit Lichtprojektionen und kurzen Videos an, aus welchen Greifkästen sie Bauteile nehmen und wie sie diese zusammenbauen müssen (Anm. d. Red.: Ein solches System haben wir in diesem Beitrag mit einem Film schon einmal vorgestellt).

Welche Systeme gibt es noch, die Menschen in anderen Situationen und Branchen unterstützen können?

Ein System funktioniert zum Beispiel mobil und ist deshalb für viele verschiedene Arbeitsumgebungen geeignet. Wir nennen es ‚Assistenz für die Hosentasche‘. Es erlaubt Betreuer:innen oder Vorgesetzten, Aufgaben und Anleitungen darin zu hinterlegen, die Mitarbeiter:innen mit Behinderung dann auf ihrem Smartphone oder Tablet abrufen können. Das ist zum Beispiel im Pflegebereich sehr nützlich oder in Hotels, im Housekeeping oder im Service etwa. Die Mitarbeiter:innen können mit Hilfe der Assistenz nämlich selbst durch ihren Arbeitstag navigieren. Sie schauen nach, wann welche Aufgabe dran ist und wie sie diese erledigen müssen – zum Beispiel, wie sie in einem Hotelzimmer den Filter einer Klimaanlage wechseln sollen. Anschließend haben sie die Möglichkeit, mit einem Foto zu dokumentieren, dass sie die Aufgabe erledigt haben, und dieses ins System hochladen.

Sind Ihre Systeme nur für solche regelmäßigen Aufgaben und Arbeitsabläufe gedacht?

Nein, bei Bedarf lassen sich immer wieder neue Inhalte einspielen. Ein Garten- und Landschaftsbauunternehmen etwa nutzt unser mobiles System, um Mitarbeiter:innen dabei zu unterstützen, die Autos für tagesaktuelle Aufträge zu bestücken. Eine Verwaltungskraft hinterlegt vorher im System, wer bei welchem Job welche Tätigkeit übernehmen soll und welche Werkzeuge dafür gebraucht werden. Die Mitarbeiter:innen können bei Bedarf nachschauen, wie diese Werkzeuge aussehen und wo sie zu finden sind.

Die Systeme sind also schon in der Praxis im Einsatz und funktionieren auch gut. Wozu dann noch ein Pilotprojekt?

Um zu schauen, ob ein System wirklich in der Breite einsetzbar ist und wie das am besten klappt. Wir sind uns sicher, dass dadurch mehr Inklusion am ersten Arbeitsmarkt möglich wird, dass Assistenzsysteme außerdem eine größere Wertschöpfung und mehr sozialversicherungspflichtige Jobs schaffen könnten. Deshalb möchten wir sie für möglichst viele verschiedenen Tätigkeiten ausprobieren und dabei zugleich wissenschaftlich überprüfen, was unter welchen Umständen gut funktioniert und wo vielleicht noch etwas verbessert werden muss.

Wie bewerten Sie das?

Ein Qualitätsmerkmal wäre zum Beispiel, wenn weniger Fehler bei einem Arbeitsablauf passieren, weil ein Assistenzsystem im Einsatz ist. Wichtig sind aber auch die Erfahrungen der Mitarbeiter:innen, der Vorgesetzten und der sonstigen Beteiligten in den Unternehmen. Deshalb sprechen wir mit allen, die mit den Systemen arbeiten. Wenn Betreuer:innen während der Arbeitszeit zum Beispiel seltener Fragen beantworten müssen und sich dadurch stärker auf andere Kolleg:innen im Team konzentrieren können, wäre auch das ein Mehrwert. Anhand solcher Erfahrungen wollen wir die Systeme anschließend weiter verbessern, damit sie langfristig in immer mehr Unternehmen eingesetzt und irgendwann Standard werden.

Welche Betriebe oder Einrichtungen nehmen an dem Pilotprojekt teil und wie läuft es ab?

Für das Projekt können sich sowohl Inklusionsunternehmen bewerben als auch gewöhnliche Firmen, die neue Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung einrichten möchten und dafür schon Bewerber:innen haben. Weil die Systeme so flexibel sind, sind wir nicht auf eine bestimmte Branche festgelegt. Das Projekt an sich ist in zwei Phasen unterteilt. Im Oktober beginnen wir im ersten Schritt mit den sogenannten Potenzialanalysen, in denen wir gemeinsam mit den Unternehmen herausfinden, welche Arbeitsplätze sie mit einer digitalen Assistenz inklusiv gestalten könnten. In der zweiten Phase richten wir die Systeme in Betrieben ein und bewerten diese nach den beschriebenen Kriterien zusammen mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe und der Technischen Hochschule Lemgo – wir überprüfen also, ob sich das System in der Praxis für den jeweiligen Arbeitsplatz lohnt. In der ersten Phase sollen zehn Unternehmen teilnehmen, für die Machbarkeitsstudie in der zweiten Phase haben wir sechs Betriebe eingeplant.

Wie unterstützen Sie die Unternehmen während der zweiten Phase des Projekts, also bei der praktischen Anwendung?

Wir richten die Assistenzsysteme direkt an den jeweiligen Arbeitsplätzen ein und begleiten die Betriebe sehr eng. Das heißt, wir vom Projektteam sind immer wieder selbst vor Ort, geben Impulse und Tipps oder helfen dabei, die Systeme individuell einzurichten. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass diese Unterstützung gerade für kleine und mittlere Unternehmen sehr wichtig ist. Denn die Verantwortlichen dort befürchten oft, dass solche digitalen Systeme nur etwas für IT-Expert:innen sind. Wir möchten aber zeigen, dass sie auch ohne Vorwissen oder eine aufwändige Einarbeitung genutzt werden können. Und wir hoffen, dass wir so Firmen, die bisher noch keine Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung bei sich eingerichtet haben, dazu ermutigen können, diesen Schritt zu gehen und inklusives Arbeiten auszuprobieren. Das Projekt ist für die Unternehmen übrigens kostenlos. Sie müssen erst dann etwas zahlen, wenn sie sich dazu entscheiden, ein System nach Ende des Projekts zu behalten und im Alltag einzusetzen.


Neugierig geworden?

Kleine oder mittelständische Unternehmen können sich noch bis Ende September 2022 direkt per E-Mail beim Team von delta3 für das Pilotprojekt bewerben!