Fundstück der Woche: Berufseinstieg als Gebärdensprachdolmetscherin

Corinna Brenner wollte eigentlich Lehrerin werden. Sie merkte aber schnell, dass der Beruf doch nicht der richtige für sie ist, und brach das Studium ab. Ein Zufall brachte sie auf die Idee, Dolmetscherin für Deutsche Gebärdensprache und Schriftdeutsch zu werden. Nach ihrem Studium arbeitete sie erst einmal freiberuflich und dolmetschte unter anderem Debatten im Deutschen Bundestag (oder auch die Neujahrsansprache 2020 der Bundeskanzlerin). Dabei war sie so erfolgreich, dass sie schon nach ein paar Wochen eine Festanstellung bekam.

Im SPIEGEL-Beitrag „Berufseinstieg als Gebärdensprachdolmetscherin“ erzählt sie, wie sie ein Gebärdensprachvideo aufnimmt und warum es für sie ein großer Vorteil ist, selbst gehörlos zu sein. Ein toller Einblick in den Arbeitsalltag dieses interessanten Berufs!

Und noch ein Tipp zum Weiterlesen: In diesem Beitrag haben wir Fragen, Antworten und spannende Fakten zur Gebärdensprache für euch zusammengestellt.




„Die Beratung soll immer eine Begegnung auf Augenhöhe sein“

Frau Gühne, was unterscheidet Ihr Projekt von anderen Beratungsangeboten?

Wir bieten Eins-zu-eins-Patenschaften an, dadurch ist die Beratung sehr individuell. Und wir setzen keine zeitliche Grenze. Es dauert so lange, wie eine Person eben Unterstützung braucht. So etwas bieten sonst eigentlich nur professionelle Coaches an, die dafür aber hohe Honorare abrechnen. Unser Angebot dagegen ist für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kostenlos. Das Projekt wird nämlich von der Aktion Mensch gefördert.

Wie unterstützen die Jobpatinnen und -paten Menschen mit Behinderung?

Das hängt ganz davon ab, welche Ziele die oder der Arbeitssuchende hat. Für viele steht an erster Stelle, sich im Berufsleben neu zu orientieren, weil sie wegen einer Erkrankung ihren Job aufgegeben oder ihre Ausbildung unterbrochen haben. Wenn jemand wegen eines Burnouts oder einer Depression pausiert hat, geht es oft um die Frage: Gehe ich zurück in meinen Beruf oder komme ich mit einer Erwerbsminderungsrente aus? Manchmal kann das Ziel auch sein, als Ergänzung zur Erwerbsminderungsrente ein passendes Ehrenamt zu finden. Das ist also wirklich ganz unterschiedlich. Deshalb beginnt die Beratung auch immer damit, dass die Teilnehmer:innen und die Pat:innen zusammen das Ziel ganz klar formulieren. Anschließend suchen sie gemeinsam nach passenden Stellenangeboten, schreiben Bewerbungen oder recherchieren, welche Fort- oder Weiterbildung ein guter nächster Schritt wäre.

Für wen ist das Angebot gedacht?

Wir haben die Zielgruppe bewusst weit gefasst. Bei uns können sich Menschen mit Behinderung, einer seelischen Erkrankung oder anderen Einschränkungen anmelden. Und zwar ausdrücklich auch dann, wenn sie ihre Schwerbehinderung nicht haben anerkennen lassen oder gerade noch darüber nachdenken, ob sie das tun wollen. Manche Menschen entscheiden sich bewusst dagegen. Aber das ist kein Hindernis, sie können trotzdem am Projekt teilnehmen.

Wer sind die Patinnen und Paten?

Einige unserer Pat:innen sind schon im Ruhestand, die meisten stehen aber selbst noch im Berufsleben. Sie haben ganz unterschiedliche Jobs. Neben Unternehmensberater:innen und Coaches sind zum Beispiel auch ein Polizist und eine Kapitänin und Nautikerin dabei. Das sind tolle Leute und es macht mir viel Spaß, mit ihnen zu arbeiten. Die meisten hatten vor dem Projekt gar keinen Bezug zur Zielgruppe. Sie möchten einfach etwas in die Gesellschaft zurückgeben und Menschen unterstützen, die es nicht so einfach haben. Viele finden es auch spannend, andere Menschen kennenzulernen und über ihren eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Und für manche ist es eine Motivation, in unserem Projekt Fähigkeiten einzubringen, die sie in ihrem Beruf nicht einsetzen können.

Gibt es eine Art Einstiegsvoraussetzung für dieses Ehrenamt?

Ich treffe mich mindestens zweimal mit allen Interessent:innen, um über das Projekt und das Ehrenamt zu sprechen. Anschließend nehmen die Pat:innen an einer Einstiegsqualifizierung teil, bei der wir ihnen ein paar Tipps für die Beratung geben. Wir haben außerdem einen Ehrenkodex, der für alle gilt. Wir achten zum Beispiel sehr auf Pünktlichkeit und auf Respekt für religiöse, sexuelle und herkunftsbezogene Besonderheiten. Die Beratung soll immer eine Begegnung auf Augenhöhe sein. Unsere Pat:innen sind also handverlesen. Für die Teilnehmer:innen in unserem Projekt geht es ja um sehr wichtige Entscheidungen. Das kann manchmal auch für Pat:innen eine große Herausforderung sein. Wir bieten ihnen deshalb regelmäßig Workshops an, bei Bedarf auch eine Supervision.

Zu Ihrem Projekt gehören auch Weiterbildungen für Menschen mit Behinderung. Um welche Themen geht es dabei?

In unserem Einstiegsworkshop informieren wir über die Rechte von Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt. Viele wissen darüber nämlich recht wenig. Wir beantworten in dem Kurs deshalb ganz grundlegende Fragen: Muss ich meine Behinderung offenlegen, wenn ich mich auf eine Stelle bewerbe? Wie viele Urlaubstage bekomme ich? Ist es sinnvoll, meine Schwerbehinderung anerkennen zu lassen? Wie viel Rente werde ich später bekommen?
Wir bieten außerdem Workshops an, in denen die Teilnehmer:innen lernen, auch in Stresssituationen achtsam mit sich umzugehen und sich nicht so stark unter Druck zu setzen. So etwas ist ja sehr wichtig, um im Beruf erfolgreich und auch glücklich zu sein. Und ein- oder zweimal im Monat können sich die Teilnehmenden bei uns treffen, sich bei einem Kaffee kennenlernen und sich untereinander austauschen.

Wie viele Menschen haben mit Hilfe der „Jobbrücke“ schon eine neue Stelle gefunden?

Wir sind Anfang 2020 gestartet und bekommen drei Jahre lang Fördergelder von der Aktion Mensch. Das Ziel ist, insgesamt 75 Teilnehmer:innen zu erreichen. 2020 haben sich 25 Menschen angemeldet, das ist eine gute Zwischenbilanz.
Mit den Bewerbungen lief es durch die Corona-Pandemie natürlich etwas schleppender an als erwartet. Drei Menschen haben aber schon Arbeitsverträge unterschrieben und sind glücklich in ihren neuen Jobs. Einer von ihnen hat sogar die Aussicht, in seinem Unternehmen später eine Weiterbildung zu machen. Ein anderer Teilnehmer hat eine Ausbildung begonnen. Einige weitere wollen noch ihre Corona-Impfung abwarten, bevor sie einen neuen Job anfangen. Und bei den übrigen läuft die Patenschaft derzeit noch, sie brauchen noch etwas Zeit.

Wie sind Sie zu Ihrem Job bei dem Projekt gekommen?

Ich bin Seiteneinsteigerin, deshalb war ich gewissermaßen prädestiniert für diese Stelle. Ich habe mich nämlich auch ganz neu orientiert, als ich Anfang 40 war. Bis dahin hatte ich viele Jahre lang in der Kulturbranche gearbeitet und wollte gerne in einen sozialen Beruf wechseln. Dafür habe ich eine Ausbildung im Bereich Social Marketing und Fundraising gemacht. Ein Job soll ja Spaß machen und erfüllend sein – das gilt für mich genauso wie für die Menschen, die wir hier beraten. —




Fundstück der Woche: ZEIT-Artikel über adaptive Mode

Kleidung für Menschen mit körperlichen Behinderungen war lange Zeit vor allem praktisch und funktional, aber nicht unbedingt schön und modisch. Bei den Modeschauen und Kampagnen der großen Marken kamen kaum Menschen mit Behinderung vor. Doch nun wird die Branche allmählich inklusiver.

In den USA und in Kanada gibt es schon etliche Label, die sogenannte adaptive (also barrierefreie) Mode anbieten. Und auch in Europa wächst der Markt für barrierefreie, schicke Kleidung. Einige Marken führen sogar Kollektionen, die für Menschen mit und ohne Behinderung designt ist. Die Hersteller verarbeiten dabei etwa versteckte Magnetknöpfe, die sich auch mit einer Hand oder mit einer eingeschränkten Feinmotorik schließen lassen – anstelle von Knöpfen, die durch ein Knopfloch geführt werden müssen.

Worauf Hersteller bei adaptiver Mode sonst noch achten sollten und warum es trotzdem schwierig ist, wirklich inklusive Kollektionen zu entwerfen, lest ihr in diesem Beitrag des ZEIT-Magazins.




VIER FRAGEN AN… Mechthild Schickhoff, Inklusionsberaterin bei der Landwirtschaftskammer NRW

#1: Frau Schickhoff, welche Aufgaben haben Sie als Inklusionsberaterin?

Ich bin Ansprechpartnerin für landwirtschaftliche Betriebe, die Menschen mit Behinderung ausbilden oder einstellen möchten. Außerdem berate ich Betriebsleiter:innen, wenn ein:e Mitarbeiter:in nach einer Erkrankung oder einem Unfall eine Behinderung hat. Ich informiere dazu, welche Expertinnen und Fachstellen dabei unterstützen können, den Arbeitsplatz und die Arbeitsabläufe behinderungsgerecht umzugestalten. Diese Lotsenfunktion ist überhaupt sehr wichtig. Ich bin also die erste Anlaufstelle für alle Fragen und Anliegen rund um das Thema. Wenn ich nicht selbst zuständig bin, vermittle ich an die richtigen Personen weiter und stelle Kontakte her.
Ich mache darüber hinaus viel Aufklärungsarbeit und fahre zum Beispiel zu Tagungen der Landwirtschaftskammer oder zu Fachschulen, um das Thema dort vorzustellen. An den Fachschulen bilden sich Landwirt:innen zu:r Meister:in oder Agrarbetriebswirt:in fort. Das sind Menschen, die später in einer verantwortlichen Position als Hofnachfolger:in oder Betriebsleiter:in arbeiten – da ist es gut, früh Kontakte zu knüpfen und auf das Thema Inklusion aufmerksam zu machen.
Wenn Interesse besteht, besuche ich natürlich auch einzelne Betriebe, um vor Ort konkrete Fragen zu besprechen. Leider hält sich oft noch hartnäckig die Vorstellung, dass landwirtschaftliche Berufe für Menschen mit Behinderung nicht gut geeignet sind, vor allem nicht für Menschen mit körperlichen Behinderungen. Dieses Vorurteil ist nicht nur bei den Verantwortlichen in der Branche weit verbreitet, sondern auch bei Eltern, Betreuungs- und Lehrkräften. Meine Aufgabe ist es, dieses Bild aufzubrechen.

#2: Mit welchen Fragen oder Anliegen wenden sich landwirtschaftliche Betriebe besonders oft an Sie?

Das hängt stark vom Vorwissen der Verantwortlichen ab. Manche möchten einen inklusiven Arbeitsplatz in ihrem Betrieb einrichten und stellen erst einmal sehr grundsätzliche Fragen: Was ist eine Schwerbehinderung? Und was bedeutet es für mich als Arbeitgeberin oder Arbeitgeber, einen Menschen mit Schwerbehinderung einzustellen?
Manche fragen auch sehr konkret nach den Förderungsmöglichkeiten oder dem Kündigungsschutz. Oder es geht darum, eine passende Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter für eine Stelle zu finden. In diesen Fällen greife ich auf mein Netzwerk zurück und frage bei Arbeitsagenturen, Integrationsfachdiensten und Schulen nach, ob sie jemanden kennen, die oder der für die Stelle in Frage kommt.
Diese Netzwerkarbeit funktioniert übrigens auch andersherum. Manchmal melden sich zum Beispiel Mitarbeiter:innen von Integrationsfachdiensten bei mir, weil ein Mensch mit Behinderung ein Praktikum in einem landwirtschaftlichen Betrieb machen möchte oder einen festen Arbeitsplatz sucht. Ich frage dann nach, ob die Person lieber im Bereich Gemüseanbau, Grünland- oder Tierpflege arbeiten möchte. Anschließend spreche ich Kolleg:innen aus der Landwirtschaftskammer an, die vielleicht einen passenden Betrieb empfehlen können.

#3: In welchen landwirtschaftlichen Bereichen können Sie (junge) Menschen mit Behinderung dabei unterstützen, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu finden?

Die Landwirtschaftskammer ist für insgesamt zwölf Ausbildungsberufe in der Branche zuständig. Neben der Ausbildung zur Landwirtin oder zum Landwirt gibt es beispielsweise auch den Beruf „Fachkraft Agrarservice“. Wer darin ausgebildet ist, bedient landwirtschaftliche Maschinen und mäht, pflügt oder erntet im Auftrag von Betrieben. Tierwirt:innen wiederum spezialisieren sich in der Ausbildung auf eine bestimmte Tierart, etwa Schweine oder Geflügel. Auch die Bereiche Gartenbau und Forstwirtschaft gehören zu den so genannten grünen Berufen, zu denen das Team der Landwirtschaftskammer und ich beraten können.
Wenn jemand keine klassische Ausbildung machen kann oder möchte, gibt es auch noch die Berufe der Landwirtschaftsfachwerker:in, Werker:in im Gartenbau oder Werker:in in der Forstwirtschaft. Diese Ausbildungen haben einen kleineren Theorie-Teil als die anderen Berufe.
Manche landwirtschaftlichen Betriebe stellen übrigens auch Menschen ein, die gar keine Berufsausbildung haben, aber gerne in der Landwirtschaft arbeiten möchten. Sie werden dann für bestimmte Hilfstätigkeiten angelernt.

#4: Wie sind die Zukunftsaussichten für junge Menschen mit Behinderung, die in einem landwirtschaftlichen Betrieb arbeiten möchten?

In der Landwirtschaft findet derzeit ein Strukturwandel statt, der einen Blick in die Zukunft sehr schwer macht. Es zeichnen sich aber zwei große Trends ab. Zum einen werden landwirtschaftliche Betriebe immer größer und brauchen deshalb auch mehr Mitarbeiter:innen. Wie in vielen anderen Branchen fehlen aber auch in der Landwirtschaft Fachkräfte. Das kann eine Chance für die Inklusion sein. Menschen mit Lernbehinderungen oder kognitiven Beeinträchtigungen können wiederkehrende Hilfs- und Handarbeiten übernehmen und dadurch die Fachkräfte entlasten. Landwirtschaftsfachwerker:innen und angelernte Arbeitskräfte bleiben zudem, wenn alles passt, dauerhaft im Unternehmen. Das sehen viele Betriebsleiter:innen als Pluspunkt, sie suchen deshalb gezielt nach solchen Mitarbeiter:innen.
Gleichzeitig gibt es aber auch Unternehmen, die gern ausgebildete Landwirt:innen anstellen möchten, die die Betriebsleitung entlasten und bei Krankheit oder Urlaub vertreten können. Denn je mehr digitale Lösungen ein landwirtschaftlicher Betrieb einsetzt, desto mehr qualifizierte Mitarbeiter:innen werden dort gebraucht. Je nach Arbeitsbereich können Menschen mit körperlichen Behinderungen diese Aufgaben sehr gut übernehmen, bei Bedarf bekommen sie dafür technische Arbeitshilfen. Ich kenne etliche Betriebe, in denen das gut geklappt hat und die Betriebsleitung und die angestellten Landwirt:innen sehr zufrieden sind. Ich hoffe, dass meine Kolleg:innen und ich durch unsere Aufklärungsarbeit noch mehr landwirtschaftliche Betriebe dafür gewinnen können, inklusive Arbeitsplätze einzurichten.


Lesetipp

Tobias Koddebusch mit seinem Fahrrad auf dem Hof

Bei Tobias Koddebusch hat es geklappt: Der junge Mann mit Down-Syndrom hat bei der preisgekrönten Bertelsbeck GbR in Coesfeld seinen Traumberuf gefunden – also bei einem landwirtschaftlichen Betrieb auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. 2019 haben wir auf unserem Blog eine Reportage über ihn veröffentlicht.

Impfen, füttern, ausmisten: Wie ein 19-Jähriger seinen Traumjob fand




„Ich habe meine Bilder im Kopf und transportiere sie durch die Fotografie nach außen“

Frau Emmermann, Sie haben uns für diesen Beitrag ein tolles Foto zugeschickt. Darauf ist eine Frau mit langen Haaren zu sehen, die rote Handschuhe trägt und sich die Augen zuhält. Die Handschuhe und die Haare leuchten. Wie haben Sie das gemacht?

Mit einer Technik, die „Light Painting“ (auf Deutsch: „Licht-Malerei“) heißt. Sie kennen sicher Bilder, die im Dunklen aufgenommen wurden und auf denen jemand mit einer Taschenlampe oder mit Wunderkerzen Wörter oder Formen in die Luft „geschrieben“ hat. So ähnlich arbeite ich auch. Die Kamera wird in einem dunklen Raum oder bei Nacht draußen aufgestellt und nimmt mehrere Sekunden, Minuten oder sogar Stunden auf. Während der Belichtungszeit leuchte ich meine Motive mit unterschiedlich großen Taschenlampen, Knicklichtern oder Lichterketten an, manchmal direkt von vorne, manchmal von der Seite, manchmal befindet sich die Lichtquelle auch hinter dem Motiv – je nach dem gewünschten Effekt. Ich spiele mit dem Licht.
Für das Foto, das ich Ihnen geschickt habe, habe ich mit kleinen Lampen die Haare und die Handschuhe angeleuchtet. Der besondere Effekt ist unter anderem dadurch entstanden, dass der glänzende Stoff der Handschuhe das Licht reflektiert hat.

War das so geplant?

Nein, bei diesem Bild hat sich vieles erst im Prozess ergeben. Es war eines der ersten Fotos, die ich mit der Light-Painting-Technik aufgenommen habe. Ich wollte einen Bezug zum Nicht-sehen-Können herstellen und hatte die Idee, dass das Modell sich die Augen zuhalten soll. Den Rest haben wir während des Shootings erarbeitet. Inzwischen setze ich das Light Painting ganz gezielt ein und plane meine Motive vorher sehr gründlich. Ich habe die Bilder im Kopf und transportiere sie über Fotos nach außen.

Wann haben Sie die Fotografie für sich entdeckt?

Ich habe schon als Jugendliche sehr gerne fotografiert. Mein Vater hatte mir seine alte Kamera gegeben, damit habe ich im Urlaub und bei Festen Bilder gemacht. Diese Kamera habe ich lange benutzt, aber irgendwann ging es nicht mehr und es hat keinen Spaß mehr gemacht, weil ich nicht mehr richtig durch den Sucher schauen konnte.

Das hat mit Ihrer starken Sehbehinderung zu tun. Können Sie beschreiben, was Sie sehen können und was nicht mehr?

Ich habe die Netzhaut-Erkrankung Retinitis pigmentosa, die zu einer schleichenden Erblindung führt. Mit Anfang 30 habe ich die Diagnose bekommen. Inzwischen bin ich blind mit einem kleinen Sehrest. Ich kann noch ein bisschen hell und dunkel erkennen.

Wie haben Sie Ihr Jugend-Hobby später wiederentdeckt?

Die ersten Bilder habe ich mit meinem Smartphone gemacht, wenn ich schöne Momente erlebt habe oder in einer Gegend war, die ich kannte und mochte. Zum Beispiel an einem Ort an der Ostsee, wo ich schon als Kind Urlaub gemacht hatte. Wenn man dort zwischen den Dünen hindurch zum Strand läuft, kommt man an einen kleinen Durchgang mit Blick aufs Meer, rechts und links sind Sträucher und Bäume, wunderschön. Dieses Panorama wollte ich einfangen. Mit dem Smartphone geht so etwas ganz gut, weil es vieles automatisch einstellt und viele Bildinformationen ansagt, etwa den Fokus und wie viele Gesichter im Bildausschnitt zu sehen sind.

Heute arbeiten Sie zusammen mit anderen blinden Fotografinnen und Fotografen in einem Fotostudio. Wie kam es dazu?

Ich hatte mich vor Jahren zu einem Projekt der Alice-Salomon-Hochschule hier in Berlin angemeldet. Das ist eine Hochschule für Soziale Arbeit und Gesundheitsberufe. Bei dem Projekt haben Studentinnen und Studenten blinde Menschen beim Fotografieren begleitet und sie unterstützt, indem sie ihnen die Umgebung, die Motive und die Bilder beschrieben haben. Vor ein paar Jahren habe ich dann in einem Workshop das Light Painting kennengelernt und tolle Kolleginnen und Kollegen getroffen. Wir haben nach dem Kurs zusammen in einem Fotostudio weitergemacht, das speziell für blinde Menschen und das Light Painting eingerichtet ist. Wir alle arbeiten mit Light Painting und tauschen uns dazu viel aus. Wir gestalten in unserem Studio gemeinsam Ausstellungen. Zuletzt haben wir unsere Bilder bei f3 – freiraum für fotografie gezeigt. Außerdem bieten wir Workshops an, etwa für soziale Projekte. Es macht Spaß, Menschen diese Technik zu zeigen. Vor allem Kinder sind davon total begeistert.

Arbeiten Sie bei Ihren Foto-Shootings allein?

Nein, ich habe immer eine Assistentin oder einen Assistenten dabei, meistens Freundinnen und Freunde von mir, die selbst auch fotografieren oder sich einfach dafür interessieren. Sie stellen für mich die Kamera so ein, dass sie das Motiv genau so erfasst, wie ich es mir vorstelle. Wenn wir ein Bild gemacht haben, beschreiben sie es mir mit allen Details – so, wie es damals auch die Studentinnen und Studenten an der Hochschule gemacht haben. Anhand dieser Informationen kann ich entscheiden, ob ein Foto gut geworden ist oder ob wir noch etwas verändern müssen.

Welche Motive fotografieren Sie am liebsten?

Ich mache gerne Bilder von Menschen, zuletzt habe ich mich viel mit Händen beschäftigt. Das sind Körperteile, die Halt und Sicherheit geben und Mut machen können. Das möchte ich zeigen. Auf einem Foto sind zwei Frauen zu sehen, die sich über einen symbolisch dargestellten Fluss hinweg die Hände reichen. Zwischen den Händen habe ich mit Taschenlampen Lichtstreifen erzeugt, um ihre Verbindung darzustellen.
Ich finde es aber auch sehr spannend, abstrakte Formen zu schaffen. Für ein Foto habe ich mich zum Beispiel ganz dunkel gekleidet und mit schwarzen Handschuhen eine Taschenlampe gehalten, die wir vorher mit buntem Transparentpapier beklebt hatten. Ich habe sie schräg in die Kamera gehalten und spiralförmig bewegt, dabei bin ich von der Kamera aus rückwärtsgelaufen. Dadurch ist ein Bild mit 3D-Effekt entstanden. Die Form hat Ähnlichkeit mit einer Luftschlange.

Ist die Fotografie für Sie ein Hobby oder ein Beruf?

Sie ist nicht mein Beruf, aber mehr als ein Hobby. Die Fotografie ist für mich eine Möglichkeit, Gefühle und Erlebnisse kreativ zu verarbeiten und auszudrücken. Im Hauptberuf arbeite ich in der Finanzabteilung der Berliner Verkehrsbetriebe.




Wie die Covid-19-Impfung barrierefrei organisiert werden kann

Der Autor fasst in seinem Artikel die „Empfehlungen für barrierefreie Impfzentren“ zusammen. Diese wurden gemeinsam vom Deutschen Gehörlosen-Bund, dem Verein „Sozialheld*innen“ und elf weiteren Organisationen formuliert und den Verantwortlichen in der Bundes- und den Landesregierungen übergeben. Die Anmeldung für die Impftermine ist nun tatsächlich schon barrierefrei organisiert, so, wie es die Organisationen fordern – das geht nämlich telefonisch oder schriftlich. Menschen mit Seh- oder Hörbehinderung können also bereits ohne fremde Hilfe einen Termin vereinbaren.

Constantin Grosch erklärt darüber hinaus, was in den Impfzentren selbst und bei der Organisation der Abläufe vor Ort wichtig ist. Hier könnt ihr seinen ganzen Beitrag auf „Die Neue Norm“ lesen.




Faire Mode für alle

Herr Kowalewski, wie kamen Sie auf die Idee, eine Modemanufaktur als Inklusionsunternehmen zu gründen?

Dafür muss ich etwas ausholen: Ich wollte schon immer gerne mit Menschen mit Behinderung arbeiten, diese Begeisterung ist mir sozusagen zugeflogen. Als ich meinen Zivildienst gemacht habe, habe ich aber leider keine passende Stelle bekommen. Vor einigen Jahren hat es dann geklappt. Ich hatte 13 Jahre lang in der Industrie gearbeitet, zuletzt bei der Firma Zeiss. Zwischen meinem Wohnort und meinem Arbeitsplatz musste ich weite Strecken pendeln. Außerdem war mir das Unternehmen zu groß. Es passte einfach nicht mehr, deshalb habe ich gekündigt. Eigentlich wollte ich mir direkt eine neue Stelle in einem anderen Unternehmen suchen, habe mich dann aber erst einmal für eine Auszeit entschieden, mich beim Bundesfreiwilligendienst beworben und in einem sonderpädagogischen Zentrum gearbeitet. Danach kam es für mich nicht mehr in Frage, in meine „alte“ Arbeitswelt zurückzukehren. Ich wollte etwas machen, das am Gemeinwohl orientiert ist und die Gesellschaft weiterbringt.

Und da kam Ihnen die Idee zu „Wasni“?

Nicht sofort. Anfangs hatte ich nur eine sehr vage Vorstellung, die dann immer konkreter wurde. Ich wollte etwas herstellen, das nachhaltig ist und den fairen Handel stärkt. Gleichzeitig hat mich sehr beschäftigt, dass es Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt oft noch so schwer haben. Viele sind in Werkstätten für behinderte Menschen unterfordert, bekommen in klassischen Unternehmen aber leider keine Chance. Ich wollte und will gerne beweisen, dass es anders geht und dass Inklusionsunternehmen auch langfristig am Markt bestehen und erfolgreich sein können. Die Idee, Kleidung herzustellen, ist durch einen Zufall entstanden – ich selbst kann gar nicht nähen. Eine Nachbarin, die selbst Taschen produziert, brachte mich auf den Gedanken.

Wie groß war Ihr Team, als Sie gegründet haben?

Wir haben zu dritt angefangen. Ich habe über Stellenanzeigen beim Arbeitsamt und private Kontakte zwei junge Kolleginnen gefunden, die nähen können. Nadine Feist ist gelernte Modedesignerin und Maßschneiderin und hat die Schnitte für unsere Kleidungsstücke entworfen. Yaprak Cukurova ist Modeteilnäherin, sie schneidet unter anderem die einzelnen Teile für die Sweatshirts und Jacken zu. Sie ist gehörlos, deshalb macht unser Team gerade einen Gebärdensprachkurs. Inzwischen arbeiten zehn Menschen bei „WASNI“.

Sie bieten auch Maßanfertigungen an. Gehörte das von Anfang an zu Ihrem Konzept?

Nein, auch diese Idee ist uns zufällig zugeflogen. (lacht) Einen Tag vor der Eröffnung unserer Manufaktur und unseres kleinen Ladens in Esslingen hatten wir die Idee, dass die Kundinnen und Kunden sich besondere Farben für die Bündchen, das Innenfutter der Kapuzen und die Reißverschlüsse aussuchen können. Wir wollten etwas Besonderes anbieten, mit dem wir uns von der Konkurrenz abheben. Und diese Teile werden sowieso separat vernäht, das bedeutet also keinen Mehraufwand.
Der richtige Durchbruch kam dann am Eröffnungstag. Ein sehr großer, schlanker Mann wollte bei uns ein Sweatshirt kaufen. Er erzählte, dass er beim Kleidungskauf immer dasselbe Problem hatte: In der Weite reichte ihm eigentlich die Konfektionsgröße M. Damit Rumpf und Ärmel in der Länge passten, musste er aber Größe XL kaufen. So entstand die Idee zu unserem Konfigurator im Online-Shop, in dem unsere Kundinnen und Kunden alle Farben und Maße individuell auswählen können. Für die Maßanfertigungen berechnen wir übrigens keinen Aufpreis. Wir möchten niemanden durch höhere Kosten dafür „bestrafen“, dass ihr oder ihm Standardgrößen nicht passen. Unser Motto „Wenn anders sein normal ist“ gilt ja nicht nur für unser Team, sondern auch für unsere Kundschaft. Für uns schließt sich damit ein Kreis.

Eine Nähmaschine und die Hände einer Person, die gerade ein Stoffstück näht.
Arbeiten an der Nähmaschine in der wasni-Manufaktur in Esslingen. Foto: wasni/Sandra Eberwein

Rechnet es sich für Ihr Unternehmen, alle Kleidungsstücke in Handarbeit und aus fair gehandeltem Bio-Stoff zu nähen? Die meisten Modefirmen lassen ihre Ware ja in Ländern mit einem deutlich niedrigeren Lohnniveau herstellen und verarbeiten herkömmliche Baumwolle.

Eine Kapuzenjacke kostet bei uns 79 Euro. Wir orientieren uns an den Preisen des Unternehmens „Armedangels“, das auch fair gehandelte Kleidung verkauft, und der Firma Trigema, die ausschließlich in Deutschland produziert. Wahrscheinlich würden einige Kundinnen und Kunden auch mehr für unsere Pullover bezahlen, aber wir möchten ja viele Menschen erreichen. Wir können mit unseren Preisen vor allem deshalb wirtschaftlich arbeiten, weil wir ausschließlich in unserem eigenen Laden und über unseren Online-Shop verkaufen. Wir arbeiten nicht mit Zwischenhändlern zusammen. Außerdem dürfen wir sieben statt 19 Prozent Mehrwertsteuer berechnen, weil wir ein gemeinnütziges Unternehmen sind.

Und reicht das für einen Gewinn?

Natürlich erwirtschaften wir keine hohen Profite, aber das ist auch nicht unser Anspruch. Meine beiden ersten Mitarbeiterinnen und ich haben nach der Gründung zum Mindestlohn von 8,50 Euro gearbeitet, inzwischen haben wir den Stundenlohn auf 12 Euro angehoben. Das ist immer noch wenig, für die Branche aber in Ordnung. Alle Gewinne, die übrigbleiben, müssen wir als gemeinnütziges Unternehmen sowieso wieder in den Betrieb investieren.

Bekommen Sie Fördermittel oder eine andere finanzielle Unterstützung?

Ja, wie alle Inklusionsunternehmen können wir Fördermittel aus der sogenannten Ausgleichsabgabe beantragen. Diese Abgabe müssen Firmen zahlen, die keine oder zu wenige Menschen mit Behinderung beschäftigen, obwohl sie dazu eigentlich gesetzlich verpflichtet sind. Aus diesem Topf bekommen Inklusionsbetriebe zum Beispiel Zuschüsse zu Investitionen, wenn sie einen Menschen mit Schwerbehinderung neu einstellen. Wir haben damit unter anderem einen höhenverstellbaren Tisch für Nähmaschinen finanziert, weil Nadine kleinwüchsig ist. Darüber hinaus bekommen wir Zuschüsse zu den Lohnkosten. Die kann jedes Unternehmen beantragen, das Menschen mit Behinderung einstellt, ob Inklusionsbetrieb oder nicht.

Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?

Wir haben dieses Jahr 3.000 Pullis verkauft, unser Ziel sind 5.000 bis 6.000. Es geht uns aber nicht darum, der größte Hoodie-Hersteller zu werden. Wir möchten Vorbild sein und zeigen, dass unser Geschäftsmodell funktioniert. Dafür muss unser Unternehmen eben mehr sein ein „nettes, kleines Atelier“. Wir wollen ja etwas bewegen.






4 Fragen an… Natalie Dedreux

Natalie, warum arbeitest du gerne als Journalistin?

Die Arbeit beim „Ohrenkuss“ ist meine Leidenschaft, ohne geht für mich gar nichts. Es macht Spaß, viel zu recherchieren und einfach drauflos zu schreiben. Wir sind 20 Kolleginnen und Kollegen mit Down-Syndrom, die sich regelmäßig zu den Redaktionssitzungen treffen. Für jedes „Ohrenkuss“-Heft haben wir ein Thema, zum Beispiel die Natur, die Familie oder Reisen. Dazu suchen wir im Internet und dann schreibt jeder einen Text. Manche Kollegen diktieren ihren Text auch.
Letztes Jahr habe ich auch ein Praktikum beim „Deutschlandfunk“ gemacht. Da habe ich über die Untersuchung von ungeborenen Kindern während einer Schwangerschaft recherchiert. Und ich habe Meldungen darüber geschrieben, was in der Welt passiert – zu ganz unterschiedlichen Themen. Das hat mir auch gut gefallen. Die Meldungen wurden später im Radio vorgelesen.

Wo würdest du gerne noch mehr arbeiten?

Ich würde gerne fürs Fernsehen arbeiten, weil ich dann noch berühmter werden könnte. Ich möchte, dass Menschen mit Down-Syndrom mehr gesehen werden und bekannter sind. Im Fernsehen, auf Instagram, überall. Deshalb mache ich auch viel auf Instagram und zeige da mein cooles Leben und meine Reisen, die ich mit meiner Familie mache. Meine Freunde, die auch das Down-Syndrom haben, haben auch Internetseiten und posten viele Bilder bei Instagram.

Was würdest du in der Welt gern verändern?

Es soll mehr Inklusion geben, vor allem bei der Arbeit und in der Schule. Da hapert es noch am meisten. Ich war auf einer inklusiven Schule und fand das gut. Es gibt mehr Bildung und alle sind zusammen, auch Menschen mit Behinderung. Im Beruf sollen auch alle zusammenarbeiten. Wenn Menschen mit Behinderung eine Assistenz bekommen, dann funktioniert das. Ich kann zum Beispiel sehr gut Texte schreiben, aber bei der Recherche brauche ich manchmal meine Assistentin. Sie übersetzt für mich Texte, die in Schwerer Sprache geschrieben sind, in Leichte Sprache.

Welche Ziele hast du noch für dein Leben?

Ich möchte weiter als Aktivistin für Menschen mit Down-Syndrom kämpfen, sie gehören zur Welt und zur Gesellschaft. Deshalb habe ich im März 2019 eine Petition gegen den Pränataltest auf das Down-Syndrom gestartet. 28.000 Leute haben schon unterschrieben. Das finde ich gut. Ich möchte, dass gegen den Bluttest richtig Krach gemacht und demonstriert wird. Der Test soll nicht von den Krankenkassen bezahlt werden. Und ich will, dass die Politiker über meine Petition diskutieren.




Schauspielerin Lucy Wilke bekommt Theaterpreis „FAUST“

Ein Jahr lang schrieb Lucy Wilke täglich den Satz „Ich möchte schauspielern“ in ihr Tagebuch. Zum Theater zieht es sie schon seit ihrer Kindheit, denn ihr Vater war Bühnenbauer und die Familie lebte in einem Wohnwagen neben einem Münchner Theaterzelt. Weil sie wegen einer Muskelerkrankung mit Rollstuhl lebt, traute sich Lucy Wilke aber lange Zeit nicht, selbst eine Karriere als Schauspielerin zu beginnen.

Inzwischen arbeitet sie aber in ihrem Traumberuf. Die Theaterperformance „Fucking Disabled“ machte sie bekann, für das Stück »Scores that shaped our friendship« erhielt sie jetzt sogar den DER FAUST-Theaterpreis in der Kategorie ‚Beste Darsteller:in Tanz‘. Hier hat das Münchner Feuilleton eine lesenswerte Kritik dazu veröffentlicht.




Inklusion vor und hinter der Kamera

Welche Filme haben die „compagnons“ schon gedreht und an welchen Projekten arbeiten Sie zurzeit?

Elisabeth Dinh (ED): Wir entwickeln und drehen Dokumentarfilme, die meist einen Bezug zur Stadt Bremen haben. Wir haben auch schon zwei Spielfilme umgesetzt, die beide im Kino gezeigt wurden. Unser Spielfilm „Apostel & Partner“ lief anschließend im Fernsehen. Im Moment bemühen wir uns um einen Sendeplatz für unseren zweiten Film „Mae goes away“, in dem die Hauptfigur Mae ihren Mann verlässt, in ein neues Leben aufbricht und neue Freunde findet. Der Film ist also Beziehungsdrama und Roadmovie zugleich. Seit einigen Wochen arbeiten wir an unserem dritten Spielfilm mit dem Arbeitstitel „2035 Abgestürzt“, in dem es um den Klimawandel gehen wird.

Wie stellen Sie die Teams zusammen, mit denen Sie an diesen Filmprojekten arbeiten?

Jürgen Köster (JK): Je nach Projekt unterstützen uns eine externe Dramaturgin, professionelle Kameraleute oder auch neue Schauspielerinnen und Schauspieler. Meistens gefällt es einigen der „Neuen“ so gut bei uns, dass sie gerne weitermachen möchten. Das freut uns sehr, denn so ist aus anfangs fünf festen Mitgliedern inzwischen ein richtig großes Team von 20 Menschen mit und ohne Behinderungen und psychischen Erkrankungen geworden.

Sie sind ein inklusives Filmunternehmen. Was bedeutet das genau und warum ist das etwas Besonderes?

ED: Die meisten inklusiven Filmprojekte oder -teams sind nur vor der Kamera inklusiv. Das heißt, es werden zwar eine oder mehrere Rollen mit Schauspielerinnen und Schauspielern mit Behinderung besetzt – die Drehbuchautoren, Regisseurinnen und anderen Menschen hinter der Kamera haben aber meist keine Behinderung. Das ist bei uns anders. Jede und jeder kann die Aufgaben übernehmen, die sie oder er interessant findet und gut kann. Uns ist es wichtig, auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten, alle Teammitglieder mit ihren Stärken zu sehen und niemanden zu über- oder zu unterfordern. Natürlich nehmen wir zugleich auch Rücksicht auf Erkrankungen. Dadurch entsteht eine tolle Arbeitsatmosphäre mit weniger Druck als in vielen anderen Teams. Das schätzen auch externe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ohne Behinderung sehr.

Wie und wann ist das Unternehmen entstanden?

JK: Wir haben vor zehn Jahren angefangen, die Idee ist aber viel älter und hat sich über eine lange Zeit immer weiter entwickelt. Ich selbst bin gelernter Sozialpädagoge, habe mich aber während meines Studiums auch im Bereich Fotografie, Kameratechnik und Dramaturgie fortgebildet. Ende der 1980er-Jahre habe ich in Bremen zusammen mit ehemaligen Patientinnen und Patienten einer psychiatrischen Klinik eine Medien-AG gegründet. Später habe ich auch in anderen Projekten gemeinsam mit psychisch erkrankten Menschen Filme gemacht. Dabei fiel mir immer mehr auf, dass Menschen mit Behinderung und Erkrankungen kaum in den Medien auftauchen – und wenn, dann stehen ihre Schwächen im Fokus. Deshalb haben wir die „compagnons“ gegründet.

Wie finanzieren Sie Ihre Filme?

JK: Manche Projekte sind Auftragsarbeiten, für die wir Honorare bekommen. Der Verein Martinsclub Bremen zum Beispiel ist einer dieser Auftraggeber. Die Organisation unterstützt Menschen mit Behinderung im Alltag und setzt sich für Inklusion ein. Für sie haben wir den Dokumentarfilm „Endlich zu Hause“ gedreht und dafür ein Jahr lang Menschen begleitet, die aus einem Wohnheim in ambulant betreute Wohnungen umgezogen sind. Das war ein sehr schönes Projekt. Den Menschen war anzusehen, wie sehr sie sich auf das neue Leben freuten.

Was ist mit Projekten, die keine Auftragsarbeiten sind?

JK: Wenn wir eigene Ideen ohne externe Kunden umsetzen möchten, etwa unsere Spielfilme, beantragen wir dafür Fördergelder. Damit können wir aber nur die Produktion finanzieren. Das heißt, wir können nur die Honorare für die Kameraleute oder die Schauspieltrainerinnen zahlen, die unsere Darstellerinnen und Darsteller bei den Proben unterstützen. Alle anderen Kosten werden dadurch nicht gedeckt. Beispielsweise können wir aus den kleinen Budgets bei solchen Projekten keine Gagen für die Schauspielerinnen und Schauspieler zahlen. Und für die Koordination bekommen wir aus dem Organisationteam nur eine Aufwandsentschädigung, deshalb haben die meisten von uns noch einen anderen Beruf, in dem sie Geld verdienen. Das alles möchten wir ändern, hatten mit unseren Anträgen bei größeren Filmförderern bisher aber noch keinen Erfolg.

Woran liegt es, dass Sie bei größeren Förderanträgen bisher durchs Raster gefallen sind?

JK: Die Unternehmen und Stiftungen, die solche Filmförderungen anbieten, möchten meist Projekte unterstützen, die schon sicher einen Sendeplatz im Fernsehen haben. Wir können aber nicht garantieren, dass ein Sender unsere Filme ins Programm aufnimmt, auch wenn wir es natürlich immer wieder versuchen. Wir sind aber im Vergleich auch ein noch junges Unternehmen am Markt. Und wir verfolgen noch dazu einen Ansatz, der für unsere Branche bis heute noch sehr ungewöhnlich ist. Deshalb sind wir einfach weiterhin geduldig und bohren dicke Bretter – und setzen darauf, dass wir durch die Qualität unserer Arbeit bald stärker wahrgenommen werden. —


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