VIER FRAGEN AN… Carina Kühne

Carina Kühne hat einen Beruf, von dem viele träumen: Sie ist Schauspielerin. Ihren Durchbruch hatte sie im Jahr 2014 mit „Be my Baby“, einem Film, in dem sie eine junge Frau spielt, die wie sie selbst das Down-Syndrom hat. Seit diesem ersten großen Erfolg in Deutschland darf Carina Kühne immer wieder in neue, verschiedene Rollen schlüpfen. Wenn sie mal nicht vor der Kamera steht, engagiert sich die 32-jährige mit viel Herzblut für die Inklusion. Als Aktivistin hält sie zum Beispiel Vorträge, gibt Interviews zum Thema und bloggt über ihr Leben und das, was sie bewegt. Sie wünscht sich eine Gesellschaft, in der Menschen einander auf Augenhöhe begegnen. Im Interview hat sie uns verraten, was dem aus Ihrer Sicht noch im Weg steht und wo sie Lösungen sieht.


#1: Frau Kühne, was bedeutet für Sie Inklusion im Beruf und bei der Arbeit?

Inklusion heißt für mich in diesem Zusammenhang: Es ist selbstverständlich, dass Menschen mit und ohne Behinderung miteinander arbeiten, sich gegenseitig unterstützen und voneinander lernen können. Es wäre allerdings erst dann wirklich Inklusion, wenn die Behinderung nicht mehr beachtet würde und keiner mehr als etwas „Besonderes“ darüber sprechen würde.

#2: Was bremst Ihrer Meinung nach die Inklusion – bei der Arbeit, aber auch in der Gesellschaft insgesamt?

Die größte Bremse ist meiner Meinung nach das System in Deutschland, durch das viele Menschen mit Behinderung immer noch in Sondereinrichtungen landen. Das geht los mit dem Förderkindergarten, dann geht es weiter in der Förderschule und danach landen viele in einer Werkstatt für behinderte Menschen anstatt auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Auch im Freizeitbereich werden viele ausgesondert und finden keinen Anschluss, weil sie zum Beispiel in eigenen Wohnheimen für Menschen mit Behinderung wohnen. Da gibt es oft kaum eine Begegnung, und das führt dann dazu, dass es so viele Berührungsängste und Barrieren in unseren Köpfen gibt. In unserer Gesellschaft wird leider immer noch stark vom so genannten „Anderssein“ her gedacht. Menschen werden also vor allem danach beurteilt und in den Köpfen „sortiert“. Ich glaube außerdem, dass viele Menschen ohne Behinderung irgendwie Angst haben, dass ihre eigene Arbeit nicht mehr so viel wert ist, wenn auch Menschen mit Handicap sie leisten können oder dass diese ihnen die Jobs wegnehmen. Dazu kommt noch, dass sich viele Unternehmen davor scheuen, Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter mit Behinderung einzustellen. Dafür gibt es auch ein gesetzliches Schlupfloch: Wenn ein Arbeitgeber nicht genug Menschen mit Behinderung einstellt, leistet er stattdessen die so genannte Ausgleichsabgabe – und für viele hat sich das Thema damit erledigt. Es gibt also sehr viele Barrieren, die aus meiner Sicht nur abgebaut werden können, indem wir gemeinsam leben und nicht getrennt voneinander. Das gilt von Anfang an und in allen Bereichen.

#3: Mit welchen kleinen oder größeren Handlungen könnten einzelne Menschen aus Ihrer Sicht selbst zur Inklusion beitragen?

Indem sie aufeinander zugehen, sich auf Augenhöhe begegnen und keine Angst haben, dass sie nicht den richtigen Umgangston finden. Wenn wir uns besser kennenlernen, verstehen wir einander auch besser und können selbstverständlicher miteinander leben und arbeiten. Außerdem sollte jedem Menschen ohne Behinderung bewusster sein, dass es kein Verdienst oder eine Selbstverständlichkeit, sondern ein Geschenk ist, nicht behindert zu sein. Wenn alle mit dem Wissen durchs Leben gehen würden, dass sich das jederzeit ändern kann, würden sie vielleicht auch anders mit Menschen mit Behinderung umgehen, als das aktuell viele noch tun.

#4: Wenn Sie Ihren Traum-Arbeitsplatz frei entwerfen könnten: Wie sähe dieser aus?

Da ich ja Schauspielerin bin, wünsche ich mir natürlich viele inklusive Rollen. Die Medien haben in unserer Gesellschaft einen sehr großen Einfluss, das bedeutet umgekehrt: Wenn in Berichten und Filmen öfter Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam gezeigt werden, dann wird Inklusion irgendwann auch in der Gesellschaft selbstverständlich. Was ich mir noch wünschen würde: Dass auch im Berufsleben niemand wegen seiner Behinderung ausgegrenzt wird. Ich selbst konzentriere mich immer lieber auf die Stärken der Menschen als auf ihre Defizite – und das sollten andere Menschen, Arbeitgeber und Kollegen auch öfter tun.





„Bei Siemens sind Leistung und Behinderung kein Widerspruch“

Siemens ist eines der zehn größten Unternehmen in Deutschland. Der Konzern erfüllt die gesetzliche Quote, nach der Firmen ab 20 Mitarbeitern mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit Menschen besetzen müssen, die eine Behinderung haben. Was sonst noch mit dem Thema „Diversity“ verbunden ist und was die Inklusion in der Firmenpolitik von Siemens für eine Rolle spielt, wollten wir von Nicole Herrfurth wissen, die bei Siemens für „Leadership Development, Diversity and Inclusion“ verantwortlich ist (übersetzt: „Führungskräfte-Entwicklung, Vielfalt und Inklusion“).


Frau Herrfurth, eine aktuelle Zahl zum Einstieg: Im Jahr 2016 waren 13,4 Prozent aller Menschen mit Schwerbehinderung in Deutschland arbeitslos, das sind mehr als doppelt so viele im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung. Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptgründe dafür?

Eines der Probleme ist, dass viele Menschen mit Behinderung im erwerbsfähigen Alter oftmals keinen allgemeinen Schulabschluss haben. Die Ursache dafür liegt wiederum im Bildungssystem: Solange Inklusion in der Schule und bei der Ausbildung nicht die Normalität ist, wird es auch auf dem Arbeitsmarkt Probleme geben. Menschen mit und ohne Behinderungen werden heute noch immer getrennt voneinander unterrichtet. Es gibt also nicht einen großen, gemeinsamen Lernraum, sondern viele Einzelsysteme wie Sonderschulen, Förderschulen und Werkstätten. Das führt leider dazu, dass Menschen, die dort unterrichtet werden oder arbeiten, bereits in jungen Jahren und auch später von bestimmten Bildungs- oder Berufswegen ausgeschlossen werden. Dadurch kommt es zu Ausgrenzung – und das Risiko, arbeitslos zu werden oder zu bleiben, steigt. Das Schulsystem muss sich also noch intensiver mit dem Thema Vielfalt beschäftigen und dieses Prinzip so früh wie möglich fördern.
Ein weiteres Problem sehen wir darin, dass es an barrierefreien Lösungen mangelt. Das ist sowohl firmenpolitisch als auch infrastrukturell ein Thema, und es betrifft die „reale Welt“ genauso wie die Barrieren, die es noch immer in den Köpfen gibt.

Welchen Beitrag leistet Ihr Unternehmen im Bereich Inklusion?

Wir achten zuallererst darauf, die gesetzlichen Regelungen zu befolgen, zum Beispiel bei Themen wie Sonderurlaub und Kündigungsschutz. Außerdem liegt uns natürlich die barrierefreie und flexible Gestaltung unserer Arbeitsplätze am Herzen. Wir versuchen, diese Umgebungen den Menschen anzupassen und nicht umgekehrt. Bei Siemens gibt es zudem ein Gleitzeitsystem, mit dem unsere Mitarbeiter ihre Arbeitszeiten relativ frei gestalten können. Das gleiche gilt für den Arbeitsort: Das „Home Office“ ist bei uns nicht nur ein Lippenbekenntnis, sondern gehört mittlerweile zum Alltag, für Menschen mit oder ohne Behinderung. Auch das Thema Mobilität ist für uns ein Teil der Inklusion. Wir bieten unseren Mitarbeitern mit Schwerbehinderung daher nicht nur Behindertenparkplätze, sondern ermöglichen es ihnen bei Geschäftsreisen auch, in der ersten Klasse Bahn zu fahren beziehungsweise mit der Business Class zu fliegen. Wir wollen damit sicherstellen, dass unsere Mitarbeiter so unbeschwert und komfortabel wie möglich arbeiten können. Und wir legen Wert auf verschiedene betriebliche Maßnahmen, wie eine konstante Weiterbildung, bezahlte Freistellungen und eine gute gesundheitliche Versorgung, die wir unter anderem über unsere Betriebskrankenkasse anbieten.

Wie hoch ist bei Siemens die Beschäftigungsquote von Menschen mit Behinderung und in welchen Bereichen werden sie eingesetzt?

Bei Siemens in Deutschland sind derzeit 6.200 Menschen mit Behinderungen, teilweise mit schweren Handicaps, beschäftigt. Das entspricht einer Quote von etwa 5,2 Prozent. Viele der Mitarbeiter sind auf unsere Standorte in Erlangen, Nürnberg und Berlin verteilt, sie werden je nach Fähigkeiten und Interessen in allen Abteilungen eingesetzt und arbeiten in ganz unterschiedlichen Funktionen und Abteilungen. Außerdem kooperieren wir viel mit Werkstätten für Menschen mit Behinderung: Siemens hat allein im vergangenen Geschäftsjahr Aufträge in Höhe von rund 14 Millionen Euro an solche Einrichtungen vergeben.

Wie wird Ihr Unternehmen in Zukunft mit dem Thema Inklusion und Vielfalt umgehen?

Bei uns stehen Leistung und Behinderung schon jetzt nicht im Widerspruch zueinander. Im Gegenteil: Wir sehen täglich, dass es oft gerade die Mitarbeiter mit Behinderungen oder anderen Einschränkungen sind, die die „Extrameile“ gehen. Durch ihre Ausdauer, Beharrlichkeit und Motivation bringen sie sich voll und ganz ins Unternehmen ein und meistern dabei auch viele Hürden. Wir sehen diese Mitarbeiter daher nicht in erster Linie als Menschen mit Behinderung, sondern als Menschen mit besonderen Fähigkeiten. Von diesen Eigenschaften könnten sich Menschen ohne Behinderung oftmals eine Scheibe abschneiden. Im letzten Dezember haben wir dazu passend einen „Ability Day“ in der Siemens-Zentrale in München veranstaltet. Der Tag stand unter dem Motto „Sport“ und sollte dazu aufrufen, die Fähigkeiten jedes Einzelnen wert zu schätzen. Diesen besonderen Tag würden gerne dauerhaft etablieren und gegebenenfalls zusammen mit anderen Unternehmen gestalten, um möglichst viele Menschen von dieser Botschaft zu überzeugen.
Vielfalt sollte aus unserer Sicht kein isoliertes Sonderthema bleiben, sondern ganzheitlich in allen Prozessen eines Unternehmens verwurzelt werden. Wir selbst haben deshalb unter anderem die Charta der Vielfalt unterschrieben und wollen diese Idee damit weiter nach vorne bringen.

Wer oder was sind aus Ihrer Sicht die größten „Inklusions-Bremsen“ unserer Gesellschaft?

Es gibt leider viele dieser „Bremsen“, wir glauben aber, dass die größten Hürden die Barrieren im Kopf sind. Wir nennen diese Hürden „Unconscious Bias“, also Vorverurteilungen und Denkmuster, die bei vielen Menschen vorhanden sind und sich im Unterbewusstsein abspielen. Wenn zum Beispiel jemand im Rollstuhl in den Raum kommt, sehen viele erst einmal nur die Behinderung, nicht die Persönlichkeit, die Fähigkeiten und die Qualifikationen des Menschen. Das geht zum Teil so weit, dass viele unbewusst davon ausgehen, dass ein Mensch mit Behinderung nicht wirklich arbeiten kann, nicht so belastbar ist oder auch weniger Fähigkeiten hat. Auch bei der Suche nach neuen Mitarbeitern spielt das immer noch eine große Rolle, denn das Kompetenzprofil wird von Recruiting-Mitarbeitern viel schneller außer Acht gelassen, wenn ein Bewerber eine Behinderung hat. Diese unbewussten Prozesse, die sich überall in unserer Gesellschaft zeigen, müssen wir im Kern auflösen.
Bei Siemens konzentrieren wir uns daher auf das Individuum und dessen Fähigkeiten. Diesen Ansatz wollen wir auch in Zukunft weiterhin verfolgen und stärker nach außen kommunizieren – daraus entstand auch unsere Idee zum „Ability Day“.




VIER FRAGEN AN… Lars Hemme

In seiner Freizeit bloggt Lars Hemme über sein Leben mit 24-Stunden-Assistenz und über Themen wie Selbstbestimmtheit und Gleichberechtigung. Im Interview redet er mit uns darüber, wie er selbst Inklusion erlebt und was aus seiner Sicht jeder einzelne für ein Miteinander auf Augenhöhe tun kann.


#1: Herr Hemme, was bedeutet für Sie Inklusion im Beruf und bei der Arbeit?

Das ist eigentlich ganz einfach: Ich möchte, wie jeder Mensch, meinen Interessen und Fähigkeiten folgen und meinen Wunschberuf frei wählen können. Ich kann in meiner Situation sicherlich nicht jeden Beruf ausüben – aber das könnte eine Mensch ohne Behinderung auch nicht unbedingt, wenn ihm die notwendigen Fähigkeiten im Denken oder Tun fehlen. Trotzdem hat ja jeder individuelle Interessen und Stärken, die er in den Job einfließen lassen kann, wenn ihm denn die Chance gegeben wird, diese auch zu zeigen und zu nutzen.
Für mehr Inklusion im Berufsleben ist ein gutes Miteinander von Kolleginnen und Kollegen besonders wichtig, finde ich. Dazu gehört von allen Seiten auch, das natürliche Arbeitsklima mit all seinen „Aufs und Abs“ zu akzeptieren und einfach gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Ich denke, dass Inklusion dann funktioniert, wenn alle aufeinander zugehen und auch Kritik äußern dürfen und können. Wenn ich mich zum Beispiel nicht kollegial verhalte, dann müssen mich andere auch konstruktiv darauf hinweisen dürfen. Meine Behinderung darf ich selbst also nicht als Schutzschild sehen und einsetzen – denn das ist sie nicht.

#2: Was bremst Ihrer Meinung nach die Inklusion – bei der Arbeit, aber auch in der Gesellschaft insgesamt?

In den meisten Fällen funktioniert die Inklusion aus meiner Sicht deshalb nicht wie erhofft, weil Nicht-Behinderte immer noch zu wenige Berührungspunkte mit Menschen wie mir haben. Zugleich müssen beide Seiten eine gesunde Portion Enthusiasmus für ein gutes, gemeinsames Miteinander auf Augenhöhe mitbringen. Nur dann hat Inklusion eine Chance. Andererseits muss sich meiner Meinung nach jeder Mensch mit einer Behinderung – auch ich selbst – darüber im Klaren sein, dass sie oder er für andere Menschen immer etwas „anders“ ist. Wem das klar ist, der kann inkludiert werden. Dafür braucht es selbstverständlich Hilfen, zum Beispiel Assistenzleistungen oder technische Hilfsmittel. So ähnlich, wie etwa Flüchtlinge Sprachkurse erhalten, damit sie eine Chance haben, Teil der Gesellschaft zu werden, brauchen auch andere Personengruppen diese Unterstützung, nur eben auf andere Weise. Dabei gilt umgekehrt: Wenn ich zum Beispiel im Beruf auch nach dem ersten Kennenlernen der Teamkollegen im Arbeitsalltag weiterhin als etwas Besonderes oder Anderes betrachtet werde, kann ich nie ein gleichwertiges Mitglied im Team werden. Dann funktioniert Inklusion nicht.

#3: Mit welchen kleinen oder größeren Handlungen könnten einzelne Menschen aus Ihrer Sicht selbst zur Inklusion beitragen?

Jeder, der Inklusion verwirklichen möchte, sollte sich engagiert mit dem Thema auseinandersetzen. Nur so kann er dazu beitragen, den Prozess voranzutreiben. Das gilt nicht nur für Menschen ohne, sondern auch und gerade für Menschen mit Behinderung. Sie müssen aktiv auf die anderen Mitglieder der Gesellschaft zugehen und zeigen, dass sie ein Teil dieser sind und sein wollen. Inklusion kann nicht nur von einer Seite geleistet werden. Ich selbst zum Beispiel habe im Studium gemerkt, dass ich durch meine Teilnahme am gemeinsamen Alltag etwas wichtiges erreichen konnte: Ich wurde akzeptiert und konnte teilhaben. Das kann ich heute nach wie vor. Richard von Weizsäcker hat dazu einmal passende, schlaue Worte gesagt: „Was im Vorhinein nicht ausgegrenzt wird, muss hinterher auch nicht eingegliedert werden!“ Da ist viel Wahres dran. Dadurch, dass ich mich immer bemüht habe, mich nicht selbst auszugrenzen, haben mich auch die anderen nicht ausgegrenzt. Ich brauchte deshalb auch keine Wiedereingliederung.

#4: Wenn Sie Ihren Traum-Arbeitsplatz frei entwerfen könnten: Wie sähe dieser aus?

Inklusion bedeutet nicht, dass mir per se eine Sonderbehandlung zusteht. Daher sollte ich mir meinen Arbeitsplatz auch nur bis zu dem Punkt frei auswählen können, wie andere das auch tun dürfen. Ich glaube, dass niemand wirklich die völlige Freiheit hat, sich den Ort und die Umstände des Arbeitens ideal zu gestalten. Mir ist wichtig, dass ich auch hier gleichberechtigt mit anderen bin – und das heißt, dass ich genauso wie alle anderen mit den typischen Widrigkeiten des Lebens umgehen und mich damit arrangieren muss.
Aber: Als Mensch mit Behinderung habe ich Möglichkeiten, Nachteile auszugleichen, und das ist ebenfalls wichtig. Was in diesem Zusammenhang bedeutet, dass ich mich bemühen kann, meine Interessen und Fähigkeiten so zu platzieren und zu fördern, dass sich die Chance auf meinen Traum-Arbeitsplatz auftut. Ich habe das mittlerweile sogar geschafft. Ich arbeite jetzt schon länger an der Universität Paderborn und kann meine Neigungen und Fähigkeiten optimal in den Job einfließen lassen. Ich habe meinen Traum-Arbeitsplatz also sozusagen einfach selbst entworfen. Manchmal ist hier und da technische Unterstützung oder die Hilfe von anderen nötig, ich muss mir zum Beispiel ab und zu eine Akte aus dem Regal angeben oder eine Tür öffnen lassen. Die Kernaufgaben meines Berufs erledige ich aber selbstständig: Ich setze das mir gegebene Talent der Sprache ein und berate Menschen, die Anregungen und Hilfe beim Studium mit einer Behinderung brauchen.

Tja, und wenn ich mir doch etwas wünschen würde: An meinem Traum-Arbeitsplatz würden mir alle technischen und menschlichen Unterstützungen zur Verfügung stehen, die mir die Arbeit in meinem Beruf erleichtern würden – zum Beispiel elektrische Türen oder eine persönliche Assistenz. Das ist leider noch nicht selbstverständlich, wie ich selbst erlebt habe und wie es auch von anderen Menschen mit Behinderung in Deutschland immer wieder zu lesen ist. Der Grund dafür sind oft drastische finanzielle Einschnitte, gerade im öffentlichen Sektor. Das legt der Inklusion aus meiner Sicht unnötige Steine in den Weg – aber das ist noch einmal ein ganz anderes Thema. –




Vom belegten Brötchen bis zur Autowäsche

Langeweile kennt Alexander Schneider in seinem Job im Hahme Frische Markt nicht. „Ich bekomme immer wieder neue Aufgaben. Das ist interessant und die Zeit geht schnell vorbei“, sagt der 47-Jährige mit fröhlicher Stimme. Meist hat er an der Waschanlage zu tun, die an den kleinen Supermarkt im Stemweder Ortsteil Haldem angeschlossen ist. Dort reinigt er die Wagen der Kunden und hält die Arbeitsgeräte in Schuss. Zwischendurch hilft er im Laden mit, sortiert Waren in die Regale ein oder wischt den Boden.
Bevor er im Mai 2015 die Stelle im Frische Markt bekam, jobbte er in verschiedenen Berufen, unter anderem in der Metallbranche. Einen neuen Arbeitsplatz zu finden, war für den Osnabrücker nicht einfach, denn er humpelt mit dem rechten Fuß und muss zwischendurch immer wieder Pausen einlegen.

In seinem neuen Job ist das kein Problem. 22 der insgesamt 48 Mitarbeiter haben eine Beeinträchtigung. Die Marktleiterin Olga Bartel hat bei jedem einzelnen im Blick, was er leisten kann. „Manche Kollegen können trotz einer Sehschwäche auch an der Kasse arbeiten. Bei anderen klappt das nicht“, erklärt die 36-Jährige: „Die helfen dann beim Räumen oder schmieren Brötchen.“

Das Ziel: Jobs auf dem ersten Arbeitsmarkt

Der Supermarkt ist Teil des Integrationsunternehmens Servicehaus Stemwede gGmbH, dessen Mitarbeiter mit und ohne Behinderung den Kunden neben dem Service im Laden auch Malerarbeiten, Hauswirtschafts- und Hausmeisterservice sowie Gartenpflege anbieten. Geschäftsführer Lothar Pannen und der Verein Lebensperspektiven e. V. haben das Servicehaus Anfang 2008 gegründet. Das Ziel war vor allem, Beschäftigungsmöglichkeiten für die Bewohner des Stemweder Heilpädagogischen Kinderhauses auf dem ersten Arbeitsmarkt zu schaffen. In dieser Einrichtung betreuen Lothar Pannen und seine Mitarbeiter bis zu 140 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene; die meisten von ihnen haben psychische, geistige oder körperliche Behinderungen.
„Die Frage damals war: Wie können wir es schaffen, den jungen Menschen mit all ihren Problemen, aber auch Ressourcen eine Perspektive zu ermöglichen?“, beschreibt Pannen die große Aufgabe. „Wir können sie ja schlecht ohne Aussicht auf einen Arbeitsplatz zurück in ihre Heimatstädte ziehen lassen.“

Zwei Mitarbeiter reinigen die Scheiben und Felgen eines Autos vor
Zwei Mitarbeiter reinigen die Scheiben und Felgen eines Autos vor. Foto: Thorsten Arendt

Das Servicehaus ist nicht nur für die Mitarbeiter eine tolle Sache. Wer in dem vergleichsweise strukturschwachen Haldem wohnt, kann jetzt wieder vor Ort einkaufen. Der Supermarkt hat zum Beispiel Obst und Gemüse, Käse und Wurst, Nudeln, Tiefkühlpizza und Hygieneartikel vorrätig. Wegen der angeschlossenen Tankstelle hat dieser Teil des Unternehmens auch abends und sogar sonntags geöffnet. Das schätzen die Kunden besonders. „Gerade am Wochenende ist hier viel los“, sagt Olga Bartel. „Wenn alle anderen Geschäfte geschlossen sind, gibt es bei uns frische Brötchen und Grillfleisch.“

Immer mehr Kunden

Die Marktleiterin war von Anfang an dabei, sie hat den Supermarkt 2008 mit aufgebaut. „An unser Konzept mussten sich die Kunden anfangs noch gewöhnen“, sagt sie. Diese sollten zwar eigentlich so wenig wie möglich davon merken, dass sie in einem Integrationsbetrieb einkaufen. „Aber manchmal geht es eben an der Kasse doch etwas langsamer, wenn dort zum Beispiel ein Kollege mit Sehschwäche eingesetzt ist und viele Einkäufer da sind.“ Um solche Spitzen abzufangen, springt die Chefin auch mal selbst an der zweiten Kasse ein.

Wenn trotzdem einmal Kunden unzufrieden sind, spricht Olga Bartel sie direkt an und erklärt, warum es gerade länger dauert. Damit hat sie Erfolg. „Bisher ist es uns gelungen, jeden unserer Kunden zu halten. Es kommen sogar immer mehr. Auch nach fast neun Jahren steigern wir uns noch.“




VIER FRAGEN AN… Volker Westermann

#1: Herr Westermann, was bedeutet Inklusion im Beruf und bei der Arbeit für Sie?

Gerade im Arbeitsleben ist das eine sehr spannende Sache, weil hier neben Persönlichkeit ja auch Leistung gefragt ist. Damit diese erbracht werden kann, sollten sich alle gegenseitig aufeinander einstellen, also auf die unterschiedlichen Bedürfnisse, Kenntnisse und auch Einschränkungen des jeweiligen Gegenübers, um so im Arbeitsleben gemeinsam stark zu sein.

#2: Was bremst Ihrer Meinung nach die Inklusion – bei der Arbeit, aber auch in der Gesellschaft insgesamt?

Häufig fehlt eine kollegiale Bereitschaft, füreinander da zu sein. Das ist auch unter Mitabeitern ohne Behinderung(en) so. Heutzutage liegt der Schlüssel zum Erfolg für viele nur noch im Alleingang. Das endet oft in Überlastungsgefühlen und Frust. Genau hier kann Inklusion ein Türöffner sein. Man kann sie als Chance begreifen, auch mal nach links und rechts zu schauen, bevor Arbeitsabläufe stur und in Eigenregie erledigt werden. Dabei würden viele entdecken, dass es dank der vielen unterschiedlichen Fähigkeiten von Menschen gemeinsam oftmals einfacher wird.

#3: Mit welchen kleinen oder größeren Handlungen könnten einzelne Menschen aus Ihrer Sicht selbst zur Inklusion beitragen?

Egoismus und Verbohrtheit sind für mich die größten „Inklusionskiller“. In unserer Gesellschaft ist es leider schwierig geworden, aufeinander zuzugehen, für Menschen mit ebenso wie für Menschen ohne Behinderung. Ich persönlich habe große Freude am Miteinander, sowohl im Job als auch im Privatleben. Das bevorzuge ich auch in meinem Beruf als Koch. Gerade dort erlebe ich oft, dass es in der Küche zusammen immer besser klappt und auch schmeckt. Dabei spielt nämlich weniger unser geschärfter Verstand eine Rolle als vielmehr ein herzlicher Umgang miteinander und die Freude daran, Dinge gemeinsam anzupacken.

#4: Wenn Sie Ihren Traum-Arbeitsplatz frei entwerfen könnten: Wie sähe der aus?

Die Grundlage für einen idealen Arbeitsplatz ist für mich die oder der Vorgesetzte. Sie oder er sollte es verstehen, auf die Stärken und Schwächen seiner Mitarbeiter einzugehen. Ein guter Chef versteht sich aus meiner Sicht selbst als Teil des Teams und geht auf die Bedürfnisse seiner Belegschaft ein. Durch Verständnis und den Kontakt auf Augenhöhe kann sich dann ein kollegiales Miteinander entwickeln und so kann sich jeder Einzelne entfalten.




Was sind eigentlich… Technische Beratungsdienste?

Technische Beratungsdienste fördern Menschen mit Behinderung im Beruf. Die Experten, die in ganz Deutschland bei solchen Diensten arbeiten, unterstützen zum Beispiel, wenn die Aufgabenverteilung in einem Betrieb wechselt. Sie helfen, Arbeitsplätze behinderungsgerecht umzugestalten und sie ermitteln, ob auf den Arbeitgeber ein finanzieller Mehraufwand zukommt. Sie beantworten auch organisatorische oder bürokratische Fragen und stehen bei Kündigungsverfahren sowohl der Arbeitnehmerin oder dem Arbeitnehmer als auch dem Unternehmen oder der Organisation mit Rat und Tat zur Seite.


Herr Schrapper, wer kann die Hilfen des Technischen Beratungsdienstes beantragen?

Entweder können Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Behinderung selbst einen entsprechenden Antrag auf Hilfen stellen, oder sie bitten ihre Fallmanagerin oder ihren Fallmanager darum, sie dabei zu unterstützen. Auch die Verantwortlichen eines Unternehmens, einer Organisation oder einer Fachstelle in einem Kreis oder einer Stadt können die Hilfe beantragen, wenn sie einen ihrer Mitarbeiter mit Behinderung durch technische oder organisatorische Maßnahmen unterstützen wollen.

Wie werden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Verantwortlichen des jeweiligen Unternehmens einbezogen – zum Beispiel dann, wenn ein Arbeitsplatz behinderungsbedingt umgebaut werden muss?

Es ist wichtig, dass alle an einem Strang ziehen. Deshalb tauschen wir uns von Anfang an regelmäßig mit allen Beteiligten aus. Wir hören genau zu und erarbeiten konkrete Vorschläge, wie die Arbeitsstätte oder der Arbeitsplatz auf die jeweilige Behinderung angepasst werden könnten. Der Technische Beratungsdienst unterstützt aber auch die jeweiligen Fallmanagerinnen und Fallmanager dabei, eine Fördersumme festzusetzen, wenn etwa ein neues Arbeitsgerät angeschafft werden soll oder bauliche Maßnahmen nötig sind. Dafür wird vorher die Situation vor Ort genau unter die Lupe genommen und mit allen Beteiligten darüber gesprochen.
Bei jeder dieser Beratungen gilt immer der Grundsatz: Menschen mit Behinderung sind Experten in eigener Sache. Sie wissen selbst meist am allerbesten, was nötig ist, damit sie gut arbeiten zu können. Zugleich muss sich jeder Mensch an seinem Arbeitsplatz mit der Hilfe wohlfühlen, die ihm dort angeboten wird. Die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter wird also von Anfang an eng von uns in den Prozess eingebunden. Das gleiche gilt auch für die führenden Personen eines Unternehmens oder einer Organisation, die die Verantwortung für ihre Teams tragen. Denn sie sind ja nicht weniger auf einen reibungslosen und erfolgreichen Verlauf angewiesen, zum Beispiel beim Umbau eines Arbeitsplatzes.

Porträtfoto von Frank Schrapper
Als Leiter des Technischen Beratungsdienstes des LWL-Inklusionsamt Arbeit ist Frank Schrapper Experte für barrierefreie Arbeitsplätze. Foto: LWL

Für wen gilt welches Angebot?

Jeder Mensch ist anders. Es sind vor allen die ganz individuellen Voraussetzungen und Fähigkeiten, die stark bestimmen, wie es bei jemandem im Job läuft. Wir beziehen das von Anfang an mit ein, unterstützen und begleiten also jeden Menschen unterschiedlich. Es gibt daher auch kein pauschales Angebot. Eine Rollstuhlfahrerin in der Montage beispielsweise benötigt eine andere Umgestaltung und andere Hilfen als ein junger Mann am gleichen Arbeitsplatz, der Lernschwierigkeiten hat. Wir schauen uns die Situation immer genau an, fragen nach, hören zu – und entscheiden dann, was im Einzelfall richtig und sinnvoll ist. Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Hör- oder Sehbehinderungen gibt es übrigens noch einmal jeweils einen eigenen Fachdienst, der auf diese Behinderungen spezialisiert ist.

Der Arbeitsplatz ist umgebaut, die Arbeitsabläufe sind optimal angepasst. Wie geht es weiter?

Meistens besuchen unsere Fallmanager nach sechs Monaten noch einmal das Unternehmen oder den Betrieb, in dem sie zuvor einen Menschen mit Behinderung begleitet haben. Sie sprechen dort erneut mit den Beteiligten, um nachzuhorchen, wie wirksam und nachhaltig die Änderungen am Arbeitsplatz funktioniert haben. Wenn die gewünschte Verbesserung doch nicht eingetreten ist, können sie die Begleitung einfach wieder aufgreifen und gemeinsam an neuen Lösungen arbeiten.
Bei manchen Behinderungen kann es auch sein, dass sich der körperliche oder geistige Zustand eines Menschen nach und nach verschlechtert. Dann begleiten unsere Experten die jeweilige Person auch über die übliche Dauer einer Betreuung hinaus intensiv – und vor allem dann, wenn im Betrieb im Laufe der Zeit noch einmal etwas verändert wird. –




VIER FRAGEN AN… Laura Gehlhaar

#1: Was müsste Ihrer Meinung nach passieren, damit die Inklusion im Beruf und bei der Arbeit besser wird?

Um ein nachhaltigeres inklusives Arbeitsleben für alle zu schaffen, müssen sich zuerst dringend die schulischen Strukturen ändern. Es muss gesetzlich und finanziell so funktionieren, dass behinderte Kinder wie alle anderen ein Recht auf Bildung haben Bildung, wie sie im regulären Schulsystem vermittelt wird. Erst dadurch werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderung später Berufsausbildungen machen oder ein Studium absolvieren können. Dann steigen die Chancen, überhaupt auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Es gilt also, für alle die gleichen Möglichkeiten und Zugänge zu Bildung und Arbeit zu schaffen.

#2: Was bremst Ihrer Meinung nach die Inklusion – bei der Arbeit, aber auch in der Gesellschaft insgesamt?

Die Politik benutzt meiner Meinung nach zu oft die Ausrede, dass für die Umsetzung der Inklusion zu wenig Geld da sei. Das ist mir etwas zu einfach. Wir leben in einem der wohlhabendsten Länder der Welt, da sollte es also keine finanziellen Ausreden dafür geben, dass verfassungmäßige Rechte der Menschen, die hier leben, nicht eingehalten werden. Aus meiner Sicht ist das alles mehr eine Frage des „Wollens“ auf der politischen Ebene  was sich gerade für mich, als Frau mit einer Behinderung, sehr erniedrigend anfühlt. Ich möchte mein Leben nicht vom guten Willen anderer abhängig machen und nicht auch noch große Dankbarkeit schulden müssen für etwas, was für Menschen ohne Behinderung seit Jahr und Tag eine Selbstverständlichkeit ist. Dabei geht es manchmal um ganz einfache Dinge: Wenn ich gerne Russisch lernen und dafür einen Sprachkurs machen möchte, aber vor dem Schulgebäude eine Stufe ist, die mir den Zugang zu diesem Kurs ohne Hilfe schlichtweg unmöglich macht, dann finde ich, dass mir als Rollstuhlfahrerin eine Rampe zusteht und zwar ohne, dass ich mir diese Barrierefreiheit erst langwierig rechtlich erkämpfen oder erbetteln muss.

#3: Wie könnten aus Ihrer Sicht andere Menschen im Alltag mit kleinen oder größeren Handlungen zur Inklusion beitragen?

Durch Hinsehen und indem sie sich selbst und den eigenen Standpunkt öfter mal reflektieren. Es ist nunmal leider so, dass ich aufgrund meiner Behinderung zu einer Minderheit gehöre, die im Alltag zugleich am allerhäufigsten diskriminiert wird. Ich fühle mich daher nicht nur systematisch von vielem ausgeschlossen, ich bin es auch, und zwar ganz faktisch: Aus Gebäuden, die nicht barrierefrei sind, oder aus dem Arbeitsleben, weil es dort zu wenige Einstiegsmöglichkeiten und tragende Strukturen für Menschen mit Behinderungen gibt. Ich bin aber niemand, der sich mit gesenktem Haupt umdreht und darüber jammert. Ich mache auf meine Art und sehr vehement auf solche Verhältnisse aufmerksam und konfrontiere andere damit, auch wenn das manchmal vor allem für die anderen weh tut. Es muss meiner Meinung nach aber unbedingt so sein, dass vor allem Nichtbehinderten bewusster wird, dass meine Behinderung nicht nur mir alleine gehört, das also nicht allein ,,mein Problem“ ist. Es geht jede und jeden etwas an, die oder der mich aus dem regulären Leben ausschließt, denn damit verursacht mein Umfeld diese Diskriminierung ganz direkt mit. Dann bin ich nicht behindert, sondern ich werde behindert.

#4: Wie sähe Ihr Traum-Arbeitsplatz aus, wenn Sie ihn frei entwerfen dürften?

Ich würde auf jeden Fall erst um 11:00 Uhr anfangen zu arbeiten! (lacht) Nein, im Ernst: Ich bin selbstständig und habe damit sowieso schon die tolle Möglichkeit, mir meine eigenen Rahmenbedingungen zu setzen. Das ist für mich sehr gut. Ich teile mir meine Arbeitszeiten also selbst ein und bestimme auch über mein Pensum, so weit es geht. Und: Manchmal fange ich wirklich nicht vor 11:00 Uhr an. Das kann sich nicht jeder einfach so aussuchen. —




Integration über Jahrzehnte

Als Sandra und Alexander Schwenk im Jahr 1995 die Wäscherei Kreft im Dortmunder Vorort Kirchhörde von den Vorbesitzern abkauften, wollten sie zunächst nur eine berufliche Existenz für sich selbst aufbauen. „Ich war als Außendienstmitarbeiter für die Firma meines Vaters unterwegs, der die Wäscherei als Kunden hatte“, erinnert sich Alexander Schwenk. „Als der Eigentümer relativ jung verstarb, fragte dessen Frau meinen Vater um Rat. Es gab dort ein besonderes Vertrauensverhältnis.“
Die Firma stand zum Verkauf – und Alexander Schwenk entschied sich nach längerem Überlegen, den Schritt zu wagen. Ehefrau Sandra, die als Arzthelferin einen guten Job hatte, stieg mit ein. Die beiden bauten den Betrieb stetig aus, heute hat sich die Anzahl der gereinigten Wäschestücke versiebenfacht. Zum Angebot zählen die klassische Hemdenwäsche für Privatkunden, aber auch Großaufträge für Unternehmen sowie spezielle Angebote, wie chemische, Teppich- oder Lederreinigung, und ein Änderungs- und Abholservice.

Engagement von Anfang an

Von der Idee eines Integrationsunternehmens waren sie damals noch weit entfernt – und es sollte bis zum Jahr 2010 dauern, bis die Wäscherei Kreft offiziell eine Integrationsabteilung eröffnen würde. Die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen dagegen startete schon fast zu Beginn der Firmenübernahme. „Bei uns hat sich eine gehörlose Frau vorgestellt, deren Lebensgefährte mit Gebärden gedolmetscht hat. Wir waren so begeistert von ihr, dass wir es ausprobieren wollten“, sagt Alexander Schwenk. Der Versuch klappte, die junge Mitarbeiterin zeigte viel Engagement und bewies sich im Betrieb.
Keine alltägliche Erfahrung für die Gründer: „Es war schon damals nicht einfach, überhaupt gute Leute für diese Arbeit zu finden“, sagt Sandra Schwenk. Die Bezahlung in der Branche ist nicht sehr gut, der Alltag ist geprägt durch Schnelligkeit und immer wiederkehrende Tätigkeiten. In vielen Wäschereien arbeiten Frauen in Teilzeit. Das ist in dem eher wohlhabenden Dortmunder Stadtteil, in dem die Wäscherei Kreft ihren Hauptbetrieb hat, eher selten der Fall. „Für Mitarbeiterinnen aus anderen Stadtteilen würde sich die Anfahrt deshalb kaum lohnen.“

Zuverlässige und präzise Arbeit

Die Schwenks setzten schon immer auf Vollzeitstellen – und haben mittlerweile eine ganz besondere Beschäftigtenstruktur. „Wir haben ältere Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderungen in der Belegschaft.“ Eine Gruppe, die auf dem ersten Arbeitsmarkt sonst schwierig zu vermitteln ist. „Bei uns kommt es aber vor allem darauf an, dass die Beschäftigten zuverlässig und präzise arbeiten – und das zeigen unsere Kräfte jeden Tag.“ Eine Mitarbeiterin etwa sortiert gerade im großen Hauptraum die Wäsche eines Privathaushalts nach Farben und Stoffen, um die Waschtemperaturen festzulegen. Eine andere entnimmt mit geübtem Griff die exakt gefalteten und mit Namen bestickten Hemden der Köche eines noblen Restaurants. Eine dritte befestigt mit immer wieder denselben Handbewegungen Oberhemden am Bügelautomaten.
Damit das Unternehmen auch weiterhin betriebswirtschaftlich funktionieren konnte, haben die Schwenks im Jahr 2010 eine Integrationsabteilung gegründet. Das LWL-Inklusionsamt Arbeit finanzierte unter anderem Rollcontainer, einen Trocken- und Bügelautomaten und eine Laderampe. Ohne diese Arbeitserleichterungen wären manche Handgriffe für die Menschen mit Behinderung nicht zu leisten. Darüber hinaus erhält der Betrieb Einstellungsprämien sowie den Minderleistungsausgleich und Zahlungen für den erhöhten Betreuungsaufwand. Der vom LWL finanzierte Integrationsfachdienst half bei der Einarbeitung.

Um vor Überraschungen auf beiden Seiten gefeit zu sein, arbeiten sämtliche neuen Kolleginnen und Kollegen zunächst auf Probe: „Für zwei bis drei Monate“, sagt Sandra Schwenk, „wenn es dann funktioniert, stellen wir sie ein. Zunächst befristet auf ein Jahr, anschließend unbefristet.“ Die Befürchtung, Beschäftigte mit einer Behinderung im schlechtesten Fall nicht kündigen zu können, entkräftet Alexander Schwenk sofort. „Wir haben leider mit unserer ersten Mitarbeiterin mit Behinderung die schlechte Erfahrung gemacht, dass sie im Team nicht zurechtkam“, sagt der Chef. „Die Probleme haben wir sehr ernst genommen, uns auch Beratung vom Integrationsfachdienst geholt – aber am Ende mussten wir ihr kündigen, das Inklusionsamt hat die Zustimmung erteilt. Das war sehr schade, aber für den Betrieb und auch für sie war es das Beste.“

Um die Ecke denken

Um für alle Beteiligten das Optimale herauszuholen, müsse er manchmal auch um die Ecke denken, sagt Alexander Schwenk. Bei seinen Fahrern zum Beispiel: Mit Transportern bringen sie die Wäsche zu größeren Kunden wie der Catering-Firma von Borussia Dortmund. Schnell kommen einige hundert Kilogramm pro Tour zusammen. „Wir haben einen Kollegen, der nicht schwer tragen kann. Ihm gebe ich deshalb einen weiteren Mann mit, der die körperliche Arbeit übernimmt, aber selbst wegen einer Lernbehinderung keinen Führerschein hat.“ Aus zwei Kollegen mit Handicaps wird so ein leistungsstarker Mitarbeiter. „Das funktioniert aber nur, wenn beide Arbeitsplätze bezuschusst werden“, sagt Schwenk. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Zwei Menschen hätten ohne diese Idee wenig Chancen auf einen versicherungspflichtigen Arbeitsplatz. Bei der Wäscherei Kreft haben beide eine Stelle bekommen.




Starthilfe bei der beruflichen Neuorientierung

Ein Krankenpfleger, der wegen eines Bandscheibenvorfalls plötzlich nicht mehr in seinem Beruf arbeiten kann, ein Ingenieur, der bei einem Arbeitsunfall eine schwere Verletzung davonträgt, die nicht vollständig ausheilt, ein Bäcker, der eine Stauballergie entwickelt und die Backstube meiden muss: Arbeitsunfähigkeit kann sehr unterschiedliche Formen annehmen und jeden treffen. Die Vorfälle und Entwicklungen, die dazu führen, kommen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fast immer unerwartet – und meistens ist danach auch eine berufliche Neuorientierung nötig.

Durch diese oftmals schwierige Phase begleiten die Experten des Verbundes der Deutschen Berufsförderwerke. Sie beraten und unterstützen Menschen unter bestimmten Voraussetzungen bei der Umschulung und auch beim Wiedereinstieg in den Beruf nach einem Unfall. Es gibt auch präventive Angebote, also die Möglichkeit, frühzeitig Lösungen zu entwickeln, wenn bereits abzusehen ist, dass sich das Befinden eines Berufstätigen über kurz oder lang negativ verändern wird.

Angebote für Arbeitnehmer und Unternehmen

Die Berufsförderwerke wenden sich mit ihrem Angebot übrigens nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch an Unternehmen. Sie helfen Firmen auf Wunsch bei der Bewältigung der vielen Herausforderungen des modernen Arbeitsmarktes zum Beispiel, wenn das Unternehmen einen Mangel an Fachkräften abfedern muss und dabei Unterstützung braucht.

Das Webangebot des Bundesverbandes, der übrigens mit rund 100 Standorten in Deutschland vertreten ist, bietet unter anderem Informationen zu den Voraussetzungen für den beruflichen Neustart. Außerdem wird dort erklärt, was der Verband genau bieten kann. Die Postleitzahlsuche hilft Interessierten, einen Ansprechpartner in der Nähe des eigenen Wohnortes zu finden. Die aufgeräumt wirkende Seite bietet damit einen guten Überblick über das Thema und macht „Erste-Hilfe“-Angebote zum Thema.




Einfach machen und durch

Alexa Berndt packt an. „Wenn Tüten gepackt werden, dann bin ich da“, beschreibt die Münsteranerin ihren Job. „Wenn Tüten getackert werden, dann bin ich an der Tacker-Maschine. Auch, wenn bei der Montage jemand fehlt, bin ich da.“ Mit einem Wort: Die 37-Jährige arbeitet bei der Varia GmbH „überall“, sie rollt an jeden Arbeitsplatz, wenn dort ein Job zu erledigen ist.

„Ich weiß gar nicht, wie die hier ohne mich klarkamen“, lacht sie. Seit gut zwei Jahren pendelt Alexa Berndt in ihrem Rollstuhl zwischen Büro und Montagehalle der Varia GmbH hin und her. Sie verteilt Arbeitsaufträge an die Kollegen, bei den meisten davon geht es um Fahrrad-Gepäckträger, die Varia in Münsters Norden für die Tubus Carrier System GmbH montiert. Ein edles Produkt, sehr leicht und belastbar, so dass es „auch extreme Torturen nicht krumm nimmt“, wie es in der Werbung heißt. Varia ist ein Tochterbetrieb der Stift Tilbeck GmbH aus Havixbeck, die in den dortigen Baumbergen die ‚Tilbecker Werkstätten‘ betreibt. Die Firma selbst ist ein Integrationsunternehmen, das unter anderem vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe unterstützt wird und ein Team aus behinderten und nicht-behinderten Mitarbeitern beschäftigt.

Tubus als Auftraggeber von Varia ist gleich auf der anderen Straßenseite angesiedelt. Das Unternehmen, das seit zwei Jahrzehnten hochwertige Fahrradgepäckträger-Systeme herstellt und weltweit als führender Hersteller auf diesem Markt gilt, ist von sich überzeugt – und gibt deshalb auch 30 Jahre Garantie auf die Träger. „Wir montieren hier bei Varia 3000 bis 4000 Gepäckträger in der Woche für Tubus. Ich hab’s selber nicht geglaubt, als ich diese Zahl gelesen habe“, sagt Alexa Berndt. Tubus-Chef Peter Ronge und sein Team verlassen sich ganz auf Varia und darauf, dass die Mitarbeiter dort die Gepäckträger sorgfältig zusammensetzen, sie etwa mit einer Federklappe versehen, ein Namensschild darauf kleben und die Rücklichter einbauen. Erst diese Endmontage des Produkts, die hier erledigt wird, verwandelt die Ware in die vom Kunden bestellten Varianten. Die Einzelteile dafür werden in China hergestellt.

Vor 15 Jahren hatte Alexa Berndt Glück im Unglück. Sie überlebte damals einen schweren Autounfall, bei dem ihr damaliger Freund am Steuer saß. Seither ist sie querschnittsgelähmt und lebt mit Rollstuhl. „Wir sind richtig in den Graben rein und haben uns überschlagen. Ihm ist nichts passiert.“ Sie bemüht sich, nüchtern zu klingen, als sie weiter erzählt, dass ihr damaliger Freund sie nach dem Unfall verlassen hat. Er war nicht der Einzige: „Von meinen besten Freunden von damals sind mir nur zwei geblieben“, sagt sie bitter.

Umschulung zur Bürokauffrau

Bevor ihr das passiert ist, hatte sie kaum bis keinen Kontakt zu Menschen mit Behinderung, erzählt sie. „Die eigene Weltsicht ändert sich nach so einer Veränderung aber ganz schlagartig, man sieht alles ganz anders. Zum Beispiel sieht man jede Bordsteinkante, denn das ist immer ein potentielles Hindernis. Ich habe früher, vor meinem Unfall, selbst ab und zu auf einem Behindertenparkplatz geparkt. Deshalb rege ich mich heute auch nicht so sehr auf, wenn einer ohne Behinderung darauf steht. Ich kenne beide Seiten,“ sagt sie. Damals musste sie trotzdem mit erleben, wie Freunde sagten: Die kann keine Party mehr machen, die kann nirgendwo mehr mit hin. Heute kämpft Alexa Brandt gegen diese Sichtweise. „Natürlich kann man auch mit einer Behinderung ganz viel machen!“ Zum Beispiel im Beruf eine Umschulung zur Bürokauffrau, so wie sie: „Einfach machen und durch“, sagt sie heute. Bis vor kurzem hat sie sogar noch fünf Stunden mehr bei Varia gearbeitet als jetzt. Inzwischen braucht ihr achtjähriger Sohn sie mehr zu Hause, denn er geht nun in die dritte Schulklasse. „Jetzt wird’s ernst!“, lacht die 37-Jährige, denn sie muss den Jungen jetzt regelmäßig bei den Hausaufgaben unterstützen.

Alexa Berndt hat ihr Leben und ihre Arbeit mit der Behinderung gut organisiert. Sie wohnt zusammen mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn mitten in der Stadt im Haus ihrer Oma, in der dritten Etage, unterhalb der Wohnung ihr die Eltern. Das Haus wurde mit einem Aufzug ausgestattet, so dass die 37-Jährige sich frei bewegen kann. Morgens um kurz nach 8 Uhr rollt sie mit ihren Auto bei Varia vor, holt den Rolli aus dem Wagen – und der Arbeitstag kann starten. Sie freut sich täglich, dass sie mit Varia-Betriebsleiter Martin Arning so gut zusammenarbeiten kann. Vorher hat sie in einer Großwäscherei in der Verwaltung gearbeitet, über das Internet fand sie den neuen Job bei Varia. „Ich fühlte mich hier gleich wohl und bin sehr froh, dass ich diesen Schritt gewagt habe.“

Alexa Berndt und Varia-Betriebsleiter Martin Arning sitzen nebeneinander und lächeln in die Kamera.
Die gelernte Bürokauffrau Alexa Berndt freut sich über die Zusammenarbeit mit Varia-Betriebsleiter Martin Arning. Foto: Thorsten Arendt

In der Varia GmbH hat Alexa Berndt zehn Kollegen, zählt Martin Arning auf, davon haben sieben eine Behinderung. Zusammen mit weiteren Kollegen arbeiten sie in der Endmontage, wo sie 84 verschiedene Gepäckträger-Modelle zusammenbauen. An einer scheinbar endlos langen Hallenwand hängen alle Modelle – eine beeindruckende Vielfalt. Bis 2008 fand die Endmontage noch in Tilbeck statt: „Dort haben wir die ersten Träger montiert. Danach hat sich das so langsam aufgebaut,“ erklärt der Betriebsleiter. Heute pendeln Werkstattmitarbeiter nach Münster zu Varia, um dort zu arbeiten. Diese räumliche Nähe zwischen Auftraggeber und Dienstleister hat zugleich viele logistische Probleme gelöst: Es gibt heute gemeinsame Teams von Varia- und Tubus-Mitarbeitern. „Das geht nahtlos ineinander über, da sind wir ganz flexibel.“ So wie Alexa Berndt, die schlagfertig sagt: „Ich hab hier ‚All-in‘ gebucht, im Büro und in der Produktion. Das war die Einstellungsbedingung: Du darfst überall arbeiten, du bist die Frau für alles.“