Inklusionsbarometer Arbeit 2022: Situation etwas schlechter als im Vorjahr

Das Gesamtergebnis des Inklusionsbarometers Arbeit (mehr dazu unten) ist etwas schlechter als im letzten Jahr: Der Wert liegt 2022 bei 113,2 im Vergleich zu 114,2 im Vorjahr. Ein Wert über 100 bedeutet aber grundsätzlich, dass sich die Lage verbessert, und das ist erfreulicherweise auch dieses Jahr wieder der Fall. Eine weitere gute Nachricht: Nach Jahren der Krise sinken die Arbeitslosenzahlen wieder. Gleichzeitig ist jedoch die Anzahl der langzeitarbeitslosen Menschen mit Behinderung weiter gestiegen, und zwar um über fünf Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Inklusionsklima schlechter

Beim Inklusionsklima, dem eine repräsentative Umfrage zugrunde liegt, zeigt ein Barometerwert von über 50 grundsätzlich ein positives Klima an. Dieser Wert wurde zwar auch 2017 bei der letzten Erhebung nicht erreicht. Aber er ist dieses Jahr in allen Regionen Deutschlands sogar noch weiter gesunken. Nordrhein-Westfalen etwa war 2017 mit einem Wert von 43,5 noch Spitzenreiter, dieses Jahr lag der Wert nur noch bei 40. Schlusslicht ist und bleibt der Süden Deutschlands mit einem Wert von 38 (im Vergleich zu 40 im Vorjahr).

Weiterhin viel Aufklärungsarbeit nötig

Außerdem stellte sich heraus, dass 41 Prozent der kleinen Unternehmen, die mindestens einen Menschen mit Behinderung beschäftigen, die staatliche Förderung für solche Arbeitsplätze nicht kennen. Das sind zwar zwei Prozent mehr als im Vorjahr, doch zeigt diese eher kleine Veränderung, dass nach wie vor viel Aufklärungsarbeit bei diesem Thema nötig ist. Gerade für kleine Unternehmen spielen finanzielle Fragen aber vermutlich eine große Rolle bei der Überlegung, ob sie einen Arbeitsplatz für einen Menschen mit Behinderung einrichten können oder wollen – daher könnte es sich positiv auswirken, wenn die staatliche Förderung bekannter wäre.

Weitere Fakten im Überblick

  • Wenn einmal ein Arbeitsverhältnis besteht, bleibt es deutlich häufiger auch erhalten als früher. Im Jahr 2021 gab es mit 19.746 so wenig Anträge auf Kündigung von Menschen mit Behinderung wie noch nie seit Erscheinen des ersten Inklusionsbarometers im Jahr 2013. Diese Entwicklung hat sich 2022 weiter stabilisiert. Den größten Fortschritt hat Bayern gemacht. Hier wurden 24,1 Prozent weniger Anträge auf Kündigung gestellt als im Vorjahr.

  • Ganz anders sieht die Situation für Menschen mit Behinderung aus, die doch arbeitslos geworden sind. Im vergangenen Jahr gelang nur drei Prozent von ihnen die Rückkehr auf den Arbeitsmarkt. Bei Menschen ohne Behinderung waren es sieben Prozent. Das heißt: Arbeitslose ohne Behinderung haben eine mehr als doppelt so hohe Chance, eine Wiederanstellung zu finden, als Arbeitslose mit Behinderung.

  • Die Mehrheit der Unternehmen sieht in der Digitalisierung eine Chance für Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt. Zugleich haben aber nur drei Prozent in Folge der Digitalisierung auch Menschen mit Behinderung eingestellt.

  • Rund 173.000 Unternehmen in Deutschland sind gesetzlich dazu aufgefordert, mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit Menschen zu besetzen, die eine Behinderung haben. Dieser Pflicht kommen aber nur 40 Prozent der Unternehmen im vorgeschriebenen Umfang nach.25 Prozent beschäftigen überhaupt keine Arbeitnehmer:innen mit Behinderung, sondern zahlen stattdessen die sogenannte Ausgleichsabgabe in voller Höhe.

  • Im Kontrast dazu machen die Unternehmen, die Menschen mit Behinderung beschäftigen, vor allem positive Erfahrungen damit: 80 Prozent geben laut der Befragung im Rahmen des Inklusionsklimabarometers an, dass sie keine Leistungsunterschiede zwischen Kolleg:innen mit und ohne Behinderung wahrnehmen.
Grafik mit den wichtigsten Ergebnissen des Inklusionsbarometers Arbeit 2022
Grafik: Aktion Mensch



Der Fachkräftemangel als Inklusionsmotor (?)

„Ein knappes Zehntel der Deutschen ist schwerbehindert. Nur gut die Hälfte von ihnen hat einen Job. Bei den Nichtbehinderten sind es über 80 Prozent. Was läuft da schief?“, fragt Andreas Monning gleich zu Beginn seines Kommentars – und fasst damit die nach wie vor unausgeglichene Situation auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zusammen.

Ausgerechnet der Fachkräftemangel, der schon länger ein großes wirtschaftliches Problem ist, könnte nun zugleich der Motor für mehr Inklusion im Arbeitsleben sein, analysiert Monning – und stellt fest, dass der Anteil an Menschen mit Behinderung im erwerbsfähigen Alter, die einen Job haben, zwischen 2009 bis 2017  tatsächlich um vier Prozent angestiegen ist. Vor allem große Unternehmen mit Tausenden und Zehntausenden von Mitarbeiter:innen scheinen die Chance erkannt zu haben, denn laut Monning inserieren sie inzwischen sehr viel häufiger Stellen, die explizit an Menschen mit Behinderung gerichtet sind.




Exoskelette einfach erklärt: Körperliche Unterstützung bei der Arbeit und im Alltag (mit Video)

Herr Daub, der Begriff „Exoskelett“ klingt für Laien etwas technisch. Was steckt dahinter?

Ein Exoskelett ist ein Assistenzsystem, das direkt am Körper getragen wird. Es entlastet den Bewegungsapparat durch eine zusätzliche Kraftunterstützung. Unsere Muskeln und Gelenke sind auf dynamische Bewegungen ausgelegt, beispielsweise aufs Laufen. Wenn jemand aber immer wieder schwere Lasten heben oder den Bewegungsapparat lange in einer fast unbewegten Stellung halten muss, können die Muskeln schnell erschöpfen. Das kann ein Risiko für Verletzungen sein. Dem wirken Exoskelette entgegen.

Wo kommt diese Kraftunterstützung denn her? Werden Exoskelette mit einem Motor betrieben?

Mal ja, mal nein, es gibt passive und aktive Systeme. Die am weitesten verbreiteten industriellen Exoskelette arbeiten passiv. Sie haben Federn oder Expander, die unter mechanischer Spannung stehen und bei bestimmten Körperhaltungen ihre Energie wieder freisetzen. Dadurch geben sie bei bestimmten Bewegungen automatisch Kraft hinzu, die sonst die Muskeln im Körper allein aufbringen müssten. Bestimmte Körperbereiche werden so gezielt unterstützt und entlastet. Es gibt in dieser Kategorie noch weitere Unterschiede, manche Systeme haben etwa harte Schalen, manche bestehen fast nur aus elastischen Bändern und Bandagen. Letztere sind die so genannten soften Exoskelette oder – das ist der internationale Begriff – „Exosuits“. Es gibt aber immer häufiger auch aktive Systeme, die elektrisch betrieben sind.  

Wann ist welches System sinnvoll?

Das kommt darauf an. Wenn technische Maßnahmen oder eine Veränderung der Arbeitsabläufe nicht mehr ausreichen, um eine Person am Arbeitsplatz ausreichend zu entlasten, können Exoskelette eine gute zusätzliche Möglichkeit sein, egal, ob aktiv oder passiv. Aktive Exoskelette können aber vor allem dann sehr sinnvoll sein, wenn ein höherer Kraftaufwand bei einer Arbeit anfällt oder die benötigte Unterstützung individuell unterschiedlich ist. Das Exoskelett lässt sich nämlich viel genauer auf die Bedürfnisse der Person oder eine bestimmte Tätigkeit einstellen. Wenn etwa Gewichte stark variieren, also beispielsweise Pakete zwischen zwei und 25 Kilogramm bewegt werden müssen, kann die Unterstützung bei aktiven Systemen daraufhin angepasst werden. Mit solchen Anforderungen beschäftigt sich übrigens auch ein Teil unserer Forschung sehr intensiv.

Sie sagen, dass mit den Exoskeletten immer bestimmte Körperbereiche unterstützt werden. Es gibt also unterschiedliche Varianten, je nachdem, ob jemand zum Beispiel eher mit den Armen oder eher aus den Beinen arbeitet?

Ja, wobei die meisten Exoskelette darauf ausgelegt sind, den Oberkörper gerade und aufrecht zu halten – das sind die „Rückenexos“ – oder den Armen bei Überkopftätigkeiten die Last abzunehmen, das sind die „Schulterexos“. Es gibt darüber hinaus auch noch Systeme für den Nacken, den Daumen oder die Handkraft.

Bei welchen Arbeiten unterstützen die Rücken- und Schultersysteme?

Die Systeme für den Rücken werden dann eingesetzt, wenn schwere Bauteile oder Behälter angehoben oder abgelegt werden müssen, oder wenn jemand über längere Zeit in einer nach vorne geneigten Haltung arbeiten muss. Ein typisches Anwendungsfeld für Rückenexos ist zum Beispiel die Logistik, wie schon bei den aktiven Systemen erklärt: Dort müssen Menschen oft und häufig schwere Pakete heben und tragen. Die Schulter-Exoskelette helfen wiederum bei Tätigkeiten, bei denen die Arme lange oben gehalten werden, zum Beispiel bei Montage- oder Schweißarbeiten (→ siehe Video).

Wann gilt ein Exoskelett als „gelungen“, was muss es dafür alles erfüllen?

 Die Anwender:innen würden sagen: Das Exoskelett sollte am besten so gut wie gar nichts wiegen, beim Tragen nicht zu spüren sein, nicht einschränken und trotzdem möglichst stark unterstützen. Das klingt nach der sprichwörtlichen „eierlegenden Wollmilchsau“, die erst noch erfunden werden muss. So perfekt lässt sich das aus technischen Gründen natürlich nicht umsetzen – ein paar Kompromisse sind also immer nötig. Deshalb gibt es auf dem Markt derzeit auch mehr als 100 verschiedene Exoskelette zu kaufen: Keines ist rundum perfekt, jedes Einzelne löst aber für bestimmte Anwender:innen ganz konkrete Probleme und Anwendungsfälle sehr gut. Das bedeutet wiederum, dass jeweils das am besten geeignete Exoskelett gefunden werden muss.

Es gibt Exoskelette also schon in vielen verschiedenen Versionen und für fast jeden Anwendungsfall. Könnten sie dann nicht auch für Menschen interessant sein, bei denen es weniger um ein Verhindern von Verletzungen geht, sondern für die die unterstützende Funktion im Vordergrund steht – sprich, für Menschen mit einer körperlichen Behinderung?

Das ist ein sehr guter Gedanke. Exoskelette könnten tatsächlich Menschen mit Behinderungen im Berufsleben unterstützen, manchmal vielleicht sogar überhaupt erst eine Teilhabe ermöglichen. Auch die Exoskelett-Hersteller haben das erkannt, also dass in den Systemen noch eine ganz andere Chance abseits der industriellen Anwendung liegt. Menschen mit erworbenen oder angeborenen körperlichen Einschränkungen könnten davon nach meiner Einschätzung künftig sicher sehr profitieren – und so zum Teil entweder überhaupt wieder arbeiten können oder aber leichter.

Kennen Sie ein Beispiel, in dem das schon der Fall ist?

Ja, auf der Rehacare-Messe hatten wir in unserem Symposium „Technische Assistenz und berufliche Rehabilitation“ einen Vortrag, in dem es um einen Museumsmitarbeiter ging, der eine neurologische Erkrankung hat. Sein Beruf ist es, Scheren auf traditionelle Weise zu fertigen. Im Museumsbetrieb sind die Maschinen, die dafür verwendet werden, denkmalgeschützt. Technische Anpassungen daran, um ihm die Arbeit zu erleichtern, sind also ausgeschlossen. Seit über einem Jahr nutzt er bei seiner Arbeit nun ein Exoskelett, das seine Hand unterstützt und ihm so dabei hilft, die neurologisch bedingt fehlende Kraft auszugleichen. Laut seiner Aussage kann er seine Tätigkeit dadurch besser, länger und vor allem schmerzfrei ausführen. Dem Museum bleibt damit ein wertvoller Mitarbeiter erhalten – und er selbst kann seinen Job weiterhin ausführen. —


Tipp

Vergangenes Jahr haben wir für unseren Blog bereits mit Hans-Jürgen Schrage gesprochen, dem Scherenmonteur, um den es auch auf dem RehaCare-Symposium ging. Hier geht es zum Interview!






Die weltweit die größte Messe für Inklusion ist wieder in Düsseldorf: die RehaCare 2022 vom 14. Bis 17. September 2022

Der gemeinsame Auftritt der beiden Inklusionsämter aus dem Rheinland und aus Westfalen-Lippe steht dieses Jahr unter dem Motto „102 Jahre Schwerbehindertenvertretung“. Die Ämter informieren unter anderem über die Meilensteine in der Geschichte der Schwerbehindertenvertretungen, die es schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts gibt.

Wer möchte, kann sich auch beraten lassen

Die Inklusionsämter beraten die Besucherinnen auch – entweder direkt am Stand oder auf einer „Round-Table-Fläche“, wo ausführlichere Gespräche möglich sind. Als unterstützende Expert:innen sind dort zum Beispiel Kolleg:innen aus der LVR-Eingliederungshilfe mit dabei, aber auch aus dem LWL-Inklusionsamt Soziale Teilhabe, den Industrie- und Handelskammern sowie der Landwirtschaftskammer und den Integrationsfachdiensten.

Die Themen, die in den Beratungsgesprächen je nach Bedarf aufgegriffen werden können, sind entsprechend breit gefächert: Es kann um den Übergang von der Schule ins Arbeitsleben gehen, aber auch um die Eingliederungshilfe, um Leistungen zur Beschäftigung eines Menschen mit Behinderung in einer Werkstatt, um Begleitende Hilfen, um Förderungen für Menschen mit Schwerbehinderung oder um die Planung und Gestaltung von behinderungsgerechten Arbeitsplätzen.

Technische Hilfsmittel und digitale Assistenzsysteme

Ebenfalls vertreten ist das Fraunhofer-Institut, das unter anderem technische Hilfsmittel vorführt – zum Beispiel ein Exoskelett. Aber auch digitale Assistenzsysteme können sich die Besucher:inne anschauen, die unter anderem im im Pilotprojekt „OmniAssist“ des LWL zum Einsatz kommen (in unserem Blog haben wir kürzlich hier ein Interview zu diesem Projekt veröffentlicht). Wer möchte, kann außerdem von Mittwoch bis Freitag im offenen „Vortrags-Forum“ an jeweils einer Infoveranstaltung von LWL und LVR teilnehmen. Das Forum ist für alle Besucher:innen kostenfrei zugänglich. Hier geht es zum Programm.

Kulinarischer Tipp: „Wo ist Tom?“

Wer gerne mal einer Konditorin bei ihrer Arbeit über die Schulter schauen und gebackene Spezialitäten von ihr kosten möchte, kann die Chance bei der RehaCare nutzen und sich die Arbeit des Inklusionsbetriebs „Wo ist Tom?“ anschauen, einem Café aus Köln, das dieses Jahr zu Besuch ist. Dazu serviert ein Barista des Cafés verschiedene Kaffeevariationen.




Selbst sprechen, selbst Themen setzen: Das Social-Media-Team des YouTube-Kanals „Behindert – so what!“

In vielen Medien wird zwar heute mehr über Inklusionsthemen berichtet als noch vor einigen Jahren, doch Menschen mit Behinderung kommen dabei nach wie vor eher selten selbst zu Wort. In der Social-Media-Redaktion der Hephata-Stiftung ist das anders. Fast alle Mitglieder des Teams haben eine Behinderung. Sie bestimmen die Themen mit, die sie anschließend eigenständig für den YouTube-Kanal umsetzen.

Das ZDF-Magazin 37 Grad hat für die Reportagereihe „einfach Mensch“ einen Blick hinter die Kulissen geworfen und das Social-Media-Team bei Redaktionssitzungen oder auch bei Filmdrehs begleitet, einer zum Beispiel im Stadion des Bundesligisten Borussia Mönchengladbach. Auch Alltagssituationen von Menschen mit Behinderung, die oft von Barrieren geprägt sind, sind auf dem YouTube-Kanal immer wieder Thema und werden kritisch in Frage gestellt.




„Menschen sind taktile Wesen, Berührungen sind für uns alle wichtig“

Herr Rapp, das Internet liefert unglaublich viele digitale Informationen. Aber nicht allen Menschen sind sie zugänglich. Blinde und Menschen mit Sehbehinderung können nur einen kleinen Teil davon überhaupt aufnehmen. Welche technischen Gründe hat das?

In zwei Sätzen erklärt: Weil es zwei verschiedene Technologien gibt, mit denen Informationen dargestellt werden können, Pixel und Taxel. Und eine davon ist deutlich weiterentwickelt als die andere.

Das müssen Sie erklären.

Dazu muss ich ein wenig ausholen und ein paar Grundlagen erläutern. Nehmen wir ein einfaches Beispiel aus der Physik, das jeder kennt: Strom. Um diesen von einem Ort zum anderen zu leiten, sind elektrische Leiter nötig, die aus einem Material mit vielen freien Elektronen bestehen, meistens sind das Metalle. Dann gibt es auch noch Nichtleiter, die Strom eben nicht leiten, weil in ihnen keine freien Elektronen vorhanden sind. Außerdem haben wir die Halbleiter, die irgendwo dazwischen liegen. Sie können durch äußere physikalische Einflüsse wie Wärme oder Licht zu Leitern werden. Das ist eine wichtige Eigenschaft, die man sich in der Elektrotechnik zunutze macht. Halbleiter sind zum Beispiel die Grundlage für bestimmte Bauelemente, etwa Dioden.
Damit sind wir beim Pixel, das auch aus so einem Bauelement besteht. Ein Pixel ist ein Leuchtpunkt, mit dem zum Beispiel auf einem Computerbildschirm die Inhalte dargestellt werden. Oder auch: eine LED, kurz für „lichtemittierende Diode“, also ein kleines Bauteil, das Licht aussendet. In den letzten Jahrzehnten gab es bahnbrechendende Entwicklungen in der Halbleitertechnik, daher lassen sich solche Bauteile inzwischen sehr effizient und stark verdichtet herstellen.

Und was ist ein Taxel?

Wenn es auch Menschen mit Sehbehinderung möglich sein soll, Displays zu nutzen, ist dafür eine ganz andere Technologie nötig. Visuelle Informationen durch Licht – also die Pixel – bringen hier ja nichts, die können Menschen mit Sehbehinderung nicht aufnehmen. Also brauchen wir ein „fühlbares“ oder „taktiles“ Pixel. In der Elektrotechnik nennt sich das ein „Taxel“. Das ist eine Art winziger Elektromotor, der einen kleinen Stift anhebt oder absenkt – und dadurch entstehen fühlbare Erhebungen auf einer ansonsten glatten Fläche. Sie sind die Grundlage für Braille-Displays.

Sie brauchen aber wahrscheinlich sehr viele dieser kleinen Elektromotoren, um überhaupt ein ausreichend großes, tastbares Display bauen zu können. Wie machen Sie das?

Genau das ist die große Schwierigkeit. Es ist viel leichter, eine LED, also ein Pixel, so stark zu verkleinern, dass sehr viele davon nebeneinander platziert werden können, wie es bei einem hochauflösenden Bildschirm gemacht wird. Elektromotoren sind sehr viel komplizierter im Aufbau und damit schwieriger zu verkleinern. Ihr eigenes Mobiltelefon ist ein sehr gutes Beispiel: Was bewegt sich daran überhaupt automatisch? Eigentlich gar nichts. Die einzige mechanische Bewegung, die ein Smartphone heute ausführen kann, ist der Vibrationsalarm. Und das ist eine Technologie, die schon mehr als 20 Jahre alt ist. Genau darin liegt die Herausforderung für uns: Die Verkleinerung sich automatisch bewegender Bauteile hat in den letzten Jahrzehnten sehr viel weniger Fortschritte gemacht als die Halbleitertechnik.

Das Foto zeigt einen kleinen, durchsichtigen Plastikkasten mit kleinen Löchern an der Oberfläche, durch die sich Metallstifte nach oben schieben lassen.
In einem frühen Prototypen des Displays wurde noch dieses mechanische Bauteil verwendet. Kleine Metallstifte werden hier durch einen Motor nach oben gedrückt und sind an der Oberfläche als Erhebungen tastbar. Im späteren Display übernimmt eine Flüssigkeit die Aufgabe der mechanischen Stifte: Sie wird in winzige, senkrechte Kanäle nach oben gedrückt und hebt eine dehnbare Oberfläche an den passenden Stellen an. Diese Technik heißt „Mikrofluidik“. (Foto: Universität Freiburg)

Ein Problem ist also die veraltete Technologie, mit der Sie arbeiten müssen?

Genau, und die Kosten. Wenn Sie heute ein normales Display in 4K-Auflösung bauen wollen, also mit 4000 Pixeln in der Breite, geht das dank der Halbleitertechnologie kostengünstig und ist noch dazu hocheffizient. Ein taktiles Display dagegen hat nur einen Bruchteil der Auflösung eines Nintendo Gameboys aus den 1990er Jahren, um einen anschaulichen Vergleich aus der Welt der Spielekonsolen zu nennen. Wir greifen bei unserem Projekt also notgedrungen auf eine Technologie zurück, die mehr als 30 Jahre alt ist und sich seither kaum weiterentwickelt hat.

Wenn die Technologie so langsam fortschreitet: Warum haben Sie sich gerade die besonders schwierige Aufgabe ausgesucht, ein Braille-Display zu entwickeln?

Die Idee für das Display verfolge ich bereits seit einigen Jahren. Ich interessiere mich sehr dafür, technologische Lösungen für Probleme des Alltags zu finden und „pain points“ abzumildern, also besonders dringende, tägliche Probleme von Menschen zu lösen. Genau so ein „pain point“ ist aus meiner Sicht, dass Menschen mit Sehbehinderung bis heute keine Möglichkeit haben, digitale Informationen ebenso gut aufzunehmen wie sehende Menschen. Dabei ist das ein sehr wichtiger Bestandteil unseres Zusammenlebens im 21. Jahrhundert. Hinzu kommt, dass alle Menschen von Grund auf sehr taktile Wesen sind. Wir ertasten und erfühlen gerade ganz am Anfang unseres Lebens unsere Umwelt ja viel mehr, als dass wir sie sehen oder hören. Jeder, der Kinder hat, weiß genau, was ich meine. Dass wir heute vergleichsweise viel über das Sehen und Hören wissen und so wenig über den Tastsinn, erscheint mir völlig widersprüchlich. Ich frage mich oft: Warum nutzen wir den allerersten unserer Sinne so wenig?

Wie weit sind Sie bei Ihrer Forschung gekommen?

Es gibt einen ersten Prototypen des Braille-Displays. Die Ingenieurin Elisabeth Wilhelm hat den allerersten Entwurf in meiner Arbeitsgruppe im Rahmen ihrer Promotion entwickelt. Nun sind wir aber mit den gleichen Herausforderungen konfrontiert wie viele andere neue Entwicklungen auch: Das Problem sind nicht die Materialien oder die Grundidee, sondern, dass wahnsinnig viele verschiedene Faktoren möglichst perfekt zusammenwirken müssen. Viele gute Ansätze scheitern daher vor allem an solchen Problemen, wenn sie im großen Maßstab hergestellt werden sollen. Das ist auch bei uns so. Es war sehr mühsam und fehleranfällig, den Prototypen zu produzieren. Wir werden später ein anderes Fertigungsverfahren brauchen.

Mit wem arbeiten Sie auf diesem langen Weg zusammen? Und wie beziehen Sie Blinde und Menschen mit Sehbehinderung in die Entwicklung mit ein?

In meinem Arbeitsfeld ist es sehr wichtig, viele unterschiedliche Fachrichtungen dabei zu haben. Mein Team ist deshalb mit ungefähr 50 Leuten nicht nur recht groß, sondern auch sehr divers. Bei uns arbeiten Materialwissenschaftler:innen, Ingenieur:innen, Physiker:innen, Biolog:innen und Chemiker:innen zusammen. Etwa zehn davon beschäftigen sich mit dem taktilen Display. Dazu holen wir uns auch noch Unterstützung von außen. Wir haben zum Beispiel das Glück, dass wir schon früh im Projekt mit den Kolleg:innen am Zentrum für digitale Barrierefreiheit und Assistive Technologien (ACCESS@KIT) zusammenarbeiten durften. Das ACCESS@KIT ist eine der führenden Forschungseinrichtungen bei Technologien für Menschen mit Sehbehinderung. Jeder unserer Prototypen wird direkt von einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter mit Sehbehinderung des Zentrums getestet und bewertet. Das machen wir regelmäßig im Abstand weniger Wochen. Die Kolleg:innen dort haben uns dabei immer ein sehr direktes und konkretes Feedback gegeben. Sobald wir mit dieser Unterstützung ein stabiles Produktdesign gefunden und die passende Fertigungstechnologie entwickelt haben, werden wir größere Studienreihen anfangen. Das haben wir uns von der Ethikkommission der Universität Freiburg schon genehmigen lassen.

Ein Team aus 50 Leuten und ein komplexes Forschungsthema: Das kostet Geld. Wie finanzieren Sie Ihr Projekt?

Aktuell werden wir durch einen so genannten „Consolidator Grant“ („Grant“ = englisches Wort für „Zuschuss“, Anm. d. Red.) des European Research Council (ERC) gefördert. Das ist eines der umfangreichsten und flexibelsten wissenschaftlichen Förderprogramme in Europa. Wir haben es vor allem dieser finanziellen Unterstützung zu verdanken, dass wir wirklich messbare Fortschritte in unserem Projekt machen können.

Wann, glauben Sie, werden Sie das erste Display auf den Markt bringen? 

Wir rechnen damit, dass wir noch mindestens zwei Jahre daran forschen und es weiterentwickeln müssen. Bei den Problemen, die wir gerade in der Herstellung lösen müssen, denken wir aber schon jetzt darüber nach, wie sich der Prozess später skalieren, also auch für die Produktion größerer Stückzahlen umsetzen lässt. Nur dann wäre ja eine industrielle Herstellung des Displays möglich. Weil wir schon jetzt so darauf schauen, bin ich mir relativ sicher, dass wir schon bald einen ersten Prototypen öffentlich vorstellen können. Die erste größere Studie mit Nutzer:innen bereiten wir gerade vor. Sie wird im Jahr 2023 starten.




„Während der Arbeit erlebe ich mich nicht als krank, da bin ich einfach Arzt“

Dr. Hermsdorf, wann stand für Sie fest, dass Sie Arzt werden möchten?

Das fing schon als Kind an. Mit zwölf Jahren habe ich ein Schulpraktikum in einem Krankenhaus in Jülich gemacht. Ich fand diese Arbeit toll und habe mich damals schon entschlossen, nach der Schule eine Ausbildung zum Krankenpfleger zu machen. Fünf Jahre später habe ich das in die Tat umgesetzt. Im Anschluss habe ich Medizin studiert. Während dieser Zeit stellte sich heraus, dass ich Multiple Sklerose habe. Damals war die Krankheit aber noch im Anfangsstadium. Ich konnte nach dem Studium also direkt die Ausbildung zum Facharzt anschließen.

Ein Arzt, der selbst Multiple Sklerose hat und Patient:innen mit der gleichen Erkrankung behandelt – hat das Vorteile in Ihrem Beruf?

Absolut! Ich weiß ja aus eigener Erfahrung sehr genau, worum es geht, und habe zugleich das Wissen, um die Erkrankung fachgerecht zu behandeln. Dies hilft sehr bei der Vertrauensbildung und ist wichtig bei vielen Therapieentscheidungen. Außerdem ist weniger Kommunikation nötig, weil ich mich ja selbst oft so gefühlt habe wie viele meiner Patient:innen. Jeder kennt zum Beispiel diese typische Arzt-Frage, wenn man zu einem Termin kommt: „Wie geht es Ihnen denn heute?“ Wer mit Multipler Sklerose lebt, hat darauf oft gar keine Antwort oder zögert zumindest länger

Warum?

Das hat etwas mit dem Verlauf der Erkrankung während einer Schub-Phase zu tun. Oft ist es so, dass es einem morgens noch sehr gut ging, nachmittags war es aber deutlich schlechter. Was also auf die Frage antworten, wie es einem heute geht? Diesen Zwiespalt brauchen meine Patient:innen mir gar nicht zu erklären, ich verstehe das sofort. Auch auf Bedenken oder Angst vor Nebenwirkungen kann ich anders reagieren als Kolleg:innen, die MS nicht aus eigener Erfahrung kennen. Ich bin selbst ein anschauliches Beispiel, kann also sagen: „Schauen Sie mal, ich nehme auch solche Medikamente ein, damit ich keine neuen Schübe bekomme. Es klappt und ich bin dadurch sogar arbeitsfähig.“ Das macht vielen Mut, die mit ihrer Diagnose erst umgehen lernen müssen oder unsicher sind, ob der Behandlungsplan bei ihnen funktionieren wird.

In welchem Fachgebiet arbeiten Sie genau?

Ich habe mich nach der Arztausbildung erst zum Strahlentherapeuten weitergebildet, weil ich Menschen mit Krebserkrankungen helfen wollte. Dann habe ich aber noch einmal weitere fünf Jahre in die Radiologen-Ausbildung investiert, habe also zwei Fachgebiete, weil ich damals gern noch ein zweites Standbein neben der Strahlentherapie haben wollte. Heute arbeite ich ausschließlich als Radiologe.

Warum haben Sie sich auf dieses zweite Gebiet spezialisiert?

Das hat zwei Gründe. Der eine hat mit meiner heutigen Arbeit in Anholt zu tun. Die Radiologie umfasst verschiedene bildgebende Verfahren, mit denen zum Beispiel das Gehirn oder das Rückenmark von Patient:innen untersucht werden, um neurologische Erkrankungen wie Mulitple Sklerose oder Parkinson zu diagnostizieren. Das ist der Schwerpunkt der Abteilung im Augustahospital, in der ich heute arbeite. Mein anderes Fachgebiet, die Strahlentherapie, nützt bei MS oder Parkinson hingegen nichts.
Der zweite Grund für den Umschwung ist, dass sich meine eigene Krankheit in den letzten Jahren verschlimmert hat. Meine letzte Stelle in einer Klinik in Norddeutschland musste ich nach einem Schub leider beenden. Danach kam ich als Patient hier nach Anholt. Der damalige Chefarzt bot mir an, halbtags in der Radiologie des MS-Schwerpunktzentrums zu arbeiten. Das habe ich sehr gern angenommen.

Ein über die Schulter fotografierter Bildschirm mit einer MRT-Aufnahme eines menschlichen Gehirns
Dr. Hermsdorf begutachtet die Aufnahme eines menschlichen Gehirns. Foto: Augustahospital Anholt

Hat die neue Stelle etwas für Sie verändert, abgesehen vom Fachgebiet?

Ja, meine Erkrankung ist stabil, seit ich in Anholt arbeite. Ich hatte keine neuen Schübe. Das ist kein Zufall, denke ich. Positiver Stress ist für die Erkrankung gut. Während der Arbeit erlebe ich mich nicht als krank. Da bin ich einfach Arzt und gehe noch dazu einer erfüllenden, sinnvollen Aufgabe nach. Außerdem fühle ich mich immer gut aufgehoben, sollte doch mal ein Schub kommen, denn ich bin von Menschen umgeben, die sich alle mit der Erkrankung auskennen. Das gibt mir Ruhe und Sicherheit – und das wiederum hat viel mit Teilhabe zu tun. Ich kann durch diese Bedingungen meinen Beruf so ausüben, wie Menschen ohne eine solche Erkrankung es auch tun. So sollte es eigentlich immer sein.

Was finden Sie so erfüllend an Ihrer Arbeit in der Klinik?

Ich arbeite in der Kombination zweier Arbeitsbereiche, die optimal ist. In größeren Kliniken sind die Radiologie und die Patient:innenversorgung völlig getrennt voneinander. In meinem Beruf ist beides eng miteinander verbunden. Das hat viele Vorteile. Ein Beispiel: Wenn jemand mit Symptomen eines gebrochenen Knöchels zu uns in die Klinik kommt, kann ich einfach direkt zu ihr oder ihm aufs Zimmer gehen – anders als in anderen Kliniken, wo die Radiologie entweder ausgelagert oder sehr weit weg von den Stationen ist. Im Zimmer untersuche ich den Fuß und entscheide dann, welche Bilder ich machen muss: Was genau sollte ich röntgen? Nur den Fuß oder lieber auch den Unterschenkel? Die Diagnostik wird dadurch zielgerichteter. Auch MS-Patient:innen kann ich mir so direkt anschauen und mir die Symptome schildern lassen. Und dann besser abschätzen, welche Bilder für die weitere Diagnostik gemacht werden müssen.

Sie sind infolge Ihrer Erkrankung mit Rollstuhl unterwegs. Gab oder gibt es Hürden für Sie in der Klinik? 

Nein, in Anholt war schon alles rollstuhlgerecht. Vom Parkplatz bis zu meinem Büro und in die Stationen und Zimmer ist alles so gebaut, dass ich ohne Hilfe überall hinkann. Da wir eine Fachklinik für MS und Parkinson sind, muss das auch so sein. Zufällig ist die Radiologie noch dazu auf derselben Etage wie die Stationen. Das spart mir sehr viel Zeit, denn sonst müsste ich ständig mit dem Rollstuhl im Aufzug rauf- und runterfahren, um zwischen Radiologie und Patientenzimmern zu wechseln. Im Team spielt meine Erkrankung übrigens überhaupt keine Rolle, die ist bei meiner Arbeit ja wie beschrieben eher ein Vorteil.

Hat sich durch die Corona-Pandemie für Sie und Ihre Patient:innen etwas verändert?

Ja und nein. Meine Arbeit funktioniert nur vor Ort, denn es geht dabei um die direkte Kommunikation mit meinen Patient:innen. Da bei uns Menschen mit unterdrücktem Immunsystem behandelt werden, hatten wir schon vor Corona ein gutes Hygienemanagement. Unter den üblichen Sicherheitsvorkehrungen konnten wir also fast nahtlos vor Ort weiterarbeiten. Insofern hat sich nicht viel verändert. Ich habe mich zudem frühzeitig impfen lassen und teste mich bis heute regelmäßig. Bisher bin ich so gesund durch die Pandemie gekommen.

Corona hat aber auch dazu geführt, dass wir Patient:innen etwas anders behandeln müssen. Bestimmte MS-Medikamente beeinflussen das Immunsystem, eine Impfung wiederum fordert dieses aber sehr stark. Wir mussten also abwägen: Wie lange muss mit der MS-Behandlung nach einer Impfung gewartet werden? Und wie lang warten, bevor eine Booster-Impfung gegeben werden darf? Da war die Verunsicherung schon groß.

Wie sind Sie damit umgegangen?

Ich habe mich an den Leitlinien der offiziellen Stellen orientiert, zum Beispiel des Robert-Koch-Instituts – und meinen gesunden Menschenverstand eingesetzt. Pandemie hin oder her, wer einen akuten Schub hat, braucht Medikamente, da gibt es keine Alternative. Wenn eine Behandlung aber nicht unbedingt notwendig war, habe ich gemeinsam mit der Patientin oder dem Patienten die Risiken abgewägt und wir haben zusammen entschieden, was das Beste in der Situation ist.

Zum Abschluss noch ein Blick in die Zukunft zum Thema Inklusion: Was müsste sich aus Ihrer Sicht ändern, damit unsere Gesellschaft inklusiver wird?

Das, was an meinem Arbeitsplatz selbstverständlich ist, fehlt mir im öffentlichen Leben leider oft völlig: die Selbstbestimmtheit. Ich merke das überall. In der Stadt, wenn ich in ein Café möchte und der Laden hat schon am Eingang eine unnötige Stufe. Oder die Toilette ist im ersten Stock und es gibt keinen Aufzug. Oder ich möchte ins Kino und es gibt keine Plätze für Rollstuhlfahrer:innen – und ich weiß außerdem vorher nicht, ob ich überhaupt ohne Hilfe in den Saal komme. Ich brauche eigentlich immer Unterstützung, wenn ich unterwegs bin, muss alles vorplanen, selbst beim Einkaufen. Vor der Erkrankung war ich gerne spontan. Das geht heute nicht mehr, mir ist also ein Stück Unbeschwertheit verloren gegangen. Ich wünsche mir sehr, dass Barrieren im öffentlichen Raum abgebaut werden und Inklusion viel selbstverständlicher wird, als sie es bisher ist.




Aktionen zum „Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen“ am 5. Mai 2022

Zu den Veranstaltungen, die die Aktion Mensch hier gesammelt hat, zählt zum Beispiel eine Demo des Berliner Behindertenverbands e. V., die am 5. Mai um 14 Uhr am Brandenburger Tor startet. Oder die Aktion „Gelbe Karte für Stolperfallen“ des Blinden- und Sehbehindertenbunds in Hessen e. V. (BSBH) am 5. Mai in Darmstadt und am 6. Mai in Kassel. An diesen Tagen heften die Mitmacher:innen der Aktion gelbe Karten an schlecht geparkte E-Scooter auf dem Gehweg, um so darauf aufmerksam zu machen, dass diese Fahrzeuge für blinde und sehbehinderte Menschen sehr gefährliche Hindernisse sein können. Und wer möchte, kann sowohl in Darmstadt als auch in Kassel auf einem Hindernis-Parcours selbst erleben, wie es sich anfühlt, bei völliger Dunkelheit auf Gehwegen und Straßen unterwegs zu sein.




„Unser Ziel ist mindestens eine Milliarde Euro“: Porträt auf Capital+ über die Gründer der Parkinson-Stiftung Yuvedo

Als Jens Greve die Diagnose Parkinson bekam, las er erst einmal zwei Jahre lang alles, was zu der Nervenkrankheit veröffentlicht worden war. Er machte sich so nach und nach selbst zum Experten seiner Erkrankung. Heute weiß er, dass diese irgendwann heilbar sein wird – und dazu will er einen Beitrag leisten. Er gründete gemeinsam mit dem Anwalt Jörg Karenfort und anderen die Parkinson-Stiftung Yuvedo. Die beiden Männer verbindet, dass sie die Diagnose schon mit Mitte 40 bekommen haben. Die 300.000 Erkrankten in Deutschland sind sonst vor allem ältere Menschen.

Yuvedo verfolgt drei Ziele: Mit einer App für Patient:innen, die es auch als Web-Anwendung gibt, sollen möglichst viele Daten über die Krankheit gesammelt werden. Das ist eine wichtige Grundlage für die weitere Parkinson-Forschung. Zweitens legte die Stiftung die Neuro-Initiative 4.0 auf, die die Bewegung von Erkrankten fördern sowie deren Diskriminierung und Stigmatisierung verhindern soll. Und nicht zuletzt will Yuvedo die Erforschung besserer Medikamente vorantreiben. Das ist ein besonders großes Vorhaben. Es gibt zwar bereits Arzneimittel, diese unterdrücken die Symptome aber nur zeitweise. Außerdem haben die Mittel Nebenwirkungen. Wer zum Beispiel zu lange Medikamente einnimmt, die die Ausschüttung von Dopamin im Hirn anregen, kann irgendwann bestimmte Impulse nicht mehr kontrollieren. Das kann zu Spiel-, Sex- oder Kaufsucht führen. „Es gibt etliche, die ihr Erspartes verzockt haben“, sagt Jörg Karenfort im Capital+-Artikel.

Wenn mehr Geld in die Forschung und Behandlung von Parkinson-Erkrankten fließen würde, könnten die Medikamente besser werden, davon sind Karenfort und Greve überzeugt. Sie legen deshalb gerade einen Fonds auf, um ab 2022 private Investoren mit ins Boot zu holen. „Unser Ziel ist es, mindestens eine Milliarde Euro zusammenzubekommen“, sagt Karenfort im Artikel. Dabei geht es ihm und seinen Mitstreiter:innen nicht um Spenden, sondern um Geldanlagen, die sich für die Investor:innen auszahlen sollen. Das Geld soll später in Forschung investiert werden oder an Pharmakonzerne und Start-ups gehen.

›› Den ganzen Artikel über die beiden Gründer, die Stiftung und deren Ziele lest ihr auf Capital+.




„Der Selbsttest gibt keine Entscheidung vor, sondern bringt Ordnung ins Chaos“ | Interview mit Veronika Chakraverty zum Online-Angebot „Sag ich’s?“, Teil 2

Frau Chakraverty, im ersten Teil unseres Interviews haben Sie uns erklärt, wie Ihr Angebot entstanden ist und wie Sie es finanzieren. Aber wie genau setzen Sie es um? Wie haben Sie zum Beispiel die vielen Fragen für den Selbsttest erarbeitet?

Wir haben zunächst Berufstätige mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen online zu ihren Erfahrungen mit der Entscheidung befragt, ihre Beeinträchtigung bei der Arbeit offenzulegen oder nicht. Das war eine wichtige Grundlage dafür, welche Schwerpunkte wir im Test setzen wollten. Für viele Befragte stand die Angst vor Diskriminierung sehr stark im Vordergrund. Mögliche positive Konsequenzen wiederum, die daraus ja auch entstehen können, gingen eher unter. In der Psychologie nennt sich das „Urteilsverzerrung“: Die meisten Menschen neigen unbewusst dazu, mögliche negative Folgen bei einer Entscheidung zu stark zu gewichten. Unsere Erkenntnisse aus der Befragung deckten sich also mit den wissenschaftlichen Theorien und Studien zum Thema.
Für uns stand daher fest: Wir wollen mit den Fragen im Selbsttest sicherstellen, dass nicht nur Bedenken und Ängste die Entscheidung beeinflussen, sondern auch positive Aspekte wie Hoffnungen oder persönliche Wertvorstellungen genug Raum bekommen. Denn es ist völlig nachvollziehbar, dass sich jemand vor Diskriminierung sehr fürchtet. Gleichzeitig kann diese Furcht aber dazu führen, dass eine Entscheidung fällt, die für einen selbst eigentlich gar nicht die beste ist.

Sie sprechen wissenschaftliche Studien an, die es zum Thema gibt. Was haben Sie damit noch herausgefunden?

Wir wollten zum Beispiel wissen, welche Faktoren sich später positiv oder negativ darauf auswirken können, ob die eigene Erkrankung offengelegt wird. Ein Beispiel ist die Frage danach, ob Menschen im allgemeinen starke negative Vorurteile gegenüber der Erkrankung oder Behinderung haben. Wenn ja, steigt tatsächlich das Risiko, diskriminiert zu werden. Ein anderes Beispiel: Wie wichtig ist es der Person, bei der Arbeit authentisch zu sein? Wenn das Bedürfnis danach sehr stark ist, kann es umgekehrt sehr belastend und stressig sein, die eigene Behinderung zu verschweigen.

Wie werden die Antworten ausgewertet?

Das ist relativ komplex, weil uns wichtig war, dass die Befragten ihre Auswertung sofort nach Ende des Selbsttests abrufen können. Die Ergebnisse sollten also nicht erst im Hintergrund von Hand ausgewertet werden müssen, denn das wäre sehr aufwändig und teuer gewesen. Die Auswertung gibt zunächst einen Überblick darüber, welche Aspekte eher für oder gegen eine Offenlegung sprechen. Jedes einzelne Thema kann dann noch einmal „aufgeklappt“ werden, um ausführlichere Informationen zu erhalten. Die Grundlage dafür sind verschiedene Textbausteine, die wir vorab entwickelt haben. Unsere Software fügt diese zusammen. Das geschieht unter anderem mit Hilfe von Durchschnittswerten über verschiedene Fragen hinweg. Je nachdem, welchen Wert jemand erreicht, wird später die dazu passende Auswertung angezeigt.

Bekomme ich in der Auswertung also eine Empfehlung „dafür“ oder „dagegen“?

Nein, die Auswertung ist bewusst keine abschließende Empfehlung. Aber sie hilft dabei, die eigene Situation besser zu verstehen und abzuwägen. Der Selbsttest bringt sozusagen Ordnung ins Chaos, indem er die Argumente für die Nutzer:innen in eine übersichtliche schriftliche Form bringt. So ein Überblick kann bereits sehr entlastend sein, weil die vielen Facetten des Themas nicht mehr alle gleichzeitig im Kopf herumschwirren und die Person vielleicht auch nicht mehr das Gefühl hat, etwas Wichtiges zu vergessen. Die Auswertung kann auch abgespeichert oder ausgedruckt werden. So kann man auch erst einmal in Ruhe drüber schlafen.

Gibt es Fragen, die wichtiger sind als andere und deshalb stärker in die Auswertung einfließen?

Die Themen im Selbsttest sind für die Befragten ja ganz unterschiedlich wichtig, deswegen gewichten wir sie alle gleich. In der Auswertung bieten wir den Nutzer:innen aber die Möglichkeit, selbst festzulegen, welche Aspekte stärker beachtet werden sollen und welche für sie persönlich nicht so entscheidend sind. Außerdem treffen ja nicht alle Menschen auf die gleiche Weise ihre Entscheidungen. Manche sind beispielsweise eher der Typ für Pro-und-Kontra-Listen, andere entscheiden lieber aus dem Bauch heraus. Beides hat seine Berechtigung. Wir geben auf der Website ein paar Tipps dazu, wie diese nächsten Schritte passend zum persönlichen „Entscheidungsstil“ aussehen können.

Und was geschieht, wenn ich mich entschieden habe?

Wenn eine Entscheidung gefallen ist, bieten wir auch hierfür weitere Informationen, die helfen können. Zum Beispiel dazu, wie man sich auf schwierige Gespräche vorbereitet oder sich einen guten Plan machen kann, wenn das Gefühl entstanden ist, dass man das nicht alles auf einmal schafft. Wir ermutigen die Nutzer:innen der Webseite außerdem an verschiedenen Stellen immer wieder, sich persönlich beraten und unterstützen zu lassen. Eine Online-Hilfe wie unsere ist sehr gut für eine erste Orientierung, sie kann aber ein persönliches Gespräch nicht ersetzen.

Sie und Ihre Kolleginnen haben den Selbsttest kürzlich mit einer digitalen Veranstaltung etwa 30 Interessierten vorgestellt. Welche Rückmeldungen kamen von den Teilnehmer:innen – und welche waren für Sie besonders wertvoll?

Es gab viel Lob und auch viele gute Hinweise, wie wir unser Angebot weiterentwickeln können. Einer davon war, dass wir im Social-Media-Bereich noch nicht gut aufgestellt sind. Das heißt: Eigentlich noch gar nicht. Es wurde aber gewünscht, dass wir künftig Beiträge in sozialen Medien zum Thema verfassen sollen, die dann geteilt werden können. Das greifen wir gerne auf.
Ein weiteres Thema war, dass Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen oft schon in der Bewerbungsphase für einen Arbeitsplatz vor der Frage stehen, ob und wie sie ihre Beeinträchtigung ansprechen sollen. Der Wunsch im Plenum war, auch diese Zielgruppe auf der Website künftig zu berücksichtigen. Und einige meldeten uns zurück, dass unser Angebot noch sprachliche Hindernisse enthält, zum Beispiel für Menschen, die gar nicht oder nicht gut Deutsch lesen oder verstehen können. Jugendliche sind sowieso eine ganz andere Art der Ansprache gewöhnt, für sie passt der derzeitige Stil also auch nicht so ganz.

Das bedeutet, dass Sie Ihr Angebot umfangreich weiterentwickeln müssten, um die Bedürfnisse der vielen verschiedenen Zielgruppen noch besser zu erfüllen. Ist das mit der derzeitigen Finanzierung des Projektes abgedeckt?

In dieser Form und in diesem Umfang noch nicht, nein. Die technische Betreuung der Website und des Selbsttests ist bis 2024 gesichert. Kleinere inhaltliche Anpassungen können wir aus Mitteln unseres Lehrstuhls finanzieren. Weiterentwicklungen sind im bisherigen Budget nicht vorgesehen. Wir finden die Anregungen aber sehr gut, deshalb haben wir ja auch zum Gespräch eingeladen. Einiges davon hatten wir vorher schon intern diskutiert. Wir suchen zum Beispiel seit einer Weile nach Finanzierungsquellen, um die Software technisch anpassen zu können, damit wir verschiedene Versionen sowohl der Webseite als auch des Selbsttests anbieten können. Darüber hinaus benötigen wir aber noch weitere Mittel für Übersetzungen, etwa in Leichte Sprache, und für inhaltliche Anpassungen des Selbsttests für die von den Gästen angesprochenen neuen Zielgruppen. Da liegt also noch einiges vor uns. Aber wir sind guter Dinge und hoffen, dass sich unser Angebot weiter herumsprechen wird. Vielleicht ergeben sich dadurch in Zukunft die finanziellen Möglichkeiten, unsere Angebote weiterzuentwickeln und so noch inklusiver zu gestalten. –


Teil 1 des Interviews verpasst?

Hier geht es zum ersten Teil, in dem Veronika Chakraverty das Projekt als solches vorstellt und erklärt, an wen sich das Angebot richtet und wie es finanziert wird.