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Begleitet den Schritt in die Selbstständigkeit wagen: Gründungsberatung und Mentoring für Frauen mit Behinderung

Frau Sautter, was steckt hinter Ihrem Projekt?

Wir möchten mit B.E.S.S.E.R. insbesondere Frauen mit Behinderung auf ihrem beruflichen Weg begleiten und so ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern. Dabei unterstützen wir sie ganz bewusst schon, bevor sie sich dazu entscheiden, zu gründen, beziehungsweise in der Startphase ihrer Erwerbstätigkeit. Wir orientieren uns stark am individuellen Bedarf der einzelnen Person und beraten und betreuen dazu passend. Das klassische Wissen darüber, wie ein Unternehmen gegründet wird, verknüpfen wir mit ganz spezifischen Themen, die vor allem Menschen mit Behinderung betreffen.

Sie haben mit Ihrem Projekt auch ein Mentoring-Programm aufgebaut. Wie funktioniert das?

Wir haben zunächst gezielt nach Frauen mit Berufs- und Führungserfahrung gesucht, die dazu bereit sind, andere Frauen aus ähnlichen Arbeitsumfeldern zu beraten, vor allem solche mit Behinderung. Die Mentorinnen bilden anschließend ein Tandem mit je einer Mentee – also einer meist jüngeren Frau, die sich selbstständig machen möchte und sich bei uns für das Programm beworben hat. Die berufserfahrenen Frauen teilen dann im direkten Kontakt und über einen längeren Zeitraum hinweg ihr Wissen, ihre Erfahrungen und ihr Netzwerk mit ihrer Mentee.

Wie viele dieser Mentoring-Tandems haben Sie im Rahmen des Programms schon zusammengestellt?

In der ersten Runde im Frühjahr 2022 waren die Anmeldungen etwas schleppend, wir konnten insgesamt nur zwölf Zweierteams aus Mentorinnen und Mentees bilden. Das führen wir darauf zurück, dass es aufgrund der gesellschaftlichen Situation für viele wohl erst einmal nicht mehr so attraktiv war, sich selbstständig zu machen – sprich, wegen der Pandemie, dem Krieg in der Ukraine und den wirtschaftlichen Folgen für Europa. Ende Juni 2023 startete eine zweite Runde. Dafür haben sich über 20 Frauen beworben, die gern beraten werden möchten. Wir konnten leider nur 15 davon ins Programm aufnehmen. Der Bedarf scheint also wieder vorhanden zu sein.

Wie profitieren die Mentees davon?

Die Frauen melden uns zurück, dass ihnen der Austausch sehr dabei hilft, ihre Stärken zu erkennen und diese zu entwickeln, aber auch dabei, Ängste abzubauen, Ziele zu definieren oder neue Perspektiven zu entdecken. Oft genügt allein schon die Tatsache, dass ihnen jemand zuhört und den Rücken stärkt. Diese „weichen Faktoren“ in der Mentoring-Beziehung sind oft sogar wichtiger als „harte Faktoren“ wie praktische Tipps zur Gründung – denn diese könnte ja genauso gut auch eine gewöhnliche Gründungsberaterin geben. Beim Mentoring-Programm geht es dagegen vor allem um den individuellen Austausch miteinander – auch mit uns vom Hildegardis-Verein und mit anderen Mentor:innen. Denn zu Beginn, in der Halbzeit und zum Abschluss des Programms findet jeweils ein zweitägiges Seminar statt, bei dem alle zusammenkommen. Das empfinden viele als sehr gewinnbringend.

Und welche positiven Effekte entstehen für die Mentor:innen?

Sie erfahren das Mentoring ebenfalls als Bereicherung, denn sie können ihren eigenen beruflichen Werdegang noch einmal reflektieren, ihre Beratungskompetenzen erweitern, andere Lebensentwürfe entdecken und ihr Netzwerk ausbauen. Frühere Mentor:innen sagen zum Beispiel, dass es besonders interessant für sie gewesen ist, Gedankenanstöße und Informationen zu bekommen, die sonst in ihrem Lebens- und Berufsalltag kaum eine Rolle spielen. Oder sie waren überrascht, wie viel sie einbringen konnten, gerade auch bei persönlichen Fragen. Eine sagte zum Beispiel, dass sie das in sie gesetzte Vertrauen als Geschenk erlebt hat.

Wie wurden die Mentees ausgewählt und was macht sie aus?

Wir haben das Mentoring über viele verschiedene Kanäle ausgeschrieben, unter anderem über Hochschulen, Selbsthilfeorganisationen, Partnernetzwerke wie die Bundesagentur für Arbeit, über Fachmedien, aber auch über Influencer:innen in den sozialen Medien. Die Mehrzahl unserer Mentees ist weiblich, das Alter variiert zwischen Anfang 20 und Mitte 50. Viele möchten sich in den Bereichen Inklusive Dienstleistungen, Gesundheitsmanagement oder Coaching selbständig machen. Wir haben aber auch sehr interessante „Ausreißerinnen“ dabei, zum Beispiel eine promovierte Sozialpädagogin Anfang 30, die mit Rollstuhl lebt und eine barrierefreie Pension eröffnen möchte. Die Geschäftsideen sind breit gefächert. Sie reichen von einem Assistenzdienst, einer Wirtschaftsberatung oder einem Co-Working-Space für Menschen mit Behinderung über die freischaffende Arbeit als 3D-Künstler bis hin zu einer Fußpflege-Praxis. Viele der Mentees empfinden die Selbständigkeit als letzte Möglichkeit, eine Arbeit zu haben, weil sie bis dahin keine Anstellung finden konnten, die zu ihnen passte. Ein Großteil möchte sich daher selbst einen Arbeitsplatz schaffen, der es ihnen ermöglicht, ihre Fähigkeiten zu entfalten. Hinter diesem Wunsch verbirgt sich also ein oft jahrelanger Prozess des Scheiterns in einem wenig flexiblen System.

Wie stellen Sie sicher, dass das Mentoring-Programm für die Teilnehmerinnen gut zugänglich, also barrierefrei und inklusiv ist?

Wir gestalten die Veranstaltungen, die wir anbieten, möglichst ohne Hürden, und zwar sowohl vor Ort als auch in den Videokonferenzen. Dazu stellen wir vorab schriftliche Materialien zur Verfügung, die für Screenreader geeignet sind, oder liefern ausführliche Bildbeschreibungen für Menschen mit Sehbehinderungen. Für Menschen mit Hörbehinderungen sind außerdem Schrift- und/oder Gebärdensprachdolmetscher:innen dabei – oder wir stellen Induktionsschleifen bereit. Die Räume vor Ort sind bei allen Veranstaltungen barrierefrei zugänglich. Bei all dem helfen uns unsere langjährigen Erfahrungen aus anderen inklusiven Projekten, die der Hildegardis-Verein seit mehr als 15 Jahren anbietet.

Wie oft treffen sich die Mentorinnen und Mentees und über welchen Zeitraum? Wie viel Zeit muss eine Mentorin also für das Projekt mitbringen?

Das ist jeweils sehr unterschiedlich. Die gemeinsame Arbeit im Tandem findet digital statt, idealerweise einmal im Monat für eine bis eineinhalb Stunden. Manche Tandems treffen sich aber auch häufiger, je nach Bedarf der Mentees und den Möglichkeiten der Mentor:innen. Letztere sind außerdem oft auch abseits der Treffen sehr aktiv, schauen sich zum Beispiel Business-Pläne an, vermitteln Kontakte oder sehen Unterlagen für die Mentees durch.

Wie werden die Themen und Ziele für das Mentoring vereinbart?

Die Ausgangssituationen der Mentees sind auch wieder sehr verschieden. Deswegen geben sie die Themen und Ziele individuell vor und vereinbaren zusammen mit den Mentor:innen die Reihenfolge, in der diese besprochen werden sollen. Dabei geht es zum Beispiel um Business- oder Finanz-Pläne, aber auch um die Frage: Soll ich mich überhaupt selbständig machen? Und, wenn ja, mit was für einer Gründungsidee? Natürlich machen die Mentor:innen auch selbst Vorschläge und weisen darauf hin, welche Punkte im Gründungsprozess aus ihrer Sicht wichtig sind. Das ist das Schöne am Mentoring: Der Austausch ist sehr dynamisch, offen und individuell, es gibt also kein starres Raster. In unserem Mentoring-Handbuch geben wir als Ergänzung aber auch einige Tipps, wie die Arbeit im Tandem besonders gut funktionieren kann.

Was geschieht, wenn ein Konflikt oder Problem innerhalb der Mentoring-Beziehungen auftritt?

Wenn sich Fragen oder Probleme ergeben, können sich die Teilnehmerinnen bei uns in der Geschäftsstelle melden. Wir versuchen dann, zu helfen. Wenn das nicht ausreicht, können die Mentees und Mentor:innen online eine Supervision machen – entweder allein oder im Tandem.  Wenn auch das nicht weiterhilft, wird die Mentoring-Beziehung notfalls aufgelöst, und wir versuchen, neue Tandems zu bilden. Denn das ist meist sinnvoller, als ein Tandem weiter bestehen zu lassen, in dem es dauerhaft knirscht.

Wie geht es in Zukunft mit Ihrem Projekt weiter?

Für das Mentoring sind zwei Durchgänge geplant. Eine Verlängerung dieser Laufzeit ist seitens des Ministeriums, das das Projekt finanziert, leider nicht vorgesehen. Der Hildegardis-Verein ist aber jetzt schon dabei, weitere Projekte zum Thema Inklusion zu entwerfen. Wir denken unter anderem an ein Mentoring für Menschen mit psychischen Behinderungen und an ein so genanntes Reverse-Mentoring, bei dem umgekehrt Menschen mit Behinderungen Menschen ohne Behinderungen beraten und begleiten. —