Virtuelles Lernen in der realen Welt: Wie Mixed Reality für mehr Teilhabe sorgen kann

Frau Joest, Sie beschäftigen sich im Projekt „EdAL MR 4.0“ mit Mixed-Reality-Technologien. Was ist das genau?

Diese Technologien verbinden die reale Umgebung eines Menschen mit virtuellen Elementen. Durch eine 3D-Brille wie beispielsweise die „Microsoft HoloLens 2“, die wir in unserem Projekt verwenden, ist der echte Raum zu sehen, in dem jemand sich befindet – darin werden aber digitale Inhalte eingeblendet. Solche dreidimensionalen Hologramme können theoretische Lerninhalte anschaulicher machen.

Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?

In der Friseurausbildung lernen Auszubildende, wie sie grundlegende Schnitte an den Haaren machen. Das setzt geometrisches Wissen voraus. Zuerst üben sie das auf dem Papier. Mit Mixed Reality können die Linien und Winkel, die sich die Azubis normalerweise ganz abseits des Haarschopfs einprägen müssen, direkt auf ein dreidimensionales Modell projiziert werden. Dadurch wird das Lernen für sie einfacher, direkter und anschaulicher. Ein Vorteil von Mixed Reality ist auch, dass die Azubis damit selbstbestimmt lernen können. Sie üben in ihrem eigenen Tempo und wiederholen Aufgaben so oft, wie sie es brauchen. Dass es nur eine virtuelle Übung ist, sie also nichts „verschneiden“ können, nimmt außerdem oft die Angst vor Fehlern und hilft dabei, die Lerninhalte besser zu verstehen und anzuwenden.

Wie kam die Idee auf, solche Technologien in der Ausbildung von Menschen mit Behinderungen zu nutzen?

Die Berufsbildungswerke haben in den letzten Jahren verschiedene digitale Angebote getestet, um die berufliche Teilhabe für die Teilnehmer:innen zu verbessern. Mixed Reality ist eine davon. Das Projekt „EdAL MR 4.0“ haben wir aufgesetzt, um Lernmodule für Menschen mit (Lern-)Behinderungen zu entwickeln, die mit klassischen Methoden oft Schwierigkeiten haben. Sie können sich berufliche Fähigkeiten damit leichter aneignen – und so steigen später ihre Chancen, am Arbeitsleben teilzuhaben. Die ersten Anwendungen gibt es für die Ausbildungsberufe Friseur:in – siehe oben genanntes Beispiel –, Koch/Köchin und Fachkraft Lagerlogistik. Die Technologien funktionieren immer nach dem gleichen Muster: Die Ausbilder:innen erstellen 3D-Inhalte für die Microsoft HoloLens 2, verknüpfen sie mit prüfungsrelevanten Aufgaben und setzen sie dann in alltäglichen Ausbildungssituationen ein. So entsteht eine neue, motivierende Lernumgebung, weil die Lerninhalte durch die virtuellen Elemente sehr spielerisch vermittelt werden. Die Ausbilder:innen können die Inhalte außerdem über ein Redaktionssystem verwalten, bearbeiten und erweitern. Darüber hinaus gibt es ergänzende Elemente in einer E-Learning-Umgebung, wie das Beispiel oben zeigt.

Gab es Herausforderungen bei der Entwicklung dieser Lerninhalte?

Ja, denn die Entwicklung solcher Inhalte erfordert viel Fachwissen in Informationstechnologie und eine gute technische Ausstattung. Es ist wichtig, dass die digitalen Lernumgebungen in den Ausbildungsräumen funktionieren. Außerdem müssen die Lehrkräfte die notwendige Medienkompetenz mitbringen, um die Technik einzusetzen. Regelmäßige Schulungen sind hier ein sehr wichtiger Baustein. Wir haben im Projekt auch darauf geachtet, dass die Inhalte genau zu den Bedürfnissen der Azubis passen. Sie wurden von Anfang an in die Entwicklung einbezogen, damit wir sicherstellen konnten, dass die Lernmodule auch wirklich hilfreich und motivierend sind.

Wie nehmen die Azubis und Ausbilder:innen diese neue Technologie an?

Die Azubis sind meistens neugierig und offen. Viele berichten, dass ihnen die Anwendung Spaß macht und sie damit leichter lernen können, außerdem können sich die meisten vorstellen, die HoloLens und die dazugehörige App häufiger zu benutzen. Insgesamt bestätigen die Rückmeldungen deutlich, dass die Lernanwendung ein motivierendes und angemessenes Medium ist, um Lerninhalte im Rahmen der genannten Ausbildungsberufe zu vermitteln. Für die Ausbilder:innen wiederum bedeutet es anfangs natürlich erst einmal mehr Aufwand, die Lerninhalte im Rahmen des Projekts neu zu entwickeln. Sobald die Anwendung aber einmal läuft, geben auch sie positive Rückmeldungen.

Was machen Sie mit den Ergebnissen und Erkenntnissen aus dem Projekt – und wer profitiert davon?

Die Erfahrungen mit Mixed Reality, die wir in „EdAL 4.0“ gesammelt haben, sollen dabei helfen, die Anwendungen auf andere Bereiche zu übertragen. Wir möchten also dafür sorgen, dass sie langfristig auch in anderen Berufsfeldern eingesetzt werden können. Davon profitieren alle 51 Berufsbildungswerke, aber auch Einrichtungen außerhalb davon haben schon Interesse bekundet. Das ist sehr gut, denn wir wollen die Möglichkeiten von Mixed Reality gern in die Breite tragen. Einige der Elemente, die schon dafür geeignet sind: Fachtexte in einfacher Sprache, die die Ausbildungsinhalte dennoch in der nötigen Fachlichkeit wiedergeben; die Sprachausgabe all dieser Texte; ein Roboter-Hologramm, das hilfreiche Erklärungen im Rahmen des Zusammenhangs liefert, in dem es angewendet wird – und eine intuitiv bedienbare Benutzeroberfläche der App, die wir im Projekt entwickelt haben.

Wie stellen Sie sicher, dass die Inhalte des Projekts auch nach dem Ende der Laufzeit verfügbar bleiben?

Wir haben im Rahmen des Projekts das schon beschriebene Redaktionssystem entwickelt, mit dem die Ausbilder:innen vorhandene Inhalte eigenständig bearbeiten und erweitern können. Schulungen sorgen dafür, dass sie die Technik sicher anwenden können. Die Inhalte sind für die Projektbeteiligten ohne technischen Support nutzbar. Das wird auch nach Ende der Förderphase so bleiben. Wenn andere Nutzer:innen und/oder Inhalte hinzukommen sollen, ist technischer Support allerdings nötig. Wir sind sehr daran interessiert, den entwickelten Prototyp in einer nächsten Stufe für andere Ausbildungseinrichtungen nutzbar zu machen. Das geht dann aber nur mit entsprechenden finanziellen Mitteln. —