Vom privaten Nähprojekt zum inklusiven Modelabel

Sandra und Christian Brunner, was ist das Besondere an Ihrem Label „einzigNaht“?

Sandra Brunner (SB): Wir verkaufen handgemachte, maßgeschneiderte Kleidung für Kinder mit körperlichen Behinderungen oder chronischen Erkrankungen. Manche dieser Babys und Kinder können Bodys oder Pullis von der Stange nämlich nicht tragen, weil sie besondere Körpermaße haben, ein stabilisierendes Hilfsmittel wie eine Orthese brauchen oder über eine Magensonde ernährt werden. Für viele Eltern ist es eine sehr große zusätzliche Herausforderung, passende Kleidungsstücke für ihre Kinder zu finden. Das möchten wir ändern.

Christian Brunner (CB): Wir nähen deshalb Kleidung, die ganz individuell an die Bedürfnisse des einzelnen Kindes angepasst und dabei so gestaltet wird, dass Schläuche oder andere Hilfsmittel nicht zu sehen sind. Wir möchten die Funktion eines Kleidungsstücks nämlich auch immer mit einem schönen Design verbinden, denn auch für Kinder stiftet die Kleidung Identität. Die klassische Reha-Kleidung sieht oft sehr funktional und medizinisch aus. Das strahlt nicht sonderlich viel Lebensfreude aus. Für unsere einzigNaht-Kleidung haben wir daher ganz bewusst fröhliche und kindgerechte Stoffe ausgesucht.

Wie kam Ihnen die Idee zu Ihrem Start-up?

SB: Das Projekt ist eigentlich aus der Not heraus entstanden. Wir brauchten selbst individuelle Kleidung für unsere heute vierjährige Tochter Laura. Sie hat das seltene Williams-Beuren-Syndrom und ist dadurch so zierlich, dass wir nichts Passendes für sie finden konnten. Alles schlackerte an ihr herum und Laura hat sich sehr unwohl gefühlt. Vor gut drei Jahren habe ich mir eine Nähmaschine gekauft und angefangen, selbst Bodys, Hosen und Pullis für sie zu nähen. Die Stücke sprangen auch anderen Eltern ins Auge, wir wurden oft darauf angesprochen. Eine Mutter hat mich dann darum gebeten, Klamotten für ihre Tochter anzupassen, die eine Magensonde hat. So hat alles angefangen.

CB: Auch über Facebook haben wir viel Lob und Anfragen von Familien bekommen, die ähnliche Probleme hatten wie wir. Dadurch haben wir erst gemerkt, wie groß der Bedarf an individueller Kleidung für Kinder offenbar ist. Ich habe verschiedene Statistiken recherchiert: Schätzungen zufolge gibt es allein in Deutschland etwa 250.000 Kinder, die wegen einer Behinderung oder chronischen Erkrankung Maßanfertigungen brauchen – genau wie unsere Tochter. Also haben wir im Sommer 2018 einzigNaht gegründet.

Ist das Ihr erstes Unternehmen?

CB: Ja, deshalb hatten wir in einigen Punkten kaum Erfahrung mit der Gründung eines Startups. Wir haben uns Schritt für Schritt in viele Details eingearbeitet, gerade am Anfang war die Lernkurve sehr steil (lacht). Wir haben aber von Erfahrungen aus unseren früheren Manager-Jobs profitiert: Ich komme aus dem Marketing und Sandra hat in der Textilbranche gearbeitet.

SB: Sechs Monate nach der Gründung wurden unsere Mühen belohnt: Wir haben 2019 den Hamburger „Gründergeist“-Award gewonnen. Das hat unser Start-up sehr vorangebracht. Neben dem Preisgeld von 5.000 Euro haben wir vor allem von der Beratung profitiert, die wir bekommen haben. Mit unseren Coaches haben wir zum Beispiel besprochen, welche Rechtsform zu uns passt und wie wir das Unternehmen finanzieren können. Die Beraterinnen und Berater haben uns aber natürlich immer nur Empfehlungen gegeben. Danach mussten wir selbst mutig sein, Entscheidungen fällen und handeln. Das ist der Hauptunterschied zum Angestelltendasein.

Wie haben Sie den Start des Labels finanziert?

CB: Wir haben einen privaten Kredit im mittleren fünfstelligen Bereich aufgenommen sowie eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, bei der 12.000 Euro zusammengekommen sind. Durch das Crowdfunding haben wir die ersten vier Kollektionen finanziert. Wir haben einige Grundmodelle entworfen, die später individuell für jedes Kind angepasst werden. Das Modegeschäft ist ja sehr schnelllebig und es gibt oft neue Designs, deshalb haben wir die Stoffe, die wir derzeit verarbeiten, gleich in größeren Mengen angeschafft.

SB: Das war eine große Investition, weil wir mit fair produzierten Bio-Stoffen arbeiten, die natürlich etwas teurer sind. Parallel haben wir einen größeren Betrag ins Marketing gesteckt und uns bei der grafischen Umsetzung – zum Beispiel unseres Logos und der Website – Unterstützung geholt. Außerdem haben wir 5.000 Euro in eine Software investiert, mit der ich Schnittmuster erstellen kann. Vorher habe ich sie mit Bleistift auf Papier entworfen. Am Computer geht das viel schneller.

Für so ein Schnittmuster brauchen Sie ja die genauen Maße des Kindes. Wie nehmen Sie die? Müssen die Familien einen Termin bei Ihnen vereinbaren?

SB: Nein, die Familien können selbst ganz in Ruhe zuhause messen. Das ist für alle angenehmer, denn pflegende Eltern haben wenig Zeit und Kinder lassen sich nicht gerne von fremden Personen vermessen. Als Vorlage und Anleitung zum Maßnehmen dient unser Vermessungsmännchen „Friis“, das auf unserer Website abgebildet ist. Die Maße können die Eltern anschließend in ein Formular eintragen und mir schicken. Dazu schreiben sie mir zumeist noch weitere Infos, zum Beispiel wie alt ihr Kind ist und welche besonderen funktionalen Anforderungen die Kleidung erfüllen soll.
Wenn ich diese Infos habe, telefonieren wir zu den Details. Wie bewegt sich das Kind, kann es schon krabbeln? Mag es lieber lockere Abschlüsse oder sind Bündchen besser? An welchen Stellen sollte sich das Kleidungsstück schnell öffnen und schließen lassen, damit die Pflege einfacher wird? Wir klären also viele praktische Fragen. Die Gespräche sind dabei oft sehr emotional, es fließen auch nicht selten Tränen, weil die Eltern sich das erste Mal verstanden fühlen. Wer selbst kein Kind mit Behinderung hat, kann sich einfach nicht vorstellen, welche Herausforderungen das im Alltag mit sich bringt.

In jedem Kleidungsstück stecken also nicht nur viele Emotionen, sondern auch eine Menge Vorbereitung und Arbeit. Wie wirkt sich das auf die Preise aus? Können sich alle Familien Ihre Produkte leisten?

SB: Individuell gefertigte Einzelstücke sind natürlich teurer als Kleidung von der Stange. Es ist aber schwierig, diese Preise pauschal zu benennen, weil jedes Kind und jeder Auftrag anders sind. Im Schnitt kostet ein Set aus Hose, Body und Pullover etwa 180 Euro. Die Mehrkosten im Vergleich zu Standardkleidung relativieren sich aber schnell, weil unsere Stoffe sehr hochwertig und zugleich nachhaltig sind. Ich verarbeite ein pflegeleichtes Gemisch aus Wolle und Seide, das einfach ausgelüftet werden kann und an dem Flüssigkeiten fast vollständig abperlen. Die Stücke halten also lange, weil die Qualität sehr gut ist, und die Eltern müssen sie viel seltener waschen. Deshalb braucht ein Kind im Vergleich zu gewöhnlicher Kleidung nur etwa ein Drittel so viele Kleidungsstücke.

CB: Wir wissen, dass diese Kosten für viele Familien trotzdem kaum zu stemmen sind. Deshalb haben wir gerade den Verein „einzigArtige Inklusion“ gegründet, um ihnen durch Spenden dennoch individuelle Kleidung für ihre Kinder zu ermöglichen. Dieser Verein hat eine sehr schöne Entstehungsgeschichte: Wir wurden schon oft von Menschen angesprochen, die unser Projekt toll finden und als „Näh-Paten“ die Kosten für einzelne Kleidungsstücke übernommen haben. Über „einzigArtige Inklusion“ wird das sowohl für die Spenderinnen und Spender als auch für uns noch einfacher.
Diese Form der Unterstützung ist für uns allerdings nur ein erster Schritt. Als nächstes werden wir mit Gesetzlichen Krankenkassen sprechen, um mit unserer Kleidung in ihre Hilfsmittelkataloge aufgenommen zu werden. Wenn wir damit Erfolg haben, können Kinder mit Behinderung ihre Kleidung auf Rezept erhalten.

Welche Pläne haben Sie für die Zukunft von einzigNaht?

SB: Wir möchten noch in diesem Jahr einen Online-Shop aufbauen, in dem Eltern, Großeltern und Verwandte die benötigten Maße eingeben und Kleidungsstücke direkt bestellen können. Individuelle, persönliche Bestellungen nehmen wir natürlich auch weiterhin an. Außerdem möchten wir Musterstücke in Physiotherapie-Praxen oder Krankenhäusern auslegen, damit die Kundinnen und Kunden sich unsere Kleidung aus der Nähe anschauen und anfassen können. In einigen Krankenhäusern liegen bereits unsere Flyer, das wollen wir ausweiten.

CB: Langfristig möchten wir in Hamburg ein inklusives Näh-Atelier aufbauen, in dem wir Menschen mit Behinderung anstellen. Wir sind bereits mit mehreren Interessenten im Gespräch. Je nach ihren individuellen Fähigkeiten und Wünschen können sie demnächst Kleidungsstücke nähen, im Marketing oder Social-Media-Management mitarbeiten oder mit speziellen Grafikprogrammen Schnittmuster entwerfen. Ihre Berufserfahrungen oder Vorbildung sind dabei nicht so wichtig – für uns zählt, dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hinter unserem Konzept stehen.


Über unsere Interviewpartner:innen