Neue Geschichten erzählen: Das journalistische Projekt „andererseits“

Frau Kreutzer, warum heißt Ihr Projekt „andererseits“?

Die Redaktionen großer Medien, die öffentliche Debatten prägen und abbilden, arbeiten meistens noch nicht inklusiv. Im Journalismus fehlen deshalb viele Perspektiven, zum Beispiel die von Menschen mit Behinderung. Meine Kolleginnen Katharina Brunner, Katharina Kropshofer und Clara Porak haben im Frühjahr 2020 „andererseits“ gegründet, um diesen Perspektiven Raum zu geben. Wir möchten Sichtweisen abbilden und Geschichten erzählen, die bisher kaum oder gar nicht vorkommen – die andere Seite eben.

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass so viele Redaktionen noch nicht inklusiv arbeiten?

Ja, wir sehen zwei große Hürden für inklusive Arbeit. Eine davon ist der hohe Zeitdruck, der in vielen Redaktionen herrscht. Oft müssen Texte wenige Tage nach einem Interview fertig sein, und gleichzeitig sind noch andere Aufgaben zu erledigen. Das kann für manche Menschen mit Behinderung schwierig sein. Und die zweite Hürde sind die recht strengen Vorgaben für journalistische Texte, mit denen nicht alle zurechtkommen.

Und wie könnte sich das ändern?

Wir wünschen uns, dass Redaktionen und natürlich auch die Leser:innen offener werden für Texte, die anders sind als das bisher Gewohnte. So etwas ist spannend zu lesen und macht auch einfach Spaß. Und gerade diese Vielfalt ist aus unserer Sicht etwas, das Journalismus ausmacht, auszeichnet und stark macht.

Wie arbeiten Sie bei „andererseits“?

Wir nehmen uns Zeit für unsere Texte, Grafiken und Bilder. Normalerweise arbeiten an allen Aufgaben jeweils inklusive Teams, die aus zwei Journalistinnen oder Grafikdesignern mit und ohne Behinderung bestehen. Je nachdem, um welches Thema es geht und wie viel Erfahrung die Beteiligten haben, tauschen wir uns während der Recherchen und der Arbeit an den Texten viel miteinander aus.

Sie haben bestimmte sprachliche Vorgaben erwähnt, die es bei traditionellen Medien gibt. Klingen Ihre Texte anders als die in großen Zeitungen oder Magazinen?

Ja, bei uns sind ungewöhnliche und überraschende Formulierungen nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Wir weisen in unserem Newsletter mit einer eigenen Rubrik sogar besonders darauf hin. Dort stellen wir Worte oder Formulierungen vor, die Autor:innen aus unserem Team erfunden haben. „Ich kriege einen Zuckaus“, sagt unserem Redakteurin Hanna beispielsweise, wenn sie aus der Haut fährt.

Um welche Themen geht es in Ihren Artikeln und Podcasts?

Zuletzt haben wir zu zwei sehr unterschiedlichen Schwerpunkten gearbeitet: Mut und Handysucht. Zu solchen Themen entstehen jeweils mehrere Beiträge, die informativ, aber auch sehr persönlich sein können. Tatsächlich stehen oft Gefühle im Mittelpunkt, auch das ist etwas Besonderes bei uns. Der Grund ist, dass Emotionen sich oft auf politische Umstände zurückführen lassen und damit im Grunde selbst auch politisch sind. Je nachdem, in welcher Rolle eine Person ist und wie viel gesellschaftlichen Einfluss sie hat, wird diese politische Dimension aber nicht unbedingt wahrgenommen. Das möchten wir ändern.

Welche Leser:innen oder Hörer:innen erreichen Sie mit Ihren Beiträgen?

Bisher bekommen wir vor allem Nachrichten und Rückmeldungen von Menschen, die selbst Berührungspunkte mit dem Thema Behinderung haben. Und von Journalist:innen, die sich dafür interessieren, was sich in der Branche gerade so tut. Wir hoffen, dass sich unser Projekt mit der Zeit weiter herumspricht und auch Menschen ohne Behinderung oder ohne Bezug dazu unsere inklusiven Texte lesen möchten. Um eine größere Zielgruppe zu erreichen, kooperieren wir übrigens auch mit anderen Medien, etwa der Monatszeitschrift Datum, dem SZ-Magazin, dem Magazin period. oder Ö1.

Wie finanzieren Sie das Projekt?

Bisher arbeiten wir ehrenamtlich. Wir haben alle einen Hauptberuf, mit dem wir unseren Lebensunterhalt verdienen, oder wir studieren noch. Für die Anfangszeit ist dieses Modell in Ordnung, denn die Arbeit für „andererseits“ macht Spaß und ich sehe darin sehr viel Sinn. Unser Ziel ist es natürlich, dass auf lange Sicht alle ein faires Gehalt oder Honorar für ihre Arbeit bekommen.

Werden die Inhalte von „andererseits“ demnächst kostenpflichtig?

Nein, unsere Beiträge sollen gratis bleiben. Wir planen stattdessen ein Abo-Modell, bei dem unsere zahlenden Abonnent:innen mit ihrem Beitrag unseren redaktionellen Betrieb finanzieren und dafür beispielsweise exklusiv an Veranstaltungen teilnehmen können, die wir organisieren werden. Wir werden außerdem Workshops für Unternehmer:innen und Teams anbieten, die lernen möchten, inklusiv zu arbeiten und zu denken. Daran besteht großes Interesse, nicht nur im Journalismus. All das müssen wir aber noch konkreter ausarbeiten. Wir haben gerade ein Finanzierungsteam aufgestellt, das in den nächsten Monaten ein Modell entwickeln wird, mit dem wir hoffentlich erfolgreich sein werden.

Was war bisher Ihr größter Erfolg?

Wir haben gezeigt, dass inklusiver Journalismus von der Grundidee her funktioniert. Es ist möglich, so zu arbeiten, es macht Spaß und es kommen gute Texte dabei heraus. —