Von Projekte und Unternehmen

Lehren und Lernen auf Augenhöhe

Das Institut für Inklusive Bildung in Kiel entwickelt Inklusions-Seminare für Bildungseinrichtungen, zum Beispiel für Unis, und bildet dafür Menschen mit Behinderung zu Lehrenden aus. Ein Interview mit der Mitarbeiterin Sara Groß, die uns das spannende und erfolgreiche Konzept des Instituts genauer erklärt.

Eine Professorin tauscht sich am Podium in einem vollen Vorlesungssaal mit einer Bildungsfachkraft im Rollstuhl aus.

Frau Groß, „Institut für Inklusive Bildung“ klingt für Laien etwas trocken. Wie würden Sie einem Außenstehenden Ihre Arbeit erklären?

Wir setzen uns dafür ein, dass Inklusion in der Bildung, im Arbeitsleben und auch in anderen Lebensbereichen in der Praxis besser funktioniert. Ein Beispiel aus dem Schulkontext: Kinder mit einer Behinderung sollen im inklusiven Unterricht genauso gut lernen wie alle anderen Schülerinnen und Schüler in der Klasse. Das wird zwar heute schon umgesetzt, die Lehrkräfte sind aber fast immer Menschen, die selbst keine Behinderung haben und sich zugleich mit dem Thema in der Ausbildung kaum auseinandersetzen mussten. Das finden wir schwierig, denn gerade die Lehrkräfte spielen ja bei der Inklusion eine wichtige Rolle. Sie müssen also eine bessere Idee davon bekommen, was in Menschen mit Behinderung vorgeht, wie sie die Welt sehen, welche Bedürfnisse sie im Unterricht haben. Und genau hier kommt das Institut für Inklusive Bildung ins Spiel.

Wie erreichen Sie die künftigen Lehrerinnen, Lehrer und anderen Bildungsfachkräfte?

Wir entwickeln Seminare für Hochschulen, Fachschulen und andere Bildungseinrichtungen, in denen wir angehende Lehrerinnen und Lehrer, Bildungsfachkräfte sowie Fachschülerinnen und -schüler in der Ausbildung genau dafür sensibel machen.
Wir sprechen aber zum Beispiel auch Führungskräfte und Personalverantwortliche in Betrieben an. Das Besondere an unserem Konzept ist, dass wir uns zwar gezielt an Menschen ohne Behinderung richten, unsere Lehrkräfte aber immer Menschen sind, die selbst eine Behinderung haben. Sie wissen nämlich am besten, wie ihre Lebenswelt aussieht und was sie brauchen, sind also „Experten in eigener Sache“. Sie müssen aus unserer Sicht deshalb gerade in der Bildung unbedingt mitreden.
Um sie für diese Tätigkeit fit zu machen, bilden wir sie wie gesagt speziell für die inklusive Bildungsarbeit mit Menschen „aus, die ohne leben. Das Ziel ist, die Barrieren in den Köpfen abzubauen. Wir wollen erreichen, dass sich eines Tages alle Menschen auf Augenhöhe begegnen und mehr miteinander anstatt übereinander sprechen. Genau so lautet auch unser Motto: „Nicht über uns ohne uns!“

Wie sind diese Idee und das Institut entstanden?

Das Ganze hat mit einem Innovations-Workshop angefangen, der im Jahr 2008 von der Stiftung Drachensee durchgeführt wurde. Daraus entstand die gute Idee, Menschen aus Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) in die Ausbildung angehender Lehr- und Fachkräfte einzubinden. Im Studiengang „Soziale Arbeit“ an der Fachhochschule Kiel gab es kurz danach ein erstes Seminar namens „Meine Welt“, das von 13 Menschen mit Behinderung und drei Sozialpädagoginnen ins Leben gerufen wurde.

Haben die Studierenden das Angebot gut angenommen?

Ja, sehr gut sogar! Das Seminar lief drei Jahre lang, bis 2012. Leider konnte es dann so nicht mehr weitergehen. Der Aufwand und die Barrieren für diejenigen, die das Seminar veranstalteten, waren hoch. Alle Beteiligten machten das ja neben dem normalen Arbeitsalltag. Dazu kam, dass die Menschen mit Behinderungen, die am Seminar beteiligt waren, eigentlich gar nicht an der Hochschule sein durften – schon gar nicht als Lehrende. Außerdem merkten viele, wie anspruchsvoll und anstrengend Bildungsarbeit sein kann. Das schöne Konzept drohte zu scheitern.

Blick in einen vollen Hörsaal
Ein Team vom Institut für Inklusive Bildung erklärt Studierenden im Audimax-Hörsaal der Europa-Universität in Flensburg, was diese später zum Thema Inklusion in ihren Berufen wissen müssen. Foto: Institut für Inklusive Bildung

Wie ging es weiter?

Die Stiftung Drachensee entschied kurzerhand, das Angebot professioneller aufzustellen. Sie begann, Menschen mit geistigen Behinderungen zu Bildungsfachkräften auszubilden – und das wurde mit dem Institut für Inklusive Bildung dann nochmal auf ganz neue Beine gestellt.

Und wie genau bilden Sie Menschen mit Behinderung zu Bildungsfachkräften aus?

Wir arbeiten immer mit Menschen, die aktuell noch in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) tätig sind. Die Qualifizierung bei uns dauert drei Jahre und findet in Vollzeit statt, das Konzept ähnelt also einer klassischen Ausbildung etwa an einem Berufskolleg. Wer die Ausbildung erfolgreich absolviert, hat nach der Prüfung eine gute Chance auf einen festen Arbeitsplatz in der Bildungsarbeit bei uns. Das war uns von Anfang an sehr wichtig. Damit die Qualifizierung nach festen Standards verläuft, haben wir ein eigenes Modulhandbuch entwickelt, das bestimmte Ziele, Inhalte und Prüfungsanforderungen festlegt.

Wie organisieren Sie die Sensibilisierungs-Seminare?

Meistens führen zwei Bildungsfachkräfte gemeinsam ein Seminar durch und werden dabei von einer pädagogischen Assistenz unterstützt. Manchmal arbeitet aber auch nur eine einzelne Bildungsfachkraft mit einer hauptamtlichen Lehrkraft zusammen, also zum Beispiel mit einer Professorin an der Uni oder einem Lehrer an der Schule. Das nennen wir Co-Teaching. So können wir ganz gewöhnliche Seminare über ein komplettes Semester hinweg anbieten.
Wir bieten ansonsten aber auch einzelne Vorlesungen oder Workshops an, sind als Gastdozentinnen oder -dozenten bei Konferenzen dabei oder machen Bildungsarbeit bei anderen großen Veranstaltungen. Unser Bildungs-Teams kommen also immer dann ins Spiel, wenn über kurz oder lang neue Strukturen, Abläufe und Denkweisen geschaffen werden sollen, die gut zu den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung passen, damit sie gleichberechtigt an verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft teilhaben können.

Wenn es nicht nur in Schulen, sondern auch auf dem Arbeitsmarkt inklusiv zugehen würde, könnten Menschen mit Behinderung eigenständig und selbstbestimmt ihren Lebensunterhalt verdienen anstatt in einer Werkstatt nur ein „Taschengeld“ zu bekommen. Wie trägt Ihre Arbeit dazu bei, diese Entwicklung voranzutreiben?

Genau das ist der Kern unseres Angebots. Auf der einen Seite schaffen wir ein breites Bewusstsein bei unseren Zielgruppen, auf der anderen Seite bieten wir mit unserem Qualifizierungsangebot Menschen in Werkstätten eine echte Perspektive auf einen unbefristeten, dauerhaften und nach Tarif bezahlten Job bei uns im Institut. Im November 2016 fingen bei uns die ersten fünf Bildungsfachkräfte auf festen Stellen zu arbeiten an, heute gestalten sie aktiv die Bildungslandschaft von Schleswig-Holstein im Sinne der Inklusion mit.
Unser Institut hat außerdem Kontakt zu über 60 Hochschulen aus dem In- und Ausland aufgebaut, die entweder gern Erfahrungen mit uns austauschen wollen oder die Leistungen unserer Bildungsfachkräfte in Anspruch nehmen möchten. Wir streuen also unser Wissen. Im Wintersemester 2017/2018 starteten zum Beispiel sieben neue Menschen mit Behinderung in Baden-Württemberg an der Uni Heidelberg ihre Ausbildung zur Bildungsfachkraft – und es sind noch mehr an anderen Orten geplant.

Welche Projekte planen Sie sonst noch?

In den nächsten fünf Jahren wollen wir 60 neue Qualifizierungsplätze für Menschen mit Behinderungen an zehn deutschen Hochschulstandorten schaffen. So wollen wir mit unserer inklusiven Bildungsarbeit jedes Jahr 20.000 angehende Lehrkräfte und andere Zielgruppen direkt erreichen. Bei diesem Vorhaben werden wir von der Aktion Mensch Stiftung und der Software AG Stiftung mit Fördergeldern unterstützt.
Darüber hinaus haben wir in Nordrhein-Westfalen kürzlich eine gemeinnützige GmbH gegründet („Institut für Inklusive Bildung NRW gGmbH“). Über diese „Zweigstelle“ starten wir ab April 2019 eine Kooperation mit der Technischen Hochschule Köln, an der wir zunächst sechs weitere Menschen mit Behinderungen zu Bildungsfachkräften ausbilden wollen – vorausgesetzt, die Mittel dafür werden bewilligt.

Wenn Sie noch weiter in die Zukunft schauen könnten: Wo würden Sie gern in zehn Jahren stehen?

Ich wünsche mir, dass das Konzept des Instituts in zehn Jahren weltweit (Hoch-)Schule gemacht hat!


Über unsere Interviewpartnerin

Porträtfoto von Sara Groß
Foto: Institut für Inklusive Bildung

Name: Sara Groß
Geburtsjahr: 1988
Wohn-/Arbeitsort: Kiel
Beruf: Pädagogin
(Persönlicher Bezug zum Thema) Behinderung: Sara Groß ist für „Qualifizierungstransfer und Kompetenzforschung“ am Institut für Inklusive Bildung verantwortlich. Sie entwickelte im Rahmen ihrer Masterarbeit das Modulhandbuch, das die Grundlage für die Qualifizierung der Bildungsfachkräfte ist, entwickelt neue Materialien für die Ausbildung und berät die Standorte bei der Umsetzung des Angebots.


Das Institut für Inklusive Bildung

Das Institut für Inklusive Bildung sitzt in Kiel. Es ist der Christian-Albrechts-Universität angegliedert, arbeitet aber mit insgesamt 16 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als eigenständige wissenschaftliche Einrichtung. Das Institut wird vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur und vom Inklusionsamt des Landes Schleswig-Holstein finanziert.
Das Konzept des Instituts ist weltweit einmalig, weil es sich mit seinem inklusiven Bildungsangebot gezielt an Menschen ohne Behinderungen richtet. Dahinter steht die Erkenntnis, dass Inklusion oft nicht an Menschen mit Handicap scheitert, sondern an den Vorurteilen und Schranken in den Köpfen aller anderen. Die Bildungsfachkräfte sensibilisieren ihre Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer dafür, indem sie ihnen Einblicke in ihre Lebenswelt ermöglichen. Außerdem geben sie viele Tipps und Ideen mit auf den Weg, wie zum Beispiel Schulunterricht inklusiver gestaltet werden kann.
Im Jahr 2017 fanden in Schleswig-Holstein rund 70 Veranstaltungen im Auftrag des Instituts statt, die von Bildungsfachkräften mit Behinderung angeboten und durchgeführt wurden. So konnte das Institut insgesamt rund 2.890 Personen direkt erreichen. Inzwischen werden zudem nicht mehr nur in Kiel neue Fachkräfte qualifiziert, sondern auch in Baden-Württemberg und ab 2019 auch in Köln – weitere Standorte sind geplant.

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