„Ein persönliches Beratungsgespräch ist für viele ein Hindernis“: Interview mit Veronika Chakraverty zum Online-Angebot „Sag ich’s?“, Teil 1

Frau Chakraverty, wie entstand die Idee für das Projekt?

Wir alle im Team haben das Thema schon sehr lange auf dem Schirm, aus wissenschaftlicher genauso wie aus persönlicher Sicht. Einige von uns standen zum Beispiel selbst schon vor der Frage, wie offen man mit einer Erkrankung am Arbeitsplatz umgehen möchte. Das Thema begegnete uns auch in Projekten und in der Lehre immer wieder. Von einem späteren Kooperationspartner des Projekts kam schließlich Impuls, eine Online-Entscheidungshilfe zu entwickeln und am besten kostenfrei anzubieten. Bis die Webseite sag-ichs.de daraus entstanden war, sind noch einmal rund sechs Jahre vergangen.

Für wen haben Sie Ihr Angebot entwickelt?

Wir richten uns vor allem an Berufstätige mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen, die noch nicht wissen, ob und wie sie darüber mit Kolleg:innen oder Vorgesetzen sprechen möchten. Viele Erkrankungen oder Behinderungen sind ja auf den ersten Blick nicht zu sehen. Wenn am Arbeitsplatz niemand davon weiß außer einem selbst, kann das zu schwierigen Situationen führen. Beispielsweise, wenn Arbeitsaufgaben nicht oder nicht mehr so gut erledigt werden können, man häufiger fehlt oder während der Arbeitszeit oft Termine mit Ärzt:innen oder Therapeut:innen hat. Davon abgesehen fühlt es sich für viele aber auch einfach nicht gut an, diesen Teil des eigenen Lebens zu verbergen. Das kostet oft viel Kraft. Und wenn der Leidensdruck größer wird, überlegen viele irgendwann, ob sie es nicht doch offen ansprechen sollten. Aber das ist einfacher gesagt als getan.

Was macht die Entscheidung so schwierig?

Niemand kann in die Zukunft schauen, deshalb ist es gar nicht so einfach, herauszufinden, mit welcher Entscheidung jemand langfristig zufriedener sein wird. Viele verspüren zwar den Wunsch oder auch den Druck, über die Beeinträchtigung offen zu sprechen – aber zugleich ist da auch immer die Befürchtung, diskriminiert zu werden oder plötzlich Nachteile in der beruflichen Entwicklung zu erfahren. Und was am Ende eintreten wird, weiß ja niemand.

Es gibt bereits Anlaufstellen und Angebote für Menschen, die sich Unterstützung holen möchten. Zum Beispiel helfen betriebsärztliche Dienste, Schwerbehindertenvertretungen, Inklusionsämter oder Inklusionsfachdienste weiter. Wie unterscheidet sich der Selbsttest von diesen Angeboten?

Die Anlaufstellen, die Sie genannt haben, haben meist viel Erfahrung mit der Beratung und Unterstützung von Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen, das sind also gute und wichtige Angebote. Sie alle setzen aber in der Regel ein persönliches Gespräch voraus – für viele ist das schon ein erstes Hindernis. Wer lieber (noch) keine persönliche Beratung möchte, kann sich auf unserer Website erst einmal in Ruhe informieren, sich über den Selbsttest allein mit dem Thema auseinandersetzen und sich einer Entscheidung langsam annähern. Ein Online-Angebot kann natürlich nie das direkte Gespräch ersetzen, deshalb beschreiben wir auf sag-ichs.de auch sehr ausführlich, welche Anlaufstellen zu welchen Themen beraten und welche davon beispielsweise an eine Schweigepflicht gebunden sind. Unsere Hoffnung ist, dass so die Hemmschwelle sinkt und die Eine oder der Andere vielleicht doch den Schritt geht, eine persönliche Beratung in Anspruch zu nehmen.

Woher wissen Sie, ob Ihr Test tatsächlich die „echten“ Fragen, Bedürfnisse und Herausforderungen von Menschen mit Behinderung und chronischen Erkrankungen abbildet?

Weil wir unser Projekt von Anfang so aufgebaut haben, dass wir das sicherstellen konnten. In den entscheidenden Projektphasen saßen zum Beispiel immer Expert:innen in eigener Sache mit am Tisch, also Berufstätige mit verschiedenen chronischen Erkrankungen und Behinderungen. Mit diesem Gremium haben wir immer wieder kritische Fragen rund um die Entwicklung der Website und des Selbsttests besprochen. Es ging beispielsweise um eine passende Bezeichnung für das Thema insgesamt, um den Tonfall, die Art der Sprache in den Texten, ob alle wichtigen Themen im Selbsttest abgefragt wurden und ob die Nutzer:innenführung verständlich ist. Außerdem leben ja auch manche unserer Teammitglieder selbst mit einer chronischen Erkrankung oder Schwerbehinderung.

Welche fachlichen Impulse gab es von außen und wie sind sie in das Projekt eingeflossen?

In den verschiedenen Phasen waren Psychologinnen, eine Kommunikationsdesignerin, eine Rehabilitationswissenschaftlerin und eine Soziologin mit dabei, außerdem hat ein Jurist geholfen, ein User Experience Designer (auf Deutsch: Nutzererlebnis-Gestalter), ein IT-Experte und eine Motion-Designerin (auf Deutsch: Bewegtbild-Gestalterin) dabei. Auch unsere Projektpartner:innen und ein Beirat haben uns beraten und unterstützt, also immer wieder den „Blick von außen“ auf das Projekt geworfen – beispielsweise Krankenkassen, andere Wissenschaftler:innen oder Expert:innen für Datensicherheit.

Der Selbsttest, den Sie anbieten, ist kostenlos. Wie finanzieren Sie das?

Die Kosten für die Entwicklung der Webseite haben wir zur Hälfte aus Mitteln des Ausgleichsfonds des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) gedeckt. Die andere Hälfte hat unser Kooperationspartner AbbVie finanziert. Aus diesem Budget können wir das Angebot technisch noch für drei Jahre weiterbetreuen – also noch bis März 2024. Inhaltliche Anpassungen finanzieren wir im Moment aus den Mitteln des Lehrstuhls. Übrigens hatten weder das BMAS noch Abbvie Einfluss auf die Inhalte der Webseite, die Finanzierung läuft also klar getrennt von unserer inhaltlichen Arbeit im Projektteam. –

Im zweiten Teil des Interviews erklärt Veronika Chakraverty, wie der Selbsttest genau funktioniert, was er leisten kann und was nicht.


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