Computerschrift zeigt Gefühle
Herr Schlippe, Sie haben 2015 Ihr Startup Silicon Surfer gegründet und es zuerst in Teilzeit betrieben, ab Anfang 2018 dann in Vollzeit. Kurz danach haben Sie „WaveFont“ entwickelt. Was ist das für eine Software und was hat sie mit Inklusion zu tun?
WaveFont ist eine Technologie, mit der es zum ersten Mal möglich ist, Informationen in Filmen einzubinden, von denen Menschen mit einer Hörbehinderung bisher oft ausgeschlossen waren. Diese Infos können nämlich nur hörende Menschen entschlüsseln – zum Beispiel die Betonung und die Geschwindigkeit, mit der Menschen in einem Film sprechen oder die Pausen, die sie einlegen. Mit meiner Software werden solche Emotionen in der Sprecherstimme automatisch analysiert und können dann in den Untertiteln eines Videos dargestellt werden.
Wie genau funktioniert die Software?
Der Ausgangspunkt ist die gesprochene Sprache. Sie ist entweder in der Audiospur eines Videos vorhanden oder sie wird über ein Mikrofon aufgenommen. WaveFont analysiert die Aussprache der Sätze, Wörter und einzelnen Buchstaben. Aktuell werden die Geschwindigkeit und Lautstärke des Gesprochenen ausgewertet und anschließend in Zahlen umgewandelt. Dafür setzen wir Künstliche Intelligenz und Machine-Learning-Technologien ein.
Im nächsten Schritt werden diese Zahlenwerte in Schrift umgewandelt. Ein laut gesprochenes Wort wird zum Beispiel in fetter Schrift dargestellt, die beim Lesen automatisch mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ein sehr langsam gesprochenes Wort erzeugt dagegen breite Buchstaben. Daraus entstehen breitere Wörter, für die man automatisch mehr Zeit zum Lesen braucht – und damit verlangsamt sich der Lesefluss. Das sind nur zwei Beispiele. WaveFont kann auch noch weitere, individuelle Merkmale in Untertiteln umsetzen, die ganz auf die Bedürfnisse der jeweiligen Zielgruppe zugeschnitten werden können.
Das sind ja vor allem gehörlose Menschen. Woher wussten Sie, dass eine solche Technologie gebraucht wird?
Weil ich bei deutschen Gehörlosenvereinen und -verbänden genau dazu Umfragen durchgeführt habe. Die Antworten zeigten, dass es einen deutlichen Bedarf für emotionalere Untertitel gibt. 98% der Befragten finden, dass so eine Technologie einen Mehrwert für sie hätte und würden WaveFont-Untertitel auch gern nutzen. Übrigens profitieren auch hörende Menschen von dieser emotionalen Darstellung von Schrift, zum Beispiel, wenn sie auf ihren Smartphones Videos ohne Ton schauen möchten. Oder Menschen, die gerade eine fremde Sprache lernen: Sie werden durch die visuellen Informationen in den Untertiteln zusätzlich beim Lernen unterstützt.
WaveFont in Aktion
Fußball ist ein sehr emotionaler Sport – für die Spieler auf dem Platz, für die Zuschauer, aber auch für die Sportjournalisten, die das Spiel aus dem Off beobachten und kommentieren. Der folgende Ausschnitt aus einem Spiel der Fußball-WM zeigt, wie mit WaveFont die Betonungen in der Stimme des Kommentators über die Untertitel transportiert werden (Video unten).
An die Hörenden unter euch: Schaltet doch mal den Ton aus und lest nur mit, während das Video läuft. Ihr werdet merken, dass es etwas Übung braucht, um die Betonungen richtig zu lesen – aber auch, dass die WaveFont-Untertitel wirklich mehr als nur inhaltliche Informationen transportieren können.
Wenn ihr noch mehr Video-Beispiele sehen wollt, schaut doch einfach auf der WaveFont-Facebookseite vorbei oder besucht den Instagram-Account von Silicon Surfer.
Warum reicht die bisherige Darstellung von Untertiteln für gehörlose Menschen nicht aus?
Weil menschliche Sprache ja nicht nur aus neutralen Informationen besteht. Der Tonfall und viele andere kleine Merkmale lassen Rückschlüsse auf den Charakter oder die Stimmung eines Menschen zu. Ist der Sprecher vielleicht gerade traurig und spricht deshalb sehr leise und langsam? Oder macht er gerade einen Witz und spricht dadurch eher laut und schnell? Vor allem dann, wenn jemand in einem Video aus dem „Off“ spricht, seine Mimik also nicht zu sehen ist, können Menschen mit einer Hörbehinderung solche Botschaften gar nicht entschlüsseln. Sie sind von diesen wichtigen Zusatzinformationen also komplett ausgeschlossen, und da helfen „normale“ Untertitel eben auch nicht weiter. Mit WaveFont will ich das ändern – und so langfristig zu mehr Barrierefreiheit und Inklusion im öffentlichen Raum beitragen.
Und wie finanzieren Sie Ihr Projekt?
Am Anfang durch eine erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne bei Startnext. Damit hatte ich die finanziellen Mittel, um die Technologie von Grund auf zu entwickeln und weiterzudenken. Die Kampagne ist Ende August 2018 ausgelaufen, seither habe ich mein Angebot sogar noch erweitern können.
Ihre Technologie ist also schon im Einsatz?
Ja! Jeder, der gerade einen Film produziert, kann uns einfach ansprechen und uns um ein Angebot bitten (Kontaktdaten siehe unten). Unsere Kunden senden uns dafür zuerst ihr Video zu. Wir machen dann anhand der Länge und Komplexität des Filmmaterials ein Angebot. Wenn der Kunde damit einverstanden ist, beginnen wir mit der Arbeit. Zum Schluss liefern wir den Film mit den schon eingebundenen WaveFont-Untertiteln zurück. Interessant ist so etwas zum Beispiel für Unternehmen, die inklusive Imagefilme produzieren wollen, aber auch für Fernsehsender, Filmproduzenten, Video-On-Demand-Anbieter, Mediathek-Betreiber oder Werbeagenturen. Im Prinzip können uns aber auch Privatpersonen ihre Filme zuschicken.
Gibt es WaveFont auch in anderen Sprachen?
Ja, neben Deutsch setze ich Video-Untertitel in englischer und in spanischer Sprache um. Dieses Angebot möchte ich jetzt schrittweise noch weiter ausbauen. Mein Ziel ist es, diesen Service eines Tages in sehr vielen anderen Sprachen anzubieten, damit weltweit Menschen davon profitieren können.
Was ist Ihr Plan für die Zukunft?
Ich will WaveFont eines Tages als Standardtechnologie etablieren. Dafür mache ich jetzt schon Kampagnen, weil diese Art von Untertiteln ja doch eine sehr neue Art ist, einen Film oder ein Video zu erleben. Außerdem will ich Gehörlose und Menschen mit Hörbehinderung weiterhin in den Prozess einbinden, um die Technologie für sie optimal weiterzuentwickeln. Dafür könnte ich mir zum Beispiel auch weitere Studien mit den Gehörlosen-Verbänden gut vorstellen.