„Ich möchte, dass mehr Menschen mit Behinderung in Filmen zu sehen sind“

Herr Janßen, Sie waren früher Verwaltungsleiter der Berlinale. Wie kamen Sie dazu, sich für Inklusion in der Filmbranche zu engagieren?

Mein Patenkind Max hat eine Behinderung. Vor einigen Jahren wurde er durch Zufall für eine Rolle in einem Fernsehfilm entdeckt, er hat mit Matthias Brandt und Corinna Harfouch in dem Thriller „Tod einer Schülerin“ gespielt. Danach sagte er: „Wenn das Arbeit ist, will ich Schauspieler werden.“ Ich habe versucht, ihn bei der Suche nach neuen Rollen zu unterstützen, aber es war sehr schwierig, eben weil die Branche noch kaum inklusiv ist. Das möchte ich ändern, damit mehr Menschen mit Behinderung in Filmen und Serien zu sehen sind. Außerdem hatte ich nach zehn Jahren bei der Berlinale Lust, etwas Neues zu machen. Also habe ich „Rollenfang“ gegründet. Meine Erfahrungen und Verbindungen zur Filmszene helfen mir natürlich. Einige Zeit nach der Gründung ist noch das Theater dazugekommen, weil manche Darsteller:innen lieber auf der Bühne spielen möchten.

Was genau bieten Sie Schauspieler:innen mit Behinderung an?

Ich vermittle sie an professionelle Theatergruppen, Film- oder Serienprojekte und handle Verträge für sie aus, ähnlich wie eine Agentur. Anders als andere Agenturen biete ich aber eine Art „Rundum-Sorglos-Paket“ an. Ich buche zum Beispiel Fotograf:innen, die professionelle Bilder für die Bewerbungen machen und mit den Darsteller:innen auch sogenannte Showreels aufnehmen. Das sind kleine Videos, die als Arbeitsproben an die Produktionsfirmen gehen. Außerdem vernetze ich die Schauspieler:innen untereinander und mit anderen Menschen aus der Branche. Und ich betreibe viel Lobbyarbeit, etwa bei Festivals und Verbänden.

Diversität, also Vielfalt, ist seit einigen Jahren ein wichtiges Schlagwort. Ist das auch in der Filmbranche spürbar?

Ja, es hat sich einiges getan. Die Förderanstalt „Moin“ aus Hamburg hat eine „Diversity Checklist“ entwickelt und veröffentlicht, einen Fragenkatalog, den alle Antragsteller:innen ausfüllen müssen. Darin wird unter anderem gefragt, ob Menschen mit Behinderung im Projekt mitarbeiten oder im geplanten Film vorkommen. Andere Fördereinrichtungen werden da sicher nachziehen, da ist also etwas in Bewegung geraten. Das spüren wir auch an unserer eigenen Arbeit bei „Rollenfang“: Viele große Produktionsfirmen hatten lange kaum Interesse an uns, jetzt arbeiten wir mit der UFA Film & TV Produktion GmbH an einem gemeinsamen Projekt. Wir bekommen auch von anderen Firmen Anfragen, weil sie Schauspieler:innen mit Behinderung engagieren möchten – allerdings in der Regel nur dann, wenn im Drehbuch explizit eine Behinderung vorgesehen ist. Eines unserer Ziele für die Zukunft ist, dass die Behinderung irgendwann gar keine Rolle mehr spielt.

Was müsste sich dafür noch verändern?

Die meisten Produzent:innen haben selten oder noch nie mit Menschen mit Behinderung zusammengearbeitet. Das ist ganz ähnlich wie in anderen Branchen auch: Wegen der fehlenden Erfahrung machen sich die Verantwortlichen Sorgen, ob das funktionieren kann. Ob zum Beispiel eine Schauspielerin mit Behinderung lange Drehtage durchhält oder ein Schauspieler mit geistiger Beeinträchtigung deutlich genug spricht.

Wie überzeugen Sie die Produktionsfirmen davon, dennoch Schauspieler:innen mit Behinderung zu engagieren?

In der Regel nehme ich erst einmal Kontakt zu den Caster:innen der Projekte auf, treffe mich mit ihnen, stelle ihnen Leute vor und schicke später Filmmaterial. Dieser persönliche Kontakt ist ganz wichtig. Manchmal kommt das auch bei Veranstaltungen zustande. Wir haben im Frühjahr 2022 ein Kurzfilmfestival organisiert, eine Gala in einem Theater in Berlin, zu der alle „Rollenfang“-Schauspielerinnen und 150 Gäste gekommen sind. Wir haben viele Gespräche geführt und Kurzfilme von und mit unseren Darsteller:innen vorgeführt, um die Qualität ihrer Arbeit zu zeigen. Daraus sind fünf oder sechs Engagements entstanden.
Ganz allein kann ich diese wichtige Netzwerkarbeit aber nicht machen.

Und wo holen Sie sich Unterstützung?

Etliche Filmschaffende und Theaterleute ohne Behinderung haben schon unsere Charta für Inklusion im Film unterzeichnet und setzen für die Ziele von Rollenfang ein. Auch bekannte Schauspieler:innen ohne Behinderung treten als Botschafter:innen für unser Anliegen ein. Sie öffnen Türen, indem sie Kolleg:innen mit Behinderung für Rollen in ihren Produktionen vorschlagen. So sind schon einige tolle Filmprojekte zustande gekommen. Es müssen übrigens ja nicht immer Hauptrollen sein, wir freuen uns auch über interessante Nebenrollen. Darüber hinaus unterstützen einige Schauspieler:innen unsere Darsteller:innen auf Wunsch auch als Coaches und arbeiten bei Dreharbeiten in Tandems mit ihnen zusammen.

Wie genau funktioniert das am Filmset?

Die Coaches sind Ansprechperson für die Produzent:innen und Vertrauensperson für unsere Schauspielerin oder unseren Schauspieler. Sie teilen ihre Erfahrung und helfen auch ganz praktisch, in den langen Wartezeiten an den Drehtagen nochmal den Text für die nächste Szene durchzugehen.

In welchen Filmen und Serien sind denn die Schauspieler:innen zu sehen, die „Rollenfang“ schon vermitteln konnte?

Das ist inzwischen ein sehr breites Spektrum. Wir haben Serien wie „In aller Freundschaft“, „Rote Rosen“ oder „Die Bergretter“ im Portfolio, Fernsehreihen wie „Praxis mit Meerblick“ oder „Polizeiruf 110“, aber auch Kinofilme wie „24 Wochen“ und Florian Henckel von Donnersmarcks „Werk ohne Autor“.

Für Rollen in solchen Produktionen brauchen die Darsteller:innen wahrscheinlich eine gute Ausbildung. Wie einfach oder schwierig ist der Einstieg in diesen Beruf für Menschen mit Behinderung?

Leider ist er meistens schon die erste Hürde. Schauspielschulen sind zwar offiziell für alle offen, tatsächlich bekommen Menschen mit Behinderung aber fast nie einen Platz. Die meisten Schauspieler:innen mit Behinderung haben in inklusiven Theatergruppen erste Erfahrungen gesammelt oder wurden in einer Einrichtung für behinderte Menschen gecastet. Wir bieten deshalb bei „Rollenfang“ auch Weiterbildungen an, etwa einwöchige Kameraworkshops, in denen wir inklusiv besetzte Kurzfilme produzieren. Unsere Coaches bereiten unsere Schauspieler:innen bei Bedarf auch ganz direkt auf neue Rollen oder schwierige Szenen vor, in denen es etwa besonders wichtig ist, zwischen der Rolle und dem realen Leben zu unterscheiden.

Wie finanzieren Sie die Arbeit von „Rollenfang“?

Hauptsächlich wird die Arbeit von Rollenfang durch eine Projektförderung der Aktion Mensch finanziert, außerdem unterstützen uns einige private Stiftungen. Für einen Kurzfilm konnten wir den RBB als Koproduzenten gewinnen, und auch das Medienboard Berlin Brandenburg hat zwei unserer Projekte mitfinanziert.

Was haben Sie sich für die nächsten Jahre vorgenommen?

Unser neuestes Projekt „Rollenfang-Labor“, eine Art Denkfabrik, in der Künstler:innen mit und ohne Behinderung gemeinsam arbeiten. Hier wollen wir inklusiv neue Sichtweisen und Filmstoffe und gleichzeitig Arbeitsmöglickeiten für Regisseur:innen, Drehbuchautor:innen und Musiker:innen mit Behinderung entwickeln, also für alle Gewerke, die hinter der Kamera agieren.