Tipps für Arbeitgeber:innen, Teil 4: Was für eine inklusive Unternehmenskultur wichtig ist

#1: Frau Kurtenacker, was macht aus Ihrer Sicht eine gute inklusive Unternehmenskultur aus?

Vieles steht und fällt mit dem Verhalten der Führungskräfte. Sie sollten vertrauensvoll und wertschätzend mit allen Mitarbeiter:innen umgehen – unabhängig von einer Behinderung oder chronischen Erkrankung. Und natürlich auch unabhängig von Religion, Herkunft und Geschlecht, der sexuellen Orientierung oder dem Alter. Alle Mitarbeiter:innen sollten die gleichen Möglichkeiten haben, ihre Talente zu entfalten und sich weiterzuentwickeln. Führungskräfte sollten ihre Entscheidungen transparent machen und nachvollziehbar erklären. Umgekehrt müssen auch Mitarbeiter:innen offen mit ihren Vorgesetzten sprechen können. Wenn die Verantwortlichen im Unternehmen all das bedenken, haben sie schon eine Menge erreicht.

#2: In welchen Schritten können Unternehmen diesen Ansatz praktisch umsetzen?

Es ist wichtig, dass sich Führungskräfte für das Thema öffnen und bereit sind, sich zu informieren. Viele Arbeitgeber:innen sind zum Beispiel unsicher, wenn sie sich mit einer Behinderung oder Erkrankung nicht auskennen und auch nicht wissen, welche Förderprogramme und -maßnahmen es gibt. Sie sollten sich dann erkundigen, welche Hilfsmittel für Arbeitsplätze in ihrer Firma in Frage kommen, und mit Bewerber:innen offen darüber sprechen, was sie brauchen. Oft bewirken bereits kleine Änderungen in den Arbeitsabläufen sehr viel, etwa wenn Mitarbeiter:innen ihre Pausen flexibler gestalten können. Manchmal kann die Lösung auch sein, dass eine Person mit ihrem Arbeitsplatz innerhalb des Firmengebäudes umzieht, um ihn leichter erreichen zu können.
Wenn Arbeitgeber:innen finanzielle Unterstützung beantragen möchten, beispielsweise um einen Arbeitsplatz behinderungsgerecht zu gestalten oder technische Arbeitshilfen anzuschaffen, können sie sich kostenlos bei den Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber:innen (EAA) beraten lassen. Die EAA helfen auch direkt bei den nötigen Anträgen weiter.
Alle geplanten Maßnahmen können Unternehmen außerdem in einer sogenannten Inklusionsvereinbarung festhalten. Die Führungsetage und der Betriebsrat oder die Schwerbehindertenvertretung schreiben darin unter anderem auf, wie viele Menschen mit Behinderung mindestens im Betrieb arbeiten und wie sie gefördert werden sollen. Manche Betriebe gründen außerdem ein Inklusionsteam, das innerhalb des Unternehmens beobachtet, bewertet und kommuniziert, ob die Ziele aus dieser Vereinbarung erreicht wurden.

#3: Wie können Führungskräfte nach außen signalisieren, dass ihr Unternehmen inklusiv arbeitet – zum Beispiel, um neue Mitarbeiter:innen mit Behinderung zu gewinnen?

Das beginnt ganz praktisch bei der Barrierefreiheit, die die Verantwortlichen bei Um- oder Neubauten, aber auch digital bei ihrem Internetauftritt mitdenken sollten. In Stellenanzeigen können Arbeitgeber:innen ihre Unternehmenskultur beschreiben und, wenn vorhanden, auf ihre Inklusionsvereinbarung und ihr Inklusionsteam hinweisen. Unternehmen, die Nachwuchskräfte ausbilden, können so gezielt junge Menschen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung ansprechen.
Und noch ein Tipp für die Jobanzeigen: Es ist besser, nicht nach „Alleskönner:innen“ zu suchen, sondern passgenau zu formulieren, welche Fähigkeiten für die jeweiligen Aufgaben wirklich gebraucht werden. Zu lange Listen mit Kompetenzen, die nicht wirklich nötig sind, schrecken möglicherweise Bewerber:innen ab oder schließen manche sogar von vornherein aus.

#4: Seit der Pandemie arbeiten viel mehr Menschen im Homeoffice. Welche Vor- und Nachteile hat das für die Zusammenarbeit in inklusiven Teams?

Mit dieser Frage haben sich zwei meiner Kolleginnen beim IW Köln in einer Studie ausführlich beschäftigt. Die Untersuchung hat zum einen gezeigt: Viele Menschen mit Behinderung können nur im Homeoffice überhaupt arbeiten, weil sie so beispielsweise ihre Pausen flexibler einteilen können oder schlicht nicht jeden Tag zum Unternehmen fahren müssen. Damit die Arbeit zu Hause gut funktioniert, brauchen sowieso alle Beschäftigten unabhängig von einer Behinderung das gleiche: einen gut ausgestatteten Arbeitsplatz und Vorgesetzte, die sie gut führen und dafür sorgen, dass alle wichtigen Informationen bei ihnen ankommen.
Neben vielen Vorteilen kann das Homeoffice aber auch zum Problem werden: Laut der Studie empfinden es viele Befragte als belastend, bei der Arbeit oft oder sogar ständig allein zu sein. Führungskräfte sollten das im Blick haben und Mitarbeiter:innen bei Bedarf andere Lösungen anbieten. Wenn der Weg in die Firma weit ist, kommt vielleicht ein sogenannter „Dritter Ort“ als mobiler Arbeitsplatz in Frage. Damit ist gemeint, dass sich die Mitarbeiter:innen anstatt zu Hause oder im Unternehmen in anderen Räumen aufhalten, die näher am Wohnort liegen, zum Beispiel in Bibliotheken oder Gemeindezentren. Dort können sie arbeiten und sich mit anderen Menschen treffen, sind also nicht so isoliert wie zu Hause. Gerade für inklusive Teams ist so etwas eine gute Möglichkeit, die Zufriedenheit und Gesundheit aller Mitglieder zu erhalten und zu stärken.





Inklusionsbarometer Arbeit 2023: Leichte Entspannung am Arbeitsmarkt – doch strukturelle Benachteiligung bleibt

Das Inklusionsbarometer Arbeit zeigt im Jahr 2023 auf den ersten Blick eine Entspannung der Lage auf dem Arbeitsmarkt: Die Anzahl arbeitsloser Menschen mit Behinderung ist gesunken. Auch die Anträge von Unternehmen, die Angestellten mit Behinderung kündigen wollen, sind im Vergleich zu 2022 zurückgegangen. Die Erwerbsquote wiederum ist gestiegen, also der Anteil an Bürger:innen mit Behinderung, die eine Beschäftigung haben (siehe Infografik).
All das ist positiv und spiegelt sich auch im Gesamtwert des Barometers wider, der von 107,7 auf 109,8 gestiegen ist. Eine höhere Zahl bedeutet hier eine Verbesserung der Situation (siehe Infokasten).

Grafik mit den wichtigsten Ergebnissen des Inklusionsbarometers Arbeit 2023
Grafik: Aktion Mensch

Das Kernproblem bleibt bestehen

Menschen mit Behinderung werden auf dem Arbeitsmarkt allerdings nach wie vor strukturell diskriminiert. Sie erfahren in der Gesellschaft also teils große Nachteile, mit denen Menschen ohne Behinderung nicht konfrontiert sind. Daher ist die Situation auch im Jahr 2023 nicht gleichberechtigt. Das wird durch die schwankende Konjunktur in Deutschland ebenso mit beeinflusst wie durch die mangelnde Bereitschaft vieler Unternehmen, überhaupt Menschen mit Behinderung einzustellen.

Zu wenige Unternehmen stellen Menschen mit Behinderung ein

Firmen ab 20 Mitarbeiter:innen sind gesetzlich dazu verpflichtet, mindestens fünf Prozent ihrer Belegschaft mit Menschen mit Behinderung zu besetzen. Wenn sie diese Quote nicht erfüllen, müssen sie eine so genannte Ausgleichsabgabe zahlen, aus der wiederum inklusionsfördernde Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt finanziert werden. Diese „Strafe“ wird zum Jahr 2024 erhöht, im Frühjahr 2025 muss der neue Betrag erstmals gezahlt werden.
Ob das dazu führen wird, dass mehr Unternehmen ihrer Beschäftigungspflicht nachkommen, ist noch offen. Bisher stagniert deren Anteil laut Inklusionsbarometer jedenfalls beziehungsweise sinkt sogar: Nur 39 Prozent der Firmen, die es müssten, erfüllten im Jahr 2023 die Quote (siehe Infografik). Das ist der niedrigste Wert seit Einführung des Barometers. Trotz des Fachkräftemangels nutzen Unternehmen das Potenzial der Inklusion also weiterhin nicht, bemängelt die Aktion Mensch.

Einheitliche Ansprechstellen für Arbeitgeber (EAA) ein Teil der Lösung?

Die so genannten Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber:innen (EAA) könnten dabei helfen, diese Situation zu verändern, so hoffen die Expert:innen der Studie. Die EAA beraten, begleiten und unterstützen Unternehmen seit dem Jahr 2022 nämlich zum Beispiel dabei, Arbeitsplätze für einen Menschen mit Behinderung im eigenen Betrieb zu identifizieren oder Anträge auf Fördermittel zu stellen.

Das Fazit

Die Lage hat sich zwar insgesamt leicht entspannt, doch Gleichberechtigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist weiterhin nicht erreicht. Das bleibt ein ungelöstes Problem. Es ist also auch in den kommenden Jahren noch viel zu tun, um die Lage nachhaltig zu verbessern.


Die Auswertung der Aktion Mensch zum Inklusionsbarometer Arbeit 2023 und die gesamte Studie zum Download gibt es hier.




Mit dem digitalen Werkzeugkasten „Easy Reading“ Internetseiten leichter lesen und verstehen

Frau Heitplatz, Frau Lueg, was genau ist „Easy Reading“?

Vanessa Heitplatz: Easy Reading ist ein kostenloses Programm, das Internetseiten vereinfacht und mit weniger Barrieren darstellt. Es ist eine Art digitaler Werkzeugkasten mit verschiedenen Hilfsmitteln. Die Werkzeuge helfen zum Beispiel, wenn jemand die Schrift schlecht erkennen kann, Wörter nicht gut versteht oder sich auf einer unübersichtlichen Seite schlecht zurechtfindet.

Marie-Christin Lueg: Das Besondere ist, dass Easy Reading immer gleich aussieht, unabhängig davon, ob und auf welche Weise eine Internetseite schon barrierefrei gestaltet ist. Die Nutzer:innen müssen sich also nicht erst jede Seite und die dort vorhandenen Werkzeuge und Symbole erschließen, sondern können sich direkt mit den Inhalten beschäftigen. Wenn sie Easy Reading auf ihrem Computer installiert haben, finden sie das Programm-Menü auf jeder Internetseite ganz leicht über ein Chamäleon-Symbol. Klicken sie das an, klappt sich der Werkzeugkasten auf.

Können Sie die einzelnen Hilfsmittel genauer beschreiben?

Lueg: Es gibt zum Beispiel eine Vorlesefunktion für Menschen mit Leseschwäche oder Sehbehinderung. Eine andere Unterstützung ist das Leselineal, das jeweils eine Textzeile hervorhebt, während der Rest etwas abgedunkelt wird. So fällt es Menschen mit Lernschwierigkeiten oder mit einer Sehbehinderung leichter, sich den Text zu erschließen. Wer mit vielen Bildern oder Werbeanzeigen auf einer Internetseite überfordert ist, kann den Lesemodus anklicken. Der Text wird dann zentriert in einer vergrößerten Schrift und mit größerem Zeilenabstand dargestellt, während alle ablenkenden Elemente verschwinden. Und zu schwierigen Wörtern kann man sich eine Erklärung, ein Bild oder ein Symbol anzeigen lassen.

Das Video zeigt kurz die Funktion „Leselineal“ und ein Beispiel für Erklärtexte, die dann erscheinen, wenn mit der Maus über ein erklärungsbedürftiges Wort gefahren wird.

Easy Reading soll also hauptsächlich Menschen mit Lernschwierigkeiten helfen?

Heitplatz: Ja, und deshalb haben wir das Programm auch zusammen mit sogenannten Peer-Forschenden entwickelt, also mit Kolleg:innen aus der Zielgruppe. In der ersten Projektphase, die von 2018 bis 2020 gedauert hat und von der EU gefördert wurde, haben wir mit einem internationalen und inklusiven Forschungsteam daran gearbeitet. Am Anfang haben die Peer-Forschenden uns erklärt, auf welche Hürden sie im Internet stoßen, und wir haben gemeinsam überlegt, was ihnen helfen könnte. Später haben sie ausprobiert, ob die Werkzeuge gut funktionieren.
Einige Hilfsmittel unterstützen nicht nur Menschen mit Lernschwierigkeiten, sondern zum Beispiel auch Menschen mit Sehbehinderung. Oder Kinder, die gerade lesen lernen und mit einer vereinfachten Darstellung besser zurechtkommen.

Seit August 2022 arbeiten Sie in einem Anschlussprojekt an der Weiterentwicklung Ihres Programms. Was möchten Sie gern noch verbessern?

Heitplatz: Bei den schon bestehenden Werkzeugen untersuchen wir im Rahmen des Anschlussprojekts auch, ob sie für die zusätzlichen Zielgruppen gut funktionieren oder verbessert werden sollten. Wir möchten außerdem herausfinden, für welche weiteren Zielgruppen Easy Reading sinnvoll sein könnte, zum Beispiel für Senior:innen und Menschen mit Migrationshintergrund oder Fluchtgeschichte. Wir haben schon eine Übersetzungsfunktion für verschiedene Sprachen in unseren Werkzeugkasten aufgenommen. Gerade sind Russisch und Ukrainisch sehr wichtig.

Ein Blick in die Zukunft: Müssten Internetseiten demnächst dann überhaupt noch barrierefrei gestaltet sein, wenn alle Menschen Easy Reading nutzen könnten?

Heitplatz: Ja, auf jeden Fall! Unser Programm kann zwar den Zugang zu nicht barrierefreien Seiten erleichtern, es ist aber ausdrücklich kein Ersatz für eine barrierefreie Gestaltung. Die Betreiber:innen von Webseiten müssen zum Beispiel Alternativtexte für dort verwendete Bilder selbst auf der Seite hinterlegen. Das ist von außen nicht möglich. Auf manchen Seiten gibt es außerdem PDF-Dokumente, die nicht barrierefrei sind, aber wichtige Informationen enthalten. Die kann Easy Reading nicht entschlüsseln. Unser Programm kann auch nicht helfen, wenn das Navigationsmenü unübersichtlich aufgebaut ist. Bei all dem sind die Betreiber:innen also weiterhin selbst gefragt.

Lueg: Easy Reading kann aber auch auf bereits leichter zugänglichen Internetseiten eine gute Ergänzung sein. Es kann beispielsweise die Darstellung noch stärker vereinfachen. Den Nutzer:innen hilft außerdem, dass sie das Programm so konfigurieren können, dass sie die benötigte Unterstützung nicht jedes Mal erneut auswählen müssen. Sie können ihre Einstellungen nämlich abspeichern. Wenn sie dann eine neue Website öffnen, müssen sie nur auf das Chamäleon-Symbol klicken und bekommen sofort eine für sie gut zugängliche Ansicht und ihre bevorzugten Hilfsmittel. Das macht den Zugang noch leichter – und so wird noch mehr digitale Teilhabe möglich. —

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Inklusionsbarometer Arbeit 2022: Situation etwas schlechter als im Vorjahr

Das Gesamtergebnis des Inklusionsbarometers Arbeit (mehr dazu unten) ist etwas schlechter als im letzten Jahr: Der Wert liegt 2022 bei 113,2 im Vergleich zu 114,2 im Vorjahr. Ein Wert über 100 bedeutet aber grundsätzlich, dass sich die Lage verbessert, und das ist erfreulicherweise auch dieses Jahr wieder der Fall. Eine weitere gute Nachricht: Nach Jahren der Krise sinken die Arbeitslosenzahlen wieder. Gleichzeitig ist jedoch die Anzahl der langzeitarbeitslosen Menschen mit Behinderung weiter gestiegen, und zwar um über fünf Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Inklusionsklima schlechter

Beim Inklusionsklima, dem eine repräsentative Umfrage zugrunde liegt, zeigt ein Barometerwert von über 50 grundsätzlich ein positives Klima an. Dieser Wert wurde zwar auch 2017 bei der letzten Erhebung nicht erreicht. Aber er ist dieses Jahr in allen Regionen Deutschlands sogar noch weiter gesunken. Nordrhein-Westfalen etwa war 2017 mit einem Wert von 43,5 noch Spitzenreiter, dieses Jahr lag der Wert nur noch bei 40. Schlusslicht ist und bleibt der Süden Deutschlands mit einem Wert von 38 (im Vergleich zu 40 im Vorjahr).

Weiterhin viel Aufklärungsarbeit nötig

Außerdem stellte sich heraus, dass 41 Prozent der kleinen Unternehmen, die mindestens einen Menschen mit Behinderung beschäftigen, die staatliche Förderung für solche Arbeitsplätze nicht kennen. Das sind zwar zwei Prozent mehr als im Vorjahr, doch zeigt diese eher kleine Veränderung, dass nach wie vor viel Aufklärungsarbeit bei diesem Thema nötig ist. Gerade für kleine Unternehmen spielen finanzielle Fragen aber vermutlich eine große Rolle bei der Überlegung, ob sie einen Arbeitsplatz für einen Menschen mit Behinderung einrichten können oder wollen – daher könnte es sich positiv auswirken, wenn die staatliche Förderung bekannter wäre.

Weitere Fakten im Überblick

  • Wenn einmal ein Arbeitsverhältnis besteht, bleibt es deutlich häufiger auch erhalten als früher. Im Jahr 2021 gab es mit 19.746 so wenig Anträge auf Kündigung von Menschen mit Behinderung wie noch nie seit Erscheinen des ersten Inklusionsbarometers im Jahr 2013. Diese Entwicklung hat sich 2022 weiter stabilisiert. Den größten Fortschritt hat Bayern gemacht. Hier wurden 24,1 Prozent weniger Anträge auf Kündigung gestellt als im Vorjahr.

  • Ganz anders sieht die Situation für Menschen mit Behinderung aus, die doch arbeitslos geworden sind. Im vergangenen Jahr gelang nur drei Prozent von ihnen die Rückkehr auf den Arbeitsmarkt. Bei Menschen ohne Behinderung waren es sieben Prozent. Das heißt: Arbeitslose ohne Behinderung haben eine mehr als doppelt so hohe Chance, eine Wiederanstellung zu finden, als Arbeitslose mit Behinderung.

  • Die Mehrheit der Unternehmen sieht in der Digitalisierung eine Chance für Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt. Zugleich haben aber nur drei Prozent in Folge der Digitalisierung auch Menschen mit Behinderung eingestellt.

  • Rund 173.000 Unternehmen in Deutschland sind gesetzlich dazu aufgefordert, mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit Menschen zu besetzen, die eine Behinderung haben. Dieser Pflicht kommen aber nur 40 Prozent der Unternehmen im vorgeschriebenen Umfang nach.25 Prozent beschäftigen überhaupt keine Arbeitnehmer:innen mit Behinderung, sondern zahlen stattdessen die sogenannte Ausgleichsabgabe in voller Höhe.

  • Im Kontrast dazu machen die Unternehmen, die Menschen mit Behinderung beschäftigen, vor allem positive Erfahrungen damit: 80 Prozent geben laut der Befragung im Rahmen des Inklusionsklimabarometers an, dass sie keine Leistungsunterschiede zwischen Kolleg:innen mit und ohne Behinderung wahrnehmen.
Grafik mit den wichtigsten Ergebnissen des Inklusionsbarometers Arbeit 2022
Grafik: Aktion Mensch



Wie Arztbesuche inklusiver werden können

Frau Sappok, warum braucht es eine eigene Medizin für Menschen mit Behinderung?

Menschen mit Behinderung werden in Deutschland oft noch nicht so gut medizinisch versorgt, wie es möglich und nötig wäre. Das liegt daran, dass sie häufig viele körperliche und auch psychische Erkrankungen haben und deswegen eine besonders hochwertige ärztliche Versorgung benötigen. Leider erschweren in unserem Gesundheitssystem aber viele Barrieren den Zugang zu einer solchen Betreuung. Und wenn sie dann in einer Arztpraxis oder im Krankenhaus behandelt werden müssen, sind viele Mitarbeiter:innen überfordert. Zum Beispiel, weil sich Ärzt:innen mit bei diesen Personen häufigen Krankheitsbildern kaum oder gar nicht auskennen. Oder schlicht, weil ein Mensch mit einer kognitiven Beeinträchtigung die übliche Eingangsfrage „Was führt Sie zu mir?“ nicht versteht oder nicht beantworten kann – der Arzt oder die Ärztin aber keinen anderen Zugang findet.

Wie wollen Sie das ändern?

In meinen Vorlesungen und Seminaren werde ich medizinisches Fachwissen vermitteln, zu Krankheitsbildern, die bei Menschen mit Behinderungen überdurchschnittlich häufig auftauchen. Um zum Beispiel bestimmte genetische Syndrome zu erkennen, müssen Mediziner:innen erst einmal damit vertraut sein. Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sind übrigens auch häufig im Autismusspektrum. Die Diagnose wird bei ihnen aber mit anderen oder angepassten Untersuchungsverfahren gestellt als bei Menschen ohne Lernbehinderung. Darüber hinaus möchte ich meine Studierenden auf den Umgang mit Patient:innen, die eine Behinderung haben, vorbereiten und sie für die Barrieren im Gesundheitswesen sensibilisieren.

Können Sie diese Barrieren genauer beschreiben?

Die erste große Hürde ist, überhaupt einen Arzttermin zu bekommen. Für Personen im Autismusspektrum ist es oft schon schwierig, in einer Praxis anzurufen. Hier kann helfen, wenn sie die Möglichkeit haben, online einen Termin zu buchen. Aber das ist bisher ja eher die Ausnahme. Ein weiteres Problem ist, dass Praxen und Kliniken Menschen mit Behinderung gar nicht erst als Patient:innen annehmen möchten oder rasch wieder aus der Behandlung entlassen. Deshalb suchen diese Patient:innen häufig Rettungsstellen auf, wo aber nur akute Erkrankungen untersucht und behandelt werden. Eine langfristige medizinische Versorgung ist so natürlich nicht möglich.

Warum lehnen Ärzt:innen denn Menschen mit Behinderung als Patient:innen ab?

Die Behandlung kann kompliziert und zeitintensiv sein, wenn Patient:innen bei bestimmten Untersuchungen Angst haben, etwa in der Gynäkologie oder Urologie. Manchmal wird auch gesagt, sie seien „nicht wartezimmerfähig“ oder in Kliniken „nicht führbar“.

Wie bitte?

Dahinter stecken Ängste und teilweise auch Vorurteile. Viele Ärzt:innen haben einfach kaum Erfahrung mit Menschen mit Behinderung. Sie sind verunsichert, weil sie zum Beispiel nicht wissen, wie sie mit Menschen umgehen und kommunizieren sollen, die nicht sprechen können. Auch das wollen wir ändern, indem unsere Studierenden an der Klinik von Anfang an mit Menschen mit Behinderung in Kontakt kommen. Wir möchten die Perspektive umkehren. Nicht die Patient:innen sollen sich anpassen, sondern Kliniken und Praxen müssen passende Rahmenbedingungen schaffen, etwa, indem medizinisches Personal die Leichte Sprache erlernt.

Der Bedarf für solche Veränderungen ist offenbar groß. Warum gibt es in Deutschland erst jetzt die erste Professur in diesem Fachgebiet?

Menschen mit Behinderung haben keine große Lobby. Und es gibt auch kein großes Interesse bei den Kostenträgern, weil eine individuelle und dadurch zeitintensivere Betreuung teurer ist. Aber eine gute Gesundheitsversorgung ist notwendig, um ein Höchstmaß an Lebensqualität und Teilhabe zu erreichen, so wie es etwa die UN-Behindertenrechtskonvention fordert. Das ist übrigens ein weltweites Problem. In Großbritannien und den Niederlanden gibt es zwar schon Lehrstühle für Behindertenmedizin und mehr Forschung als hier. Aber in den meisten europäischen Ländern oder auch in den USA, in Asien oder weniger entwickelten Ländern spielt das Themengebiet immer noch eine sehr untergeordnete Rolle.

Wie sind Sie selbst zu Ihrem jetzigen Spezialgebiet gekommen?

Das war ein Zufall. Während meiner psychiatrischen Facharztausbildung am Krankenhaus Königin-Elisabeth Herzberge in Berlin wurde ich auch im Behandlungszentrum für psychische Gesundheit bei Entwicklungsstörungen eingesetzt; dort werden psychisch erkrankte Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung behandelt. Dabei habe ich Feuer gefangen. Das Fachgebiet ist spannend und anspruchsvoll, und die Arbeit mit Menschen mit Behinderung hat mir sofort viel Freude gemacht. Bei der Behandlung bin ich immer wieder auf Fragen gestoßen, auf die ich in der Fachliteratur keine Antworten finden konnte. Also habe ich angefangen, mich damit zu beschäftigen und die Fragen selbst zu beantworten. Alle meine Forschungsthemen haben sich direkt aus dem Behandlungsalltag ergeben.

Können Sie ein Beispiel erzählen?

Anfang der 2000er-Jahre kam eine junge Frau mit einer Lernbehinderung zu uns. Ihr Arzt hatte ihr ein Medikament gegen Schizophrenie verordnet, was ihr nicht geholfen hat, denn die Diagnose war falsch – und entsprechend auch das Medikament. Ihre Mutter hat uns erzählt, dass sich die Tochter schon als Kind so verhalten habe wie später als junge Erwachsene. Schizophrenien entwickeln sich aber in der Regel erst im jungen Erwachsenenalter. Ich habe viel recherchiert, was es stattdessen sein könnte, und kam schließlich auf das Thema Autismus. Damals war noch gar nicht bekannt, dass Menschen mit kognitiven Behinderungen häufig Autist:innen sind, und es gab kaum Diagnostikmöglichkeiten für diese Patient:innen. Im Rahmen meiner Habilitationsarbeit habe ich verschiedene Untersuchungsinstrumente entwickelt oder für Menschen mit Behinderungen angepasst, die auch andere Ärzt:innen anwenden können. Seitdem werden seltener Schizophrenien diagnostiziert. Für die Patient:innen ist das sehr wichtig, weil sie keine falschen Medikamente mehr bekommen, sondern ihr Umfeld stattdessen autismusfreundlich gestaltet wird.

Sie treten Anfang 2023 nicht nur Ihre Professur an, sondern werden auch Direktorin der neuen Universitätsklinik für Inklusive Medizin am Krankenhaus Mara in Bethel. Was haben Sie in dieser Klinik vor?

Wir möchten das dortige Zentrum für Behindertenmedizin erweitern. Neben der internistischen und chirurgischen Abteilung wollen wir in Zukunft auch ein psychiatrisches Behandlungsangebot schaffen. Diese drei Stationen sollen aber nicht nebeneinander arbeiten, sondern Patient:innen gemeinsam betreuen. Je nach Diagnose wird natürlich ein:e Expert:in die Fallführung übernehmen, aber Fachleute aus allen Bereichen werden in gemeinsamen Visiten interdisziplinäre Behandlungspläne entwickeln und umsetzen.

Was muss bis Ende des Jahres noch passieren, damit Sie im Januar starten können?

Die Klinik wird für das zusätzliche psychiatrische Angebot umgebaut, wir brauchen Räume und Material für die Kreativ-, Musik- und Ergotherapie, für Einzel- und Gruppengespräche. Darüber hinaus werden wir einen geschützten Bereich einrichten, in dem wir Menschen mit schweren Verhaltensstörungen betreuen werden. Für all diese Angebote suchen wir gerade natürlich auch Personal, etwa Psycholog:innen, Psychiater:innen und Kreativtherapeut:innen.

Werden Sie auch Menschen mit Behinderung im Team haben?

Ja, wir planen, sowohl in der Klinik als auch in der Lehre und Forschung in inklusiven Teams zu arbeiten.

Zum Schluss ein Ausblick: In ein paar Jahren werden Ihre ersten Student:innen ihren Abschluss haben und in den Beruf starten. Wie können diese das Wissen aus Ihren Vorlesungen einsetzen?

Ich wünsche mir, dass sie sich freuen, wenn Menschen mit Behinderung in ihre Praxis oder Klinik kommen. Dass sie Menschen mit Behinderung mit offenen Armen empfangen und diese umgekehrt nicht mehr auf die vielen Schwierigkeiten stoßen wie jetzt. Und ich würde mich freuen, wenn einige Studierende das Fachgebiet so spannend finden, dass sie darin promovieren und ein immer regeres wissenschaftliches Leben entsteht. —




Exoskelette einfach erklärt: Körperliche Unterstützung bei der Arbeit und im Alltag (mit Video)

Herr Daub, der Begriff „Exoskelett“ klingt für Laien etwas technisch. Was steckt dahinter?

Ein Exoskelett ist ein Assistenzsystem, das direkt am Körper getragen wird. Es entlastet den Bewegungsapparat durch eine zusätzliche Kraftunterstützung. Unsere Muskeln und Gelenke sind auf dynamische Bewegungen ausgelegt, beispielsweise aufs Laufen. Wenn jemand aber immer wieder schwere Lasten heben oder den Bewegungsapparat lange in einer fast unbewegten Stellung halten muss, können die Muskeln schnell erschöpfen. Das kann ein Risiko für Verletzungen sein. Dem wirken Exoskelette entgegen.

Wo kommt diese Kraftunterstützung denn her? Werden Exoskelette mit einem Motor betrieben?

Mal ja, mal nein, es gibt passive und aktive Systeme. Die am weitesten verbreiteten industriellen Exoskelette arbeiten passiv. Sie haben Federn oder Expander, die unter mechanischer Spannung stehen und bei bestimmten Körperhaltungen ihre Energie wieder freisetzen. Dadurch geben sie bei bestimmten Bewegungen automatisch Kraft hinzu, die sonst die Muskeln im Körper allein aufbringen müssten. Bestimmte Körperbereiche werden so gezielt unterstützt und entlastet. Es gibt in dieser Kategorie noch weitere Unterschiede, manche Systeme haben etwa harte Schalen, manche bestehen fast nur aus elastischen Bändern und Bandagen. Letztere sind die so genannten soften Exoskelette oder – das ist der internationale Begriff – „Exosuits“. Es gibt aber immer häufiger auch aktive Systeme, die elektrisch betrieben sind.  

Wann ist welches System sinnvoll?

Das kommt darauf an. Wenn technische Maßnahmen oder eine Veränderung der Arbeitsabläufe nicht mehr ausreichen, um eine Person am Arbeitsplatz ausreichend zu entlasten, können Exoskelette eine gute zusätzliche Möglichkeit sein, egal, ob aktiv oder passiv. Aktive Exoskelette können aber vor allem dann sehr sinnvoll sein, wenn ein höherer Kraftaufwand bei einer Arbeit anfällt oder die benötigte Unterstützung individuell unterschiedlich ist. Das Exoskelett lässt sich nämlich viel genauer auf die Bedürfnisse der Person oder eine bestimmte Tätigkeit einstellen. Wenn etwa Gewichte stark variieren, also beispielsweise Pakete zwischen zwei und 25 Kilogramm bewegt werden müssen, kann die Unterstützung bei aktiven Systemen daraufhin angepasst werden. Mit solchen Anforderungen beschäftigt sich übrigens auch ein Teil unserer Forschung sehr intensiv.

Sie sagen, dass mit den Exoskeletten immer bestimmte Körperbereiche unterstützt werden. Es gibt also unterschiedliche Varianten, je nachdem, ob jemand zum Beispiel eher mit den Armen oder eher aus den Beinen arbeitet?

Ja, wobei die meisten Exoskelette darauf ausgelegt sind, den Oberkörper gerade und aufrecht zu halten – das sind die „Rückenexos“ – oder den Armen bei Überkopftätigkeiten die Last abzunehmen, das sind die „Schulterexos“. Es gibt darüber hinaus auch noch Systeme für den Nacken, den Daumen oder die Handkraft.

Bei welchen Arbeiten unterstützen die Rücken- und Schultersysteme?

Die Systeme für den Rücken werden dann eingesetzt, wenn schwere Bauteile oder Behälter angehoben oder abgelegt werden müssen, oder wenn jemand über längere Zeit in einer nach vorne geneigten Haltung arbeiten muss. Ein typisches Anwendungsfeld für Rückenexos ist zum Beispiel die Logistik, wie schon bei den aktiven Systemen erklärt: Dort müssen Menschen oft und häufig schwere Pakete heben und tragen. Die Schulter-Exoskelette helfen wiederum bei Tätigkeiten, bei denen die Arme lange oben gehalten werden, zum Beispiel bei Montage- oder Schweißarbeiten (→ siehe Video).

Wann gilt ein Exoskelett als „gelungen“, was muss es dafür alles erfüllen?

 Die Anwender:innen würden sagen: Das Exoskelett sollte am besten so gut wie gar nichts wiegen, beim Tragen nicht zu spüren sein, nicht einschränken und trotzdem möglichst stark unterstützen. Das klingt nach der sprichwörtlichen „eierlegenden Wollmilchsau“, die erst noch erfunden werden muss. So perfekt lässt sich das aus technischen Gründen natürlich nicht umsetzen – ein paar Kompromisse sind also immer nötig. Deshalb gibt es auf dem Markt derzeit auch mehr als 100 verschiedene Exoskelette zu kaufen: Keines ist rundum perfekt, jedes Einzelne löst aber für bestimmte Anwender:innen ganz konkrete Probleme und Anwendungsfälle sehr gut. Das bedeutet wiederum, dass jeweils das am besten geeignete Exoskelett gefunden werden muss.

Es gibt Exoskelette also schon in vielen verschiedenen Versionen und für fast jeden Anwendungsfall. Könnten sie dann nicht auch für Menschen interessant sein, bei denen es weniger um ein Verhindern von Verletzungen geht, sondern für die die unterstützende Funktion im Vordergrund steht – sprich, für Menschen mit einer körperlichen Behinderung?

Das ist ein sehr guter Gedanke. Exoskelette könnten tatsächlich Menschen mit Behinderungen im Berufsleben unterstützen, manchmal vielleicht sogar überhaupt erst eine Teilhabe ermöglichen. Auch die Exoskelett-Hersteller haben das erkannt, also dass in den Systemen noch eine ganz andere Chance abseits der industriellen Anwendung liegt. Menschen mit erworbenen oder angeborenen körperlichen Einschränkungen könnten davon nach meiner Einschätzung künftig sicher sehr profitieren – und so zum Teil entweder überhaupt wieder arbeiten können oder aber leichter.

Kennen Sie ein Beispiel, in dem das schon der Fall ist?

Ja, auf der Rehacare-Messe hatten wir in unserem Symposium „Technische Assistenz und berufliche Rehabilitation“ einen Vortrag, in dem es um einen Museumsmitarbeiter ging, der eine neurologische Erkrankung hat. Sein Beruf ist es, Scheren auf traditionelle Weise zu fertigen. Im Museumsbetrieb sind die Maschinen, die dafür verwendet werden, denkmalgeschützt. Technische Anpassungen daran, um ihm die Arbeit zu erleichtern, sind also ausgeschlossen. Seit über einem Jahr nutzt er bei seiner Arbeit nun ein Exoskelett, das seine Hand unterstützt und ihm so dabei hilft, die neurologisch bedingt fehlende Kraft auszugleichen. Laut seiner Aussage kann er seine Tätigkeit dadurch besser, länger und vor allem schmerzfrei ausführen. Dem Museum bleibt damit ein wertvoller Mitarbeiter erhalten – und er selbst kann seinen Job weiterhin ausführen. —


Tipp

Vergangenes Jahr haben wir für unseren Blog bereits mit Hans-Jürgen Schrage gesprochen, dem Scherenmonteur, um den es auch auf dem RehaCare-Symposium ging. Hier geht es zum Interview!






OmniAssist: Ein Pilotprojekt für mehr Inklusion durch digitale Assistenzsysteme

Herr Kuhn, Sie und Ihr Team haben verschiedene Assistenzsysteme entwickelt, die im Projekt OmniAssist ausprobiert werden sollen. Welche sind das und wie funktionieren sie?

Wir haben eine Art Baukasten aus verschiedenen Systemen zusammengestellt. Unternehmen und Organisationen können sich daraus mit ein paar Klicks genau die Funktionen zusammenstellen, die sie für ihre Prozesse brauchen. Es gibt zum Beispiel eine Variante für stationäre Arbeitsplätze, das Mitarbeiter:innen bei Montagearbeiten unterstützt. Menschen mit Lernbehinderung können damit selbstständig komplexe Arbeitsabläufe umsetzen: Das System zeigt ihnen mit Lichtprojektionen und kurzen Videos an, aus welchen Greifkästen sie Bauteile nehmen und wie sie diese zusammenbauen müssen (Anm. d. Red.: Ein solches System haben wir in diesem Beitrag mit einem Film schon einmal vorgestellt).

Welche Systeme gibt es noch, die Menschen in anderen Situationen und Branchen unterstützen können?

Ein System funktioniert zum Beispiel mobil und ist deshalb für viele verschiedene Arbeitsumgebungen geeignet. Wir nennen es ‚Assistenz für die Hosentasche‘. Es erlaubt Betreuer:innen oder Vorgesetzten, Aufgaben und Anleitungen darin zu hinterlegen, die Mitarbeiter:innen mit Behinderung dann auf ihrem Smartphone oder Tablet abrufen können. Das ist zum Beispiel im Pflegebereich sehr nützlich oder in Hotels, im Housekeeping oder im Service etwa. Die Mitarbeiter:innen können mit Hilfe der Assistenz nämlich selbst durch ihren Arbeitstag navigieren. Sie schauen nach, wann welche Aufgabe dran ist und wie sie diese erledigen müssen – zum Beispiel, wie sie in einem Hotelzimmer den Filter einer Klimaanlage wechseln sollen. Anschließend haben sie die Möglichkeit, mit einem Foto zu dokumentieren, dass sie die Aufgabe erledigt haben, und dieses ins System hochladen.

Sind Ihre Systeme nur für solche regelmäßigen Aufgaben und Arbeitsabläufe gedacht?

Nein, bei Bedarf lassen sich immer wieder neue Inhalte einspielen. Ein Garten- und Landschaftsbauunternehmen etwa nutzt unser mobiles System, um Mitarbeiter:innen dabei zu unterstützen, die Autos für tagesaktuelle Aufträge zu bestücken. Eine Verwaltungskraft hinterlegt vorher im System, wer bei welchem Job welche Tätigkeit übernehmen soll und welche Werkzeuge dafür gebraucht werden. Die Mitarbeiter:innen können bei Bedarf nachschauen, wie diese Werkzeuge aussehen und wo sie zu finden sind.

Die Systeme sind also schon in der Praxis im Einsatz und funktionieren auch gut. Wozu dann noch ein Pilotprojekt?

Um zu schauen, ob ein System wirklich in der Breite einsetzbar ist und wie das am besten klappt. Wir sind uns sicher, dass dadurch mehr Inklusion am ersten Arbeitsmarkt möglich wird, dass Assistenzsysteme außerdem eine größere Wertschöpfung und mehr sozialversicherungspflichtige Jobs schaffen könnten. Deshalb möchten wir sie für möglichst viele verschiedenen Tätigkeiten ausprobieren und dabei zugleich wissenschaftlich überprüfen, was unter welchen Umständen gut funktioniert und wo vielleicht noch etwas verbessert werden muss.

Wie bewerten Sie das?

Ein Qualitätsmerkmal wäre zum Beispiel, wenn weniger Fehler bei einem Arbeitsablauf passieren, weil ein Assistenzsystem im Einsatz ist. Wichtig sind aber auch die Erfahrungen der Mitarbeiter:innen, der Vorgesetzten und der sonstigen Beteiligten in den Unternehmen. Deshalb sprechen wir mit allen, die mit den Systemen arbeiten. Wenn Betreuer:innen während der Arbeitszeit zum Beispiel seltener Fragen beantworten müssen und sich dadurch stärker auf andere Kolleg:innen im Team konzentrieren können, wäre auch das ein Mehrwert. Anhand solcher Erfahrungen wollen wir die Systeme anschließend weiter verbessern, damit sie langfristig in immer mehr Unternehmen eingesetzt und irgendwann Standard werden.

Welche Betriebe oder Einrichtungen nehmen an dem Pilotprojekt teil und wie läuft es ab?

Für das Projekt können sich sowohl Inklusionsunternehmen bewerben als auch gewöhnliche Firmen, die neue Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung einrichten möchten und dafür schon Bewerber:innen haben. Weil die Systeme so flexibel sind, sind wir nicht auf eine bestimmte Branche festgelegt. Das Projekt an sich ist in zwei Phasen unterteilt. Im Oktober beginnen wir im ersten Schritt mit den sogenannten Potenzialanalysen, in denen wir gemeinsam mit den Unternehmen herausfinden, welche Arbeitsplätze sie mit einer digitalen Assistenz inklusiv gestalten könnten. In der zweiten Phase richten wir die Systeme in Betrieben ein und bewerten diese nach den beschriebenen Kriterien zusammen mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe und der Technischen Hochschule Lemgo – wir überprüfen also, ob sich das System in der Praxis für den jeweiligen Arbeitsplatz lohnt. In der ersten Phase sollen zehn Unternehmen teilnehmen, für die Machbarkeitsstudie in der zweiten Phase haben wir sechs Betriebe eingeplant.

Wie unterstützen Sie die Unternehmen während der zweiten Phase des Projekts, also bei der praktischen Anwendung?

Wir richten die Assistenzsysteme direkt an den jeweiligen Arbeitsplätzen ein und begleiten die Betriebe sehr eng. Das heißt, wir vom Projektteam sind immer wieder selbst vor Ort, geben Impulse und Tipps oder helfen dabei, die Systeme individuell einzurichten. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass diese Unterstützung gerade für kleine und mittlere Unternehmen sehr wichtig ist. Denn die Verantwortlichen dort befürchten oft, dass solche digitalen Systeme nur etwas für IT-Expert:innen sind. Wir möchten aber zeigen, dass sie auch ohne Vorwissen oder eine aufwändige Einarbeitung genutzt werden können. Und wir hoffen, dass wir so Firmen, die bisher noch keine Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung bei sich eingerichtet haben, dazu ermutigen können, diesen Schritt zu gehen und inklusives Arbeiten auszuprobieren. Das Projekt ist für die Unternehmen übrigens kostenlos. Sie müssen erst dann etwas zahlen, wenn sie sich dazu entscheiden, ein System nach Ende des Projekts zu behalten und im Alltag einzusetzen.


Neugierig geworden?

Kleine oder mittelständische Unternehmen können sich noch bis Ende September 2022 direkt per E-Mail beim Team von delta3 für das Pilotprojekt bewerben!






„Menschen sind taktile Wesen, Berührungen sind für uns alle wichtig“

Herr Rapp, das Internet liefert unglaublich viele digitale Informationen. Aber nicht allen Menschen sind sie zugänglich. Blinde und Menschen mit Sehbehinderung können nur einen kleinen Teil davon überhaupt aufnehmen. Welche technischen Gründe hat das?

In zwei Sätzen erklärt: Weil es zwei verschiedene Technologien gibt, mit denen Informationen dargestellt werden können, Pixel und Taxel. Und eine davon ist deutlich weiterentwickelt als die andere.

Das müssen Sie erklären.

Dazu muss ich ein wenig ausholen und ein paar Grundlagen erläutern. Nehmen wir ein einfaches Beispiel aus der Physik, das jeder kennt: Strom. Um diesen von einem Ort zum anderen zu leiten, sind elektrische Leiter nötig, die aus einem Material mit vielen freien Elektronen bestehen, meistens sind das Metalle. Dann gibt es auch noch Nichtleiter, die Strom eben nicht leiten, weil in ihnen keine freien Elektronen vorhanden sind. Außerdem haben wir die Halbleiter, die irgendwo dazwischen liegen. Sie können durch äußere physikalische Einflüsse wie Wärme oder Licht zu Leitern werden. Das ist eine wichtige Eigenschaft, die man sich in der Elektrotechnik zunutze macht. Halbleiter sind zum Beispiel die Grundlage für bestimmte Bauelemente, etwa Dioden.
Damit sind wir beim Pixel, das auch aus so einem Bauelement besteht. Ein Pixel ist ein Leuchtpunkt, mit dem zum Beispiel auf einem Computerbildschirm die Inhalte dargestellt werden. Oder auch: eine LED, kurz für „lichtemittierende Diode“, also ein kleines Bauteil, das Licht aussendet. In den letzten Jahrzehnten gab es bahnbrechendende Entwicklungen in der Halbleitertechnik, daher lassen sich solche Bauteile inzwischen sehr effizient und stark verdichtet herstellen.

Und was ist ein Taxel?

Wenn es auch Menschen mit Sehbehinderung möglich sein soll, Displays zu nutzen, ist dafür eine ganz andere Technologie nötig. Visuelle Informationen durch Licht – also die Pixel – bringen hier ja nichts, die können Menschen mit Sehbehinderung nicht aufnehmen. Also brauchen wir ein „fühlbares“ oder „taktiles“ Pixel. In der Elektrotechnik nennt sich das ein „Taxel“. Das ist eine Art winziger Elektromotor, der einen kleinen Stift anhebt oder absenkt – und dadurch entstehen fühlbare Erhebungen auf einer ansonsten glatten Fläche. Sie sind die Grundlage für Braille-Displays.

Sie brauchen aber wahrscheinlich sehr viele dieser kleinen Elektromotoren, um überhaupt ein ausreichend großes, tastbares Display bauen zu können. Wie machen Sie das?

Genau das ist die große Schwierigkeit. Es ist viel leichter, eine LED, also ein Pixel, so stark zu verkleinern, dass sehr viele davon nebeneinander platziert werden können, wie es bei einem hochauflösenden Bildschirm gemacht wird. Elektromotoren sind sehr viel komplizierter im Aufbau und damit schwieriger zu verkleinern. Ihr eigenes Mobiltelefon ist ein sehr gutes Beispiel: Was bewegt sich daran überhaupt automatisch? Eigentlich gar nichts. Die einzige mechanische Bewegung, die ein Smartphone heute ausführen kann, ist der Vibrationsalarm. Und das ist eine Technologie, die schon mehr als 20 Jahre alt ist. Genau darin liegt die Herausforderung für uns: Die Verkleinerung sich automatisch bewegender Bauteile hat in den letzten Jahrzehnten sehr viel weniger Fortschritte gemacht als die Halbleitertechnik.

Das Foto zeigt einen kleinen, durchsichtigen Plastikkasten mit kleinen Löchern an der Oberfläche, durch die sich Metallstifte nach oben schieben lassen.
In einem frühen Prototypen des Displays wurde noch dieses mechanische Bauteil verwendet. Kleine Metallstifte werden hier durch einen Motor nach oben gedrückt und sind an der Oberfläche als Erhebungen tastbar. Im späteren Display übernimmt eine Flüssigkeit die Aufgabe der mechanischen Stifte: Sie wird in winzige, senkrechte Kanäle nach oben gedrückt und hebt eine dehnbare Oberfläche an den passenden Stellen an. Diese Technik heißt „Mikrofluidik“. (Foto: Universität Freiburg)

Ein Problem ist also die veraltete Technologie, mit der Sie arbeiten müssen?

Genau, und die Kosten. Wenn Sie heute ein normales Display in 4K-Auflösung bauen wollen, also mit 4000 Pixeln in der Breite, geht das dank der Halbleitertechnologie kostengünstig und ist noch dazu hocheffizient. Ein taktiles Display dagegen hat nur einen Bruchteil der Auflösung eines Nintendo Gameboys aus den 1990er Jahren, um einen anschaulichen Vergleich aus der Welt der Spielekonsolen zu nennen. Wir greifen bei unserem Projekt also notgedrungen auf eine Technologie zurück, die mehr als 30 Jahre alt ist und sich seither kaum weiterentwickelt hat.

Wenn die Technologie so langsam fortschreitet: Warum haben Sie sich gerade die besonders schwierige Aufgabe ausgesucht, ein Braille-Display zu entwickeln?

Die Idee für das Display verfolge ich bereits seit einigen Jahren. Ich interessiere mich sehr dafür, technologische Lösungen für Probleme des Alltags zu finden und „pain points“ abzumildern, also besonders dringende, tägliche Probleme von Menschen zu lösen. Genau so ein „pain point“ ist aus meiner Sicht, dass Menschen mit Sehbehinderung bis heute keine Möglichkeit haben, digitale Informationen ebenso gut aufzunehmen wie sehende Menschen. Dabei ist das ein sehr wichtiger Bestandteil unseres Zusammenlebens im 21. Jahrhundert. Hinzu kommt, dass alle Menschen von Grund auf sehr taktile Wesen sind. Wir ertasten und erfühlen gerade ganz am Anfang unseres Lebens unsere Umwelt ja viel mehr, als dass wir sie sehen oder hören. Jeder, der Kinder hat, weiß genau, was ich meine. Dass wir heute vergleichsweise viel über das Sehen und Hören wissen und so wenig über den Tastsinn, erscheint mir völlig widersprüchlich. Ich frage mich oft: Warum nutzen wir den allerersten unserer Sinne so wenig?

Wie weit sind Sie bei Ihrer Forschung gekommen?

Es gibt einen ersten Prototypen des Braille-Displays. Die Ingenieurin Elisabeth Wilhelm hat den allerersten Entwurf in meiner Arbeitsgruppe im Rahmen ihrer Promotion entwickelt. Nun sind wir aber mit den gleichen Herausforderungen konfrontiert wie viele andere neue Entwicklungen auch: Das Problem sind nicht die Materialien oder die Grundidee, sondern, dass wahnsinnig viele verschiedene Faktoren möglichst perfekt zusammenwirken müssen. Viele gute Ansätze scheitern daher vor allem an solchen Problemen, wenn sie im großen Maßstab hergestellt werden sollen. Das ist auch bei uns so. Es war sehr mühsam und fehleranfällig, den Prototypen zu produzieren. Wir werden später ein anderes Fertigungsverfahren brauchen.

Mit wem arbeiten Sie auf diesem langen Weg zusammen? Und wie beziehen Sie Blinde und Menschen mit Sehbehinderung in die Entwicklung mit ein?

In meinem Arbeitsfeld ist es sehr wichtig, viele unterschiedliche Fachrichtungen dabei zu haben. Mein Team ist deshalb mit ungefähr 50 Leuten nicht nur recht groß, sondern auch sehr divers. Bei uns arbeiten Materialwissenschaftler:innen, Ingenieur:innen, Physiker:innen, Biolog:innen und Chemiker:innen zusammen. Etwa zehn davon beschäftigen sich mit dem taktilen Display. Dazu holen wir uns auch noch Unterstützung von außen. Wir haben zum Beispiel das Glück, dass wir schon früh im Projekt mit den Kolleg:innen am Zentrum für digitale Barrierefreiheit und Assistive Technologien (ACCESS@KIT) zusammenarbeiten durften. Das ACCESS@KIT ist eine der führenden Forschungseinrichtungen bei Technologien für Menschen mit Sehbehinderung. Jeder unserer Prototypen wird direkt von einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter mit Sehbehinderung des Zentrums getestet und bewertet. Das machen wir regelmäßig im Abstand weniger Wochen. Die Kolleg:innen dort haben uns dabei immer ein sehr direktes und konkretes Feedback gegeben. Sobald wir mit dieser Unterstützung ein stabiles Produktdesign gefunden und die passende Fertigungstechnologie entwickelt haben, werden wir größere Studienreihen anfangen. Das haben wir uns von der Ethikkommission der Universität Freiburg schon genehmigen lassen.

Ein Team aus 50 Leuten und ein komplexes Forschungsthema: Das kostet Geld. Wie finanzieren Sie Ihr Projekt?

Aktuell werden wir durch einen so genannten „Consolidator Grant“ („Grant“ = englisches Wort für „Zuschuss“, Anm. d. Red.) des European Research Council (ERC) gefördert. Das ist eines der umfangreichsten und flexibelsten wissenschaftlichen Förderprogramme in Europa. Wir haben es vor allem dieser finanziellen Unterstützung zu verdanken, dass wir wirklich messbare Fortschritte in unserem Projekt machen können.

Wann, glauben Sie, werden Sie das erste Display auf den Markt bringen? 

Wir rechnen damit, dass wir noch mindestens zwei Jahre daran forschen und es weiterentwickeln müssen. Bei den Problemen, die wir gerade in der Herstellung lösen müssen, denken wir aber schon jetzt darüber nach, wie sich der Prozess später skalieren, also auch für die Produktion größerer Stückzahlen umsetzen lässt. Nur dann wäre ja eine industrielle Herstellung des Displays möglich. Weil wir schon jetzt so darauf schauen, bin ich mir relativ sicher, dass wir schon bald einen ersten Prototypen öffentlich vorstellen können. Die erste größere Studie mit Nutzer:innen bereiten wir gerade vor. Sie wird im Jahr 2023 starten.




„Der Selbsttest gibt keine Entscheidung vor, sondern bringt Ordnung ins Chaos“ | Interview mit Veronika Chakraverty zum Online-Angebot „Sag ich’s?“, Teil 2

Frau Chakraverty, im ersten Teil unseres Interviews haben Sie uns erklärt, wie Ihr Angebot entstanden ist und wie Sie es finanzieren. Aber wie genau setzen Sie es um? Wie haben Sie zum Beispiel die vielen Fragen für den Selbsttest erarbeitet?

Wir haben zunächst Berufstätige mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen online zu ihren Erfahrungen mit der Entscheidung befragt, ihre Beeinträchtigung bei der Arbeit offenzulegen oder nicht. Das war eine wichtige Grundlage dafür, welche Schwerpunkte wir im Test setzen wollten. Für viele Befragte stand die Angst vor Diskriminierung sehr stark im Vordergrund. Mögliche positive Konsequenzen wiederum, die daraus ja auch entstehen können, gingen eher unter. In der Psychologie nennt sich das „Urteilsverzerrung“: Die meisten Menschen neigen unbewusst dazu, mögliche negative Folgen bei einer Entscheidung zu stark zu gewichten. Unsere Erkenntnisse aus der Befragung deckten sich also mit den wissenschaftlichen Theorien und Studien zum Thema.
Für uns stand daher fest: Wir wollen mit den Fragen im Selbsttest sicherstellen, dass nicht nur Bedenken und Ängste die Entscheidung beeinflussen, sondern auch positive Aspekte wie Hoffnungen oder persönliche Wertvorstellungen genug Raum bekommen. Denn es ist völlig nachvollziehbar, dass sich jemand vor Diskriminierung sehr fürchtet. Gleichzeitig kann diese Furcht aber dazu führen, dass eine Entscheidung fällt, die für einen selbst eigentlich gar nicht die beste ist.

Sie sprechen wissenschaftliche Studien an, die es zum Thema gibt. Was haben Sie damit noch herausgefunden?

Wir wollten zum Beispiel wissen, welche Faktoren sich später positiv oder negativ darauf auswirken können, ob die eigene Erkrankung offengelegt wird. Ein Beispiel ist die Frage danach, ob Menschen im allgemeinen starke negative Vorurteile gegenüber der Erkrankung oder Behinderung haben. Wenn ja, steigt tatsächlich das Risiko, diskriminiert zu werden. Ein anderes Beispiel: Wie wichtig ist es der Person, bei der Arbeit authentisch zu sein? Wenn das Bedürfnis danach sehr stark ist, kann es umgekehrt sehr belastend und stressig sein, die eigene Behinderung zu verschweigen.

Wie werden die Antworten ausgewertet?

Das ist relativ komplex, weil uns wichtig war, dass die Befragten ihre Auswertung sofort nach Ende des Selbsttests abrufen können. Die Ergebnisse sollten also nicht erst im Hintergrund von Hand ausgewertet werden müssen, denn das wäre sehr aufwändig und teuer gewesen. Die Auswertung gibt zunächst einen Überblick darüber, welche Aspekte eher für oder gegen eine Offenlegung sprechen. Jedes einzelne Thema kann dann noch einmal „aufgeklappt“ werden, um ausführlichere Informationen zu erhalten. Die Grundlage dafür sind verschiedene Textbausteine, die wir vorab entwickelt haben. Unsere Software fügt diese zusammen. Das geschieht unter anderem mit Hilfe von Durchschnittswerten über verschiedene Fragen hinweg. Je nachdem, welchen Wert jemand erreicht, wird später die dazu passende Auswertung angezeigt.

Bekomme ich in der Auswertung also eine Empfehlung „dafür“ oder „dagegen“?

Nein, die Auswertung ist bewusst keine abschließende Empfehlung. Aber sie hilft dabei, die eigene Situation besser zu verstehen und abzuwägen. Der Selbsttest bringt sozusagen Ordnung ins Chaos, indem er die Argumente für die Nutzer:innen in eine übersichtliche schriftliche Form bringt. So ein Überblick kann bereits sehr entlastend sein, weil die vielen Facetten des Themas nicht mehr alle gleichzeitig im Kopf herumschwirren und die Person vielleicht auch nicht mehr das Gefühl hat, etwas Wichtiges zu vergessen. Die Auswertung kann auch abgespeichert oder ausgedruckt werden. So kann man auch erst einmal in Ruhe drüber schlafen.

Gibt es Fragen, die wichtiger sind als andere und deshalb stärker in die Auswertung einfließen?

Die Themen im Selbsttest sind für die Befragten ja ganz unterschiedlich wichtig, deswegen gewichten wir sie alle gleich. In der Auswertung bieten wir den Nutzer:innen aber die Möglichkeit, selbst festzulegen, welche Aspekte stärker beachtet werden sollen und welche für sie persönlich nicht so entscheidend sind. Außerdem treffen ja nicht alle Menschen auf die gleiche Weise ihre Entscheidungen. Manche sind beispielsweise eher der Typ für Pro-und-Kontra-Listen, andere entscheiden lieber aus dem Bauch heraus. Beides hat seine Berechtigung. Wir geben auf der Website ein paar Tipps dazu, wie diese nächsten Schritte passend zum persönlichen „Entscheidungsstil“ aussehen können.

Und was geschieht, wenn ich mich entschieden habe?

Wenn eine Entscheidung gefallen ist, bieten wir auch hierfür weitere Informationen, die helfen können. Zum Beispiel dazu, wie man sich auf schwierige Gespräche vorbereitet oder sich einen guten Plan machen kann, wenn das Gefühl entstanden ist, dass man das nicht alles auf einmal schafft. Wir ermutigen die Nutzer:innen der Webseite außerdem an verschiedenen Stellen immer wieder, sich persönlich beraten und unterstützen zu lassen. Eine Online-Hilfe wie unsere ist sehr gut für eine erste Orientierung, sie kann aber ein persönliches Gespräch nicht ersetzen.

Sie und Ihre Kolleginnen haben den Selbsttest kürzlich mit einer digitalen Veranstaltung etwa 30 Interessierten vorgestellt. Welche Rückmeldungen kamen von den Teilnehmer:innen – und welche waren für Sie besonders wertvoll?

Es gab viel Lob und auch viele gute Hinweise, wie wir unser Angebot weiterentwickeln können. Einer davon war, dass wir im Social-Media-Bereich noch nicht gut aufgestellt sind. Das heißt: Eigentlich noch gar nicht. Es wurde aber gewünscht, dass wir künftig Beiträge in sozialen Medien zum Thema verfassen sollen, die dann geteilt werden können. Das greifen wir gerne auf.
Ein weiteres Thema war, dass Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen oft schon in der Bewerbungsphase für einen Arbeitsplatz vor der Frage stehen, ob und wie sie ihre Beeinträchtigung ansprechen sollen. Der Wunsch im Plenum war, auch diese Zielgruppe auf der Website künftig zu berücksichtigen. Und einige meldeten uns zurück, dass unser Angebot noch sprachliche Hindernisse enthält, zum Beispiel für Menschen, die gar nicht oder nicht gut Deutsch lesen oder verstehen können. Jugendliche sind sowieso eine ganz andere Art der Ansprache gewöhnt, für sie passt der derzeitige Stil also auch nicht so ganz.

Das bedeutet, dass Sie Ihr Angebot umfangreich weiterentwickeln müssten, um die Bedürfnisse der vielen verschiedenen Zielgruppen noch besser zu erfüllen. Ist das mit der derzeitigen Finanzierung des Projektes abgedeckt?

In dieser Form und in diesem Umfang noch nicht, nein. Die technische Betreuung der Website und des Selbsttests ist bis 2024 gesichert. Kleinere inhaltliche Anpassungen können wir aus Mitteln unseres Lehrstuhls finanzieren. Weiterentwicklungen sind im bisherigen Budget nicht vorgesehen. Wir finden die Anregungen aber sehr gut, deshalb haben wir ja auch zum Gespräch eingeladen. Einiges davon hatten wir vorher schon intern diskutiert. Wir suchen zum Beispiel seit einer Weile nach Finanzierungsquellen, um die Software technisch anpassen zu können, damit wir verschiedene Versionen sowohl der Webseite als auch des Selbsttests anbieten können. Darüber hinaus benötigen wir aber noch weitere Mittel für Übersetzungen, etwa in Leichte Sprache, und für inhaltliche Anpassungen des Selbsttests für die von den Gästen angesprochenen neuen Zielgruppen. Da liegt also noch einiges vor uns. Aber wir sind guter Dinge und hoffen, dass sich unser Angebot weiter herumsprechen wird. Vielleicht ergeben sich dadurch in Zukunft die finanziellen Möglichkeiten, unsere Angebote weiterzuentwickeln und so noch inklusiver zu gestalten. –


Teil 1 des Interviews verpasst?

Hier geht es zum ersten Teil, in dem Veronika Chakraverty das Projekt als solches vorstellt und erklärt, an wen sich das Angebot richtet und wie es finanziert wird.





„Ein persönliches Beratungsgespräch ist für viele ein Hindernis“: Interview mit Veronika Chakraverty zum Online-Angebot „Sag ich’s?“, Teil 1

Frau Chakraverty, wie entstand die Idee für das Projekt?

Wir alle im Team haben das Thema schon sehr lange auf dem Schirm, aus wissenschaftlicher genauso wie aus persönlicher Sicht. Einige von uns standen zum Beispiel selbst schon vor der Frage, wie offen man mit einer Erkrankung am Arbeitsplatz umgehen möchte. Das Thema begegnete uns auch in Projekten und in der Lehre immer wieder. Von einem späteren Kooperationspartner des Projekts kam schließlich Impuls, eine Online-Entscheidungshilfe zu entwickeln und am besten kostenfrei anzubieten. Bis die Webseite sag-ichs.de daraus entstanden war, sind noch einmal rund sechs Jahre vergangen.

Für wen haben Sie Ihr Angebot entwickelt?

Wir richten uns vor allem an Berufstätige mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen, die noch nicht wissen, ob und wie sie darüber mit Kolleg:innen oder Vorgesetzen sprechen möchten. Viele Erkrankungen oder Behinderungen sind ja auf den ersten Blick nicht zu sehen. Wenn am Arbeitsplatz niemand davon weiß außer einem selbst, kann das zu schwierigen Situationen führen. Beispielsweise, wenn Arbeitsaufgaben nicht oder nicht mehr so gut erledigt werden können, man häufiger fehlt oder während der Arbeitszeit oft Termine mit Ärzt:innen oder Therapeut:innen hat. Davon abgesehen fühlt es sich für viele aber auch einfach nicht gut an, diesen Teil des eigenen Lebens zu verbergen. Das kostet oft viel Kraft. Und wenn der Leidensdruck größer wird, überlegen viele irgendwann, ob sie es nicht doch offen ansprechen sollten. Aber das ist einfacher gesagt als getan.

Was macht die Entscheidung so schwierig?

Niemand kann in die Zukunft schauen, deshalb ist es gar nicht so einfach, herauszufinden, mit welcher Entscheidung jemand langfristig zufriedener sein wird. Viele verspüren zwar den Wunsch oder auch den Druck, über die Beeinträchtigung offen zu sprechen – aber zugleich ist da auch immer die Befürchtung, diskriminiert zu werden oder plötzlich Nachteile in der beruflichen Entwicklung zu erfahren. Und was am Ende eintreten wird, weiß ja niemand.

Es gibt bereits Anlaufstellen und Angebote für Menschen, die sich Unterstützung holen möchten. Zum Beispiel helfen betriebsärztliche Dienste, Schwerbehindertenvertretungen, Inklusionsämter oder Inklusionsfachdienste weiter. Wie unterscheidet sich der Selbsttest von diesen Angeboten?

Die Anlaufstellen, die Sie genannt haben, haben meist viel Erfahrung mit der Beratung und Unterstützung von Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen, das sind also gute und wichtige Angebote. Sie alle setzen aber in der Regel ein persönliches Gespräch voraus – für viele ist das schon ein erstes Hindernis. Wer lieber (noch) keine persönliche Beratung möchte, kann sich auf unserer Website erst einmal in Ruhe informieren, sich über den Selbsttest allein mit dem Thema auseinandersetzen und sich einer Entscheidung langsam annähern. Ein Online-Angebot kann natürlich nie das direkte Gespräch ersetzen, deshalb beschreiben wir auf sag-ichs.de auch sehr ausführlich, welche Anlaufstellen zu welchen Themen beraten und welche davon beispielsweise an eine Schweigepflicht gebunden sind. Unsere Hoffnung ist, dass so die Hemmschwelle sinkt und die Eine oder der Andere vielleicht doch den Schritt geht, eine persönliche Beratung in Anspruch zu nehmen.

Woher wissen Sie, ob Ihr Test tatsächlich die „echten“ Fragen, Bedürfnisse und Herausforderungen von Menschen mit Behinderung und chronischen Erkrankungen abbildet?

Weil wir unser Projekt von Anfang so aufgebaut haben, dass wir das sicherstellen konnten. In den entscheidenden Projektphasen saßen zum Beispiel immer Expert:innen in eigener Sache mit am Tisch, also Berufstätige mit verschiedenen chronischen Erkrankungen und Behinderungen. Mit diesem Gremium haben wir immer wieder kritische Fragen rund um die Entwicklung der Website und des Selbsttests besprochen. Es ging beispielsweise um eine passende Bezeichnung für das Thema insgesamt, um den Tonfall, die Art der Sprache in den Texten, ob alle wichtigen Themen im Selbsttest abgefragt wurden und ob die Nutzer:innenführung verständlich ist. Außerdem leben ja auch manche unserer Teammitglieder selbst mit einer chronischen Erkrankung oder Schwerbehinderung.

Welche fachlichen Impulse gab es von außen und wie sind sie in das Projekt eingeflossen?

In den verschiedenen Phasen waren Psychologinnen, eine Kommunikationsdesignerin, eine Rehabilitationswissenschaftlerin und eine Soziologin mit dabei, außerdem hat ein Jurist geholfen, ein User Experience Designer (auf Deutsch: Nutzererlebnis-Gestalter), ein IT-Experte und eine Motion-Designerin (auf Deutsch: Bewegtbild-Gestalterin) dabei. Auch unsere Projektpartner:innen und ein Beirat haben uns beraten und unterstützt, also immer wieder den „Blick von außen“ auf das Projekt geworfen – beispielsweise Krankenkassen, andere Wissenschaftler:innen oder Expert:innen für Datensicherheit.

Der Selbsttest, den Sie anbieten, ist kostenlos. Wie finanzieren Sie das?

Die Kosten für die Entwicklung der Webseite haben wir zur Hälfte aus Mitteln des Ausgleichsfonds des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) gedeckt. Die andere Hälfte hat unser Kooperationspartner AbbVie finanziert. Aus diesem Budget können wir das Angebot technisch noch für drei Jahre weiterbetreuen – also noch bis März 2024. Inhaltliche Anpassungen finanzieren wir im Moment aus den Mitteln des Lehrstuhls. Übrigens hatten weder das BMAS noch Abbvie Einfluss auf die Inhalte der Webseite, die Finanzierung läuft also klar getrennt von unserer inhaltlichen Arbeit im Projektteam. –

Im zweiten Teil des Interviews erklärt Veronika Chakraverty, wie der Selbsttest genau funktioniert, was er leisten kann und was nicht.


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