Exoskelette einfach erklärt: Körperliche Unterstützung bei der Arbeit und im Alltag (mit Video)

Herr Daub, der Begriff „Exoskelett“ klingt für Laien etwas technisch. Was steckt dahinter?

Ein Exoskelett ist ein Assistenzsystem, das direkt am Körper getragen wird. Es entlastet den Bewegungsapparat durch eine zusätzliche Kraftunterstützung. Unsere Muskeln und Gelenke sind auf dynamische Bewegungen ausgelegt, beispielsweise aufs Laufen. Wenn jemand aber immer wieder schwere Lasten heben oder den Bewegungsapparat lange in einer fast unbewegten Stellung halten muss, können die Muskeln schnell erschöpfen. Das kann ein Risiko für Verletzungen sein. Dem wirken Exoskelette entgegen.

Wo kommt diese Kraftunterstützung denn her? Werden Exoskelette mit einem Motor betrieben?

Mal ja, mal nein, es gibt passive und aktive Systeme. Die am weitesten verbreiteten industriellen Exoskelette arbeiten passiv. Sie haben Federn oder Expander, die unter mechanischer Spannung stehen und bei bestimmten Körperhaltungen ihre Energie wieder freisetzen. Dadurch geben sie bei bestimmten Bewegungen automatisch Kraft hinzu, die sonst die Muskeln im Körper allein aufbringen müssten. Bestimmte Körperbereiche werden so gezielt unterstützt und entlastet. Es gibt in dieser Kategorie noch weitere Unterschiede, manche Systeme haben etwa harte Schalen, manche bestehen fast nur aus elastischen Bändern und Bandagen. Letztere sind die so genannten soften Exoskelette oder – das ist der internationale Begriff – „Exosuits“. Es gibt aber immer häufiger auch aktive Systeme, die elektrisch betrieben sind.  

Wann ist welches System sinnvoll?

Das kommt darauf an. Wenn technische Maßnahmen oder eine Veränderung der Arbeitsabläufe nicht mehr ausreichen, um eine Person am Arbeitsplatz ausreichend zu entlasten, können Exoskelette eine gute zusätzliche Möglichkeit sein, egal, ob aktiv oder passiv. Aktive Exoskelette können aber vor allem dann sehr sinnvoll sein, wenn ein höherer Kraftaufwand bei einer Arbeit anfällt oder die benötigte Unterstützung individuell unterschiedlich ist. Das Exoskelett lässt sich nämlich viel genauer auf die Bedürfnisse der Person oder eine bestimmte Tätigkeit einstellen. Wenn etwa Gewichte stark variieren, also beispielsweise Pakete zwischen zwei und 25 Kilogramm bewegt werden müssen, kann die Unterstützung bei aktiven Systemen daraufhin angepasst werden. Mit solchen Anforderungen beschäftigt sich übrigens auch ein Teil unserer Forschung sehr intensiv.

Sie sagen, dass mit den Exoskeletten immer bestimmte Körperbereiche unterstützt werden. Es gibt also unterschiedliche Varianten, je nachdem, ob jemand zum Beispiel eher mit den Armen oder eher aus den Beinen arbeitet?

Ja, wobei die meisten Exoskelette darauf ausgelegt sind, den Oberkörper gerade und aufrecht zu halten – das sind die „Rückenexos“ – oder den Armen bei Überkopftätigkeiten die Last abzunehmen, das sind die „Schulterexos“. Es gibt darüber hinaus auch noch Systeme für den Nacken, den Daumen oder die Handkraft.

Bei welchen Arbeiten unterstützen die Rücken- und Schultersysteme?

Die Systeme für den Rücken werden dann eingesetzt, wenn schwere Bauteile oder Behälter angehoben oder abgelegt werden müssen, oder wenn jemand über längere Zeit in einer nach vorne geneigten Haltung arbeiten muss. Ein typisches Anwendungsfeld für Rückenexos ist zum Beispiel die Logistik, wie schon bei den aktiven Systemen erklärt: Dort müssen Menschen oft und häufig schwere Pakete heben und tragen. Die Schulter-Exoskelette helfen wiederum bei Tätigkeiten, bei denen die Arme lange oben gehalten werden, zum Beispiel bei Montage- oder Schweißarbeiten (→ siehe Video).

Wann gilt ein Exoskelett als „gelungen“, was muss es dafür alles erfüllen?

 Die Anwender:innen würden sagen: Das Exoskelett sollte am besten so gut wie gar nichts wiegen, beim Tragen nicht zu spüren sein, nicht einschränken und trotzdem möglichst stark unterstützen. Das klingt nach der sprichwörtlichen „eierlegenden Wollmilchsau“, die erst noch erfunden werden muss. So perfekt lässt sich das aus technischen Gründen natürlich nicht umsetzen – ein paar Kompromisse sind also immer nötig. Deshalb gibt es auf dem Markt derzeit auch mehr als 100 verschiedene Exoskelette zu kaufen: Keines ist rundum perfekt, jedes Einzelne löst aber für bestimmte Anwender:innen ganz konkrete Probleme und Anwendungsfälle sehr gut. Das bedeutet wiederum, dass jeweils das am besten geeignete Exoskelett gefunden werden muss.

Es gibt Exoskelette also schon in vielen verschiedenen Versionen und für fast jeden Anwendungsfall. Könnten sie dann nicht auch für Menschen interessant sein, bei denen es weniger um ein Verhindern von Verletzungen geht, sondern für die die unterstützende Funktion im Vordergrund steht – sprich, für Menschen mit einer körperlichen Behinderung?

Das ist ein sehr guter Gedanke. Exoskelette könnten tatsächlich Menschen mit Behinderungen im Berufsleben unterstützen, manchmal vielleicht sogar überhaupt erst eine Teilhabe ermöglichen. Auch die Exoskelett-Hersteller haben das erkannt, also dass in den Systemen noch eine ganz andere Chance abseits der industriellen Anwendung liegt. Menschen mit erworbenen oder angeborenen körperlichen Einschränkungen könnten davon nach meiner Einschätzung künftig sicher sehr profitieren – und so zum Teil entweder überhaupt wieder arbeiten können oder aber leichter.

Kennen Sie ein Beispiel, in dem das schon der Fall ist?

Ja, auf der Rehacare-Messe hatten wir in unserem Symposium „Technische Assistenz und berufliche Rehabilitation“ einen Vortrag, in dem es um einen Museumsmitarbeiter ging, der eine neurologische Erkrankung hat. Sein Beruf ist es, Scheren auf traditionelle Weise zu fertigen. Im Museumsbetrieb sind die Maschinen, die dafür verwendet werden, denkmalgeschützt. Technische Anpassungen daran, um ihm die Arbeit zu erleichtern, sind also ausgeschlossen. Seit über einem Jahr nutzt er bei seiner Arbeit nun ein Exoskelett, das seine Hand unterstützt und ihm so dabei hilft, die neurologisch bedingt fehlende Kraft auszugleichen. Laut seiner Aussage kann er seine Tätigkeit dadurch besser, länger und vor allem schmerzfrei ausführen. Dem Museum bleibt damit ein wertvoller Mitarbeiter erhalten – und er selbst kann seinen Job weiterhin ausführen. —


Tipp

Vergangenes Jahr haben wir für unseren Blog bereits mit Hans-Jürgen Schrage gesprochen, dem Scherenmonteur, um den es auch auf dem RehaCare-Symposium ging. Hier geht es zum Interview!






OmniAssist: Ein Pilotprojekt für mehr Inklusion durch digitale Assistenzsysteme

Herr Kuhn, Sie und Ihr Team haben verschiedene Assistenzsysteme entwickelt, die im Projekt OmniAssist ausprobiert werden sollen. Welche sind das und wie funktionieren sie?

Wir haben eine Art Baukasten aus verschiedenen Systemen zusammengestellt. Unternehmen und Organisationen können sich daraus mit ein paar Klicks genau die Funktionen zusammenstellen, die sie für ihre Prozesse brauchen. Es gibt zum Beispiel eine Variante für stationäre Arbeitsplätze, das Mitarbeiter:innen bei Montagearbeiten unterstützt. Menschen mit Lernbehinderung können damit selbstständig komplexe Arbeitsabläufe umsetzen: Das System zeigt ihnen mit Lichtprojektionen und kurzen Videos an, aus welchen Greifkästen sie Bauteile nehmen und wie sie diese zusammenbauen müssen (Anm. d. Red.: Ein solches System haben wir in diesem Beitrag mit einem Film schon einmal vorgestellt).

Welche Systeme gibt es noch, die Menschen in anderen Situationen und Branchen unterstützen können?

Ein System funktioniert zum Beispiel mobil und ist deshalb für viele verschiedene Arbeitsumgebungen geeignet. Wir nennen es ‚Assistenz für die Hosentasche‘. Es erlaubt Betreuer:innen oder Vorgesetzten, Aufgaben und Anleitungen darin zu hinterlegen, die Mitarbeiter:innen mit Behinderung dann auf ihrem Smartphone oder Tablet abrufen können. Das ist zum Beispiel im Pflegebereich sehr nützlich oder in Hotels, im Housekeeping oder im Service etwa. Die Mitarbeiter:innen können mit Hilfe der Assistenz nämlich selbst durch ihren Arbeitstag navigieren. Sie schauen nach, wann welche Aufgabe dran ist und wie sie diese erledigen müssen – zum Beispiel, wie sie in einem Hotelzimmer den Filter einer Klimaanlage wechseln sollen. Anschließend haben sie die Möglichkeit, mit einem Foto zu dokumentieren, dass sie die Aufgabe erledigt haben, und dieses ins System hochladen.

Sind Ihre Systeme nur für solche regelmäßigen Aufgaben und Arbeitsabläufe gedacht?

Nein, bei Bedarf lassen sich immer wieder neue Inhalte einspielen. Ein Garten- und Landschaftsbauunternehmen etwa nutzt unser mobiles System, um Mitarbeiter:innen dabei zu unterstützen, die Autos für tagesaktuelle Aufträge zu bestücken. Eine Verwaltungskraft hinterlegt vorher im System, wer bei welchem Job welche Tätigkeit übernehmen soll und welche Werkzeuge dafür gebraucht werden. Die Mitarbeiter:innen können bei Bedarf nachschauen, wie diese Werkzeuge aussehen und wo sie zu finden sind.

Die Systeme sind also schon in der Praxis im Einsatz und funktionieren auch gut. Wozu dann noch ein Pilotprojekt?

Um zu schauen, ob ein System wirklich in der Breite einsetzbar ist und wie das am besten klappt. Wir sind uns sicher, dass dadurch mehr Inklusion am ersten Arbeitsmarkt möglich wird, dass Assistenzsysteme außerdem eine größere Wertschöpfung und mehr sozialversicherungspflichtige Jobs schaffen könnten. Deshalb möchten wir sie für möglichst viele verschiedenen Tätigkeiten ausprobieren und dabei zugleich wissenschaftlich überprüfen, was unter welchen Umständen gut funktioniert und wo vielleicht noch etwas verbessert werden muss.

Wie bewerten Sie das?

Ein Qualitätsmerkmal wäre zum Beispiel, wenn weniger Fehler bei einem Arbeitsablauf passieren, weil ein Assistenzsystem im Einsatz ist. Wichtig sind aber auch die Erfahrungen der Mitarbeiter:innen, der Vorgesetzten und der sonstigen Beteiligten in den Unternehmen. Deshalb sprechen wir mit allen, die mit den Systemen arbeiten. Wenn Betreuer:innen während der Arbeitszeit zum Beispiel seltener Fragen beantworten müssen und sich dadurch stärker auf andere Kolleg:innen im Team konzentrieren können, wäre auch das ein Mehrwert. Anhand solcher Erfahrungen wollen wir die Systeme anschließend weiter verbessern, damit sie langfristig in immer mehr Unternehmen eingesetzt und irgendwann Standard werden.

Welche Betriebe oder Einrichtungen nehmen an dem Pilotprojekt teil und wie läuft es ab?

Für das Projekt können sich sowohl Inklusionsunternehmen bewerben als auch gewöhnliche Firmen, die neue Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung einrichten möchten und dafür schon Bewerber:innen haben. Weil die Systeme so flexibel sind, sind wir nicht auf eine bestimmte Branche festgelegt. Das Projekt an sich ist in zwei Phasen unterteilt. Im Oktober beginnen wir im ersten Schritt mit den sogenannten Potenzialanalysen, in denen wir gemeinsam mit den Unternehmen herausfinden, welche Arbeitsplätze sie mit einer digitalen Assistenz inklusiv gestalten könnten. In der zweiten Phase richten wir die Systeme in Betrieben ein und bewerten diese nach den beschriebenen Kriterien zusammen mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe und der Technischen Hochschule Lemgo – wir überprüfen also, ob sich das System in der Praxis für den jeweiligen Arbeitsplatz lohnt. In der ersten Phase sollen zehn Unternehmen teilnehmen, für die Machbarkeitsstudie in der zweiten Phase haben wir sechs Betriebe eingeplant.

Wie unterstützen Sie die Unternehmen während der zweiten Phase des Projekts, also bei der praktischen Anwendung?

Wir richten die Assistenzsysteme direkt an den jeweiligen Arbeitsplätzen ein und begleiten die Betriebe sehr eng. Das heißt, wir vom Projektteam sind immer wieder selbst vor Ort, geben Impulse und Tipps oder helfen dabei, die Systeme individuell einzurichten. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass diese Unterstützung gerade für kleine und mittlere Unternehmen sehr wichtig ist. Denn die Verantwortlichen dort befürchten oft, dass solche digitalen Systeme nur etwas für IT-Expert:innen sind. Wir möchten aber zeigen, dass sie auch ohne Vorwissen oder eine aufwändige Einarbeitung genutzt werden können. Und wir hoffen, dass wir so Firmen, die bisher noch keine Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung bei sich eingerichtet haben, dazu ermutigen können, diesen Schritt zu gehen und inklusives Arbeiten auszuprobieren. Das Projekt ist für die Unternehmen übrigens kostenlos. Sie müssen erst dann etwas zahlen, wenn sie sich dazu entscheiden, ein System nach Ende des Projekts zu behalten und im Alltag einzusetzen.


Neugierig geworden?

Kleine oder mittelständische Unternehmen können sich noch bis Ende September 2022 direkt per E-Mail beim Team von delta3 für das Pilotprojekt bewerben!






„Menschen sind taktile Wesen, Berührungen sind für uns alle wichtig“

Herr Rapp, das Internet liefert unglaublich viele digitale Informationen. Aber nicht allen Menschen sind sie zugänglich. Blinde und Menschen mit Sehbehinderung können nur einen kleinen Teil davon überhaupt aufnehmen. Welche technischen Gründe hat das?

In zwei Sätzen erklärt: Weil es zwei verschiedene Technologien gibt, mit denen Informationen dargestellt werden können, Pixel und Taxel. Und eine davon ist deutlich weiterentwickelt als die andere.

Das müssen Sie erklären.

Dazu muss ich ein wenig ausholen und ein paar Grundlagen erläutern. Nehmen wir ein einfaches Beispiel aus der Physik, das jeder kennt: Strom. Um diesen von einem Ort zum anderen zu leiten, sind elektrische Leiter nötig, die aus einem Material mit vielen freien Elektronen bestehen, meistens sind das Metalle. Dann gibt es auch noch Nichtleiter, die Strom eben nicht leiten, weil in ihnen keine freien Elektronen vorhanden sind. Außerdem haben wir die Halbleiter, die irgendwo dazwischen liegen. Sie können durch äußere physikalische Einflüsse wie Wärme oder Licht zu Leitern werden. Das ist eine wichtige Eigenschaft, die man sich in der Elektrotechnik zunutze macht. Halbleiter sind zum Beispiel die Grundlage für bestimmte Bauelemente, etwa Dioden.
Damit sind wir beim Pixel, das auch aus so einem Bauelement besteht. Ein Pixel ist ein Leuchtpunkt, mit dem zum Beispiel auf einem Computerbildschirm die Inhalte dargestellt werden. Oder auch: eine LED, kurz für „lichtemittierende Diode“, also ein kleines Bauteil, das Licht aussendet. In den letzten Jahrzehnten gab es bahnbrechendende Entwicklungen in der Halbleitertechnik, daher lassen sich solche Bauteile inzwischen sehr effizient und stark verdichtet herstellen.

Und was ist ein Taxel?

Wenn es auch Menschen mit Sehbehinderung möglich sein soll, Displays zu nutzen, ist dafür eine ganz andere Technologie nötig. Visuelle Informationen durch Licht – also die Pixel – bringen hier ja nichts, die können Menschen mit Sehbehinderung nicht aufnehmen. Also brauchen wir ein „fühlbares“ oder „taktiles“ Pixel. In der Elektrotechnik nennt sich das ein „Taxel“. Das ist eine Art winziger Elektromotor, der einen kleinen Stift anhebt oder absenkt – und dadurch entstehen fühlbare Erhebungen auf einer ansonsten glatten Fläche. Sie sind die Grundlage für Braille-Displays.

Sie brauchen aber wahrscheinlich sehr viele dieser kleinen Elektromotoren, um überhaupt ein ausreichend großes, tastbares Display bauen zu können. Wie machen Sie das?

Genau das ist die große Schwierigkeit. Es ist viel leichter, eine LED, also ein Pixel, so stark zu verkleinern, dass sehr viele davon nebeneinander platziert werden können, wie es bei einem hochauflösenden Bildschirm gemacht wird. Elektromotoren sind sehr viel komplizierter im Aufbau und damit schwieriger zu verkleinern. Ihr eigenes Mobiltelefon ist ein sehr gutes Beispiel: Was bewegt sich daran überhaupt automatisch? Eigentlich gar nichts. Die einzige mechanische Bewegung, die ein Smartphone heute ausführen kann, ist der Vibrationsalarm. Und das ist eine Technologie, die schon mehr als 20 Jahre alt ist. Genau darin liegt die Herausforderung für uns: Die Verkleinerung sich automatisch bewegender Bauteile hat in den letzten Jahrzehnten sehr viel weniger Fortschritte gemacht als die Halbleitertechnik.

Das Foto zeigt einen kleinen, durchsichtigen Plastikkasten mit kleinen Löchern an der Oberfläche, durch die sich Metallstifte nach oben schieben lassen.
In einem frühen Prototypen des Displays wurde noch dieses mechanische Bauteil verwendet. Kleine Metallstifte werden hier durch einen Motor nach oben gedrückt und sind an der Oberfläche als Erhebungen tastbar. Im späteren Display übernimmt eine Flüssigkeit die Aufgabe der mechanischen Stifte: Sie wird in winzige, senkrechte Kanäle nach oben gedrückt und hebt eine dehnbare Oberfläche an den passenden Stellen an. Diese Technik heißt „Mikrofluidik“. (Foto: Universität Freiburg)

Ein Problem ist also die veraltete Technologie, mit der Sie arbeiten müssen?

Genau, und die Kosten. Wenn Sie heute ein normales Display in 4K-Auflösung bauen wollen, also mit 4000 Pixeln in der Breite, geht das dank der Halbleitertechnologie kostengünstig und ist noch dazu hocheffizient. Ein taktiles Display dagegen hat nur einen Bruchteil der Auflösung eines Nintendo Gameboys aus den 1990er Jahren, um einen anschaulichen Vergleich aus der Welt der Spielekonsolen zu nennen. Wir greifen bei unserem Projekt also notgedrungen auf eine Technologie zurück, die mehr als 30 Jahre alt ist und sich seither kaum weiterentwickelt hat.

Wenn die Technologie so langsam fortschreitet: Warum haben Sie sich gerade die besonders schwierige Aufgabe ausgesucht, ein Braille-Display zu entwickeln?

Die Idee für das Display verfolge ich bereits seit einigen Jahren. Ich interessiere mich sehr dafür, technologische Lösungen für Probleme des Alltags zu finden und „pain points“ abzumildern, also besonders dringende, tägliche Probleme von Menschen zu lösen. Genau so ein „pain point“ ist aus meiner Sicht, dass Menschen mit Sehbehinderung bis heute keine Möglichkeit haben, digitale Informationen ebenso gut aufzunehmen wie sehende Menschen. Dabei ist das ein sehr wichtiger Bestandteil unseres Zusammenlebens im 21. Jahrhundert. Hinzu kommt, dass alle Menschen von Grund auf sehr taktile Wesen sind. Wir ertasten und erfühlen gerade ganz am Anfang unseres Lebens unsere Umwelt ja viel mehr, als dass wir sie sehen oder hören. Jeder, der Kinder hat, weiß genau, was ich meine. Dass wir heute vergleichsweise viel über das Sehen und Hören wissen und so wenig über den Tastsinn, erscheint mir völlig widersprüchlich. Ich frage mich oft: Warum nutzen wir den allerersten unserer Sinne so wenig?

Wie weit sind Sie bei Ihrer Forschung gekommen?

Es gibt einen ersten Prototypen des Braille-Displays. Die Ingenieurin Elisabeth Wilhelm hat den allerersten Entwurf in meiner Arbeitsgruppe im Rahmen ihrer Promotion entwickelt. Nun sind wir aber mit den gleichen Herausforderungen konfrontiert wie viele andere neue Entwicklungen auch: Das Problem sind nicht die Materialien oder die Grundidee, sondern, dass wahnsinnig viele verschiedene Faktoren möglichst perfekt zusammenwirken müssen. Viele gute Ansätze scheitern daher vor allem an solchen Problemen, wenn sie im großen Maßstab hergestellt werden sollen. Das ist auch bei uns so. Es war sehr mühsam und fehleranfällig, den Prototypen zu produzieren. Wir werden später ein anderes Fertigungsverfahren brauchen.

Mit wem arbeiten Sie auf diesem langen Weg zusammen? Und wie beziehen Sie Blinde und Menschen mit Sehbehinderung in die Entwicklung mit ein?

In meinem Arbeitsfeld ist es sehr wichtig, viele unterschiedliche Fachrichtungen dabei zu haben. Mein Team ist deshalb mit ungefähr 50 Leuten nicht nur recht groß, sondern auch sehr divers. Bei uns arbeiten Materialwissenschaftler:innen, Ingenieur:innen, Physiker:innen, Biolog:innen und Chemiker:innen zusammen. Etwa zehn davon beschäftigen sich mit dem taktilen Display. Dazu holen wir uns auch noch Unterstützung von außen. Wir haben zum Beispiel das Glück, dass wir schon früh im Projekt mit den Kolleg:innen am Zentrum für digitale Barrierefreiheit und Assistive Technologien (ACCESS@KIT) zusammenarbeiten durften. Das ACCESS@KIT ist eine der führenden Forschungseinrichtungen bei Technologien für Menschen mit Sehbehinderung. Jeder unserer Prototypen wird direkt von einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter mit Sehbehinderung des Zentrums getestet und bewertet. Das machen wir regelmäßig im Abstand weniger Wochen. Die Kolleg:innen dort haben uns dabei immer ein sehr direktes und konkretes Feedback gegeben. Sobald wir mit dieser Unterstützung ein stabiles Produktdesign gefunden und die passende Fertigungstechnologie entwickelt haben, werden wir größere Studienreihen anfangen. Das haben wir uns von der Ethikkommission der Universität Freiburg schon genehmigen lassen.

Ein Team aus 50 Leuten und ein komplexes Forschungsthema: Das kostet Geld. Wie finanzieren Sie Ihr Projekt?

Aktuell werden wir durch einen so genannten „Consolidator Grant“ („Grant“ = englisches Wort für „Zuschuss“, Anm. d. Red.) des European Research Council (ERC) gefördert. Das ist eines der umfangreichsten und flexibelsten wissenschaftlichen Förderprogramme in Europa. Wir haben es vor allem dieser finanziellen Unterstützung zu verdanken, dass wir wirklich messbare Fortschritte in unserem Projekt machen können.

Wann, glauben Sie, werden Sie das erste Display auf den Markt bringen? 

Wir rechnen damit, dass wir noch mindestens zwei Jahre daran forschen und es weiterentwickeln müssen. Bei den Problemen, die wir gerade in der Herstellung lösen müssen, denken wir aber schon jetzt darüber nach, wie sich der Prozess später skalieren, also auch für die Produktion größerer Stückzahlen umsetzen lässt. Nur dann wäre ja eine industrielle Herstellung des Displays möglich. Weil wir schon jetzt so darauf schauen, bin ich mir relativ sicher, dass wir schon bald einen ersten Prototypen öffentlich vorstellen können. Die erste größere Studie mit Nutzer:innen bereiten wir gerade vor. Sie wird im Jahr 2023 starten.




„Der Selbsttest gibt keine Entscheidung vor, sondern bringt Ordnung ins Chaos“ | Interview mit Veronika Chakraverty zum Online-Angebot „Sag ich’s?“, Teil 2

Frau Chakraverty, im ersten Teil unseres Interviews haben Sie uns erklärt, wie Ihr Angebot entstanden ist und wie Sie es finanzieren. Aber wie genau setzen Sie es um? Wie haben Sie zum Beispiel die vielen Fragen für den Selbsttest erarbeitet?

Wir haben zunächst Berufstätige mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen online zu ihren Erfahrungen mit der Entscheidung befragt, ihre Beeinträchtigung bei der Arbeit offenzulegen oder nicht. Das war eine wichtige Grundlage dafür, welche Schwerpunkte wir im Test setzen wollten. Für viele Befragte stand die Angst vor Diskriminierung sehr stark im Vordergrund. Mögliche positive Konsequenzen wiederum, die daraus ja auch entstehen können, gingen eher unter. In der Psychologie nennt sich das „Urteilsverzerrung“: Die meisten Menschen neigen unbewusst dazu, mögliche negative Folgen bei einer Entscheidung zu stark zu gewichten. Unsere Erkenntnisse aus der Befragung deckten sich also mit den wissenschaftlichen Theorien und Studien zum Thema.
Für uns stand daher fest: Wir wollen mit den Fragen im Selbsttest sicherstellen, dass nicht nur Bedenken und Ängste die Entscheidung beeinflussen, sondern auch positive Aspekte wie Hoffnungen oder persönliche Wertvorstellungen genug Raum bekommen. Denn es ist völlig nachvollziehbar, dass sich jemand vor Diskriminierung sehr fürchtet. Gleichzeitig kann diese Furcht aber dazu führen, dass eine Entscheidung fällt, die für einen selbst eigentlich gar nicht die beste ist.

Sie sprechen wissenschaftliche Studien an, die es zum Thema gibt. Was haben Sie damit noch herausgefunden?

Wir wollten zum Beispiel wissen, welche Faktoren sich später positiv oder negativ darauf auswirken können, ob die eigene Erkrankung offengelegt wird. Ein Beispiel ist die Frage danach, ob Menschen im allgemeinen starke negative Vorurteile gegenüber der Erkrankung oder Behinderung haben. Wenn ja, steigt tatsächlich das Risiko, diskriminiert zu werden. Ein anderes Beispiel: Wie wichtig ist es der Person, bei der Arbeit authentisch zu sein? Wenn das Bedürfnis danach sehr stark ist, kann es umgekehrt sehr belastend und stressig sein, die eigene Behinderung zu verschweigen.

Wie werden die Antworten ausgewertet?

Das ist relativ komplex, weil uns wichtig war, dass die Befragten ihre Auswertung sofort nach Ende des Selbsttests abrufen können. Die Ergebnisse sollten also nicht erst im Hintergrund von Hand ausgewertet werden müssen, denn das wäre sehr aufwändig und teuer gewesen. Die Auswertung gibt zunächst einen Überblick darüber, welche Aspekte eher für oder gegen eine Offenlegung sprechen. Jedes einzelne Thema kann dann noch einmal „aufgeklappt“ werden, um ausführlichere Informationen zu erhalten. Die Grundlage dafür sind verschiedene Textbausteine, die wir vorab entwickelt haben. Unsere Software fügt diese zusammen. Das geschieht unter anderem mit Hilfe von Durchschnittswerten über verschiedene Fragen hinweg. Je nachdem, welchen Wert jemand erreicht, wird später die dazu passende Auswertung angezeigt.

Bekomme ich in der Auswertung also eine Empfehlung „dafür“ oder „dagegen“?

Nein, die Auswertung ist bewusst keine abschließende Empfehlung. Aber sie hilft dabei, die eigene Situation besser zu verstehen und abzuwägen. Der Selbsttest bringt sozusagen Ordnung ins Chaos, indem er die Argumente für die Nutzer:innen in eine übersichtliche schriftliche Form bringt. So ein Überblick kann bereits sehr entlastend sein, weil die vielen Facetten des Themas nicht mehr alle gleichzeitig im Kopf herumschwirren und die Person vielleicht auch nicht mehr das Gefühl hat, etwas Wichtiges zu vergessen. Die Auswertung kann auch abgespeichert oder ausgedruckt werden. So kann man auch erst einmal in Ruhe drüber schlafen.

Gibt es Fragen, die wichtiger sind als andere und deshalb stärker in die Auswertung einfließen?

Die Themen im Selbsttest sind für die Befragten ja ganz unterschiedlich wichtig, deswegen gewichten wir sie alle gleich. In der Auswertung bieten wir den Nutzer:innen aber die Möglichkeit, selbst festzulegen, welche Aspekte stärker beachtet werden sollen und welche für sie persönlich nicht so entscheidend sind. Außerdem treffen ja nicht alle Menschen auf die gleiche Weise ihre Entscheidungen. Manche sind beispielsweise eher der Typ für Pro-und-Kontra-Listen, andere entscheiden lieber aus dem Bauch heraus. Beides hat seine Berechtigung. Wir geben auf der Website ein paar Tipps dazu, wie diese nächsten Schritte passend zum persönlichen „Entscheidungsstil“ aussehen können.

Und was geschieht, wenn ich mich entschieden habe?

Wenn eine Entscheidung gefallen ist, bieten wir auch hierfür weitere Informationen, die helfen können. Zum Beispiel dazu, wie man sich auf schwierige Gespräche vorbereitet oder sich einen guten Plan machen kann, wenn das Gefühl entstanden ist, dass man das nicht alles auf einmal schafft. Wir ermutigen die Nutzer:innen der Webseite außerdem an verschiedenen Stellen immer wieder, sich persönlich beraten und unterstützen zu lassen. Eine Online-Hilfe wie unsere ist sehr gut für eine erste Orientierung, sie kann aber ein persönliches Gespräch nicht ersetzen.

Sie und Ihre Kolleginnen haben den Selbsttest kürzlich mit einer digitalen Veranstaltung etwa 30 Interessierten vorgestellt. Welche Rückmeldungen kamen von den Teilnehmer:innen – und welche waren für Sie besonders wertvoll?

Es gab viel Lob und auch viele gute Hinweise, wie wir unser Angebot weiterentwickeln können. Einer davon war, dass wir im Social-Media-Bereich noch nicht gut aufgestellt sind. Das heißt: Eigentlich noch gar nicht. Es wurde aber gewünscht, dass wir künftig Beiträge in sozialen Medien zum Thema verfassen sollen, die dann geteilt werden können. Das greifen wir gerne auf.
Ein weiteres Thema war, dass Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen oft schon in der Bewerbungsphase für einen Arbeitsplatz vor der Frage stehen, ob und wie sie ihre Beeinträchtigung ansprechen sollen. Der Wunsch im Plenum war, auch diese Zielgruppe auf der Website künftig zu berücksichtigen. Und einige meldeten uns zurück, dass unser Angebot noch sprachliche Hindernisse enthält, zum Beispiel für Menschen, die gar nicht oder nicht gut Deutsch lesen oder verstehen können. Jugendliche sind sowieso eine ganz andere Art der Ansprache gewöhnt, für sie passt der derzeitige Stil also auch nicht so ganz.

Das bedeutet, dass Sie Ihr Angebot umfangreich weiterentwickeln müssten, um die Bedürfnisse der vielen verschiedenen Zielgruppen noch besser zu erfüllen. Ist das mit der derzeitigen Finanzierung des Projektes abgedeckt?

In dieser Form und in diesem Umfang noch nicht, nein. Die technische Betreuung der Website und des Selbsttests ist bis 2024 gesichert. Kleinere inhaltliche Anpassungen können wir aus Mitteln unseres Lehrstuhls finanzieren. Weiterentwicklungen sind im bisherigen Budget nicht vorgesehen. Wir finden die Anregungen aber sehr gut, deshalb haben wir ja auch zum Gespräch eingeladen. Einiges davon hatten wir vorher schon intern diskutiert. Wir suchen zum Beispiel seit einer Weile nach Finanzierungsquellen, um die Software technisch anpassen zu können, damit wir verschiedene Versionen sowohl der Webseite als auch des Selbsttests anbieten können. Darüber hinaus benötigen wir aber noch weitere Mittel für Übersetzungen, etwa in Leichte Sprache, und für inhaltliche Anpassungen des Selbsttests für die von den Gästen angesprochenen neuen Zielgruppen. Da liegt also noch einiges vor uns. Aber wir sind guter Dinge und hoffen, dass sich unser Angebot weiter herumsprechen wird. Vielleicht ergeben sich dadurch in Zukunft die finanziellen Möglichkeiten, unsere Angebote weiterzuentwickeln und so noch inklusiver zu gestalten. –


Teil 1 des Interviews verpasst?

Hier geht es zum ersten Teil, in dem Veronika Chakraverty das Projekt als solches vorstellt und erklärt, an wen sich das Angebot richtet und wie es finanziert wird.





„Ein persönliches Beratungsgespräch ist für viele ein Hindernis“: Interview mit Veronika Chakraverty zum Online-Angebot „Sag ich’s?“, Teil 1

Frau Chakraverty, wie entstand die Idee für das Projekt?

Wir alle im Team haben das Thema schon sehr lange auf dem Schirm, aus wissenschaftlicher genauso wie aus persönlicher Sicht. Einige von uns standen zum Beispiel selbst schon vor der Frage, wie offen man mit einer Erkrankung am Arbeitsplatz umgehen möchte. Das Thema begegnete uns auch in Projekten und in der Lehre immer wieder. Von einem späteren Kooperationspartner des Projekts kam schließlich Impuls, eine Online-Entscheidungshilfe zu entwickeln und am besten kostenfrei anzubieten. Bis die Webseite sag-ichs.de daraus entstanden war, sind noch einmal rund sechs Jahre vergangen.

Für wen haben Sie Ihr Angebot entwickelt?

Wir richten uns vor allem an Berufstätige mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen, die noch nicht wissen, ob und wie sie darüber mit Kolleg:innen oder Vorgesetzen sprechen möchten. Viele Erkrankungen oder Behinderungen sind ja auf den ersten Blick nicht zu sehen. Wenn am Arbeitsplatz niemand davon weiß außer einem selbst, kann das zu schwierigen Situationen führen. Beispielsweise, wenn Arbeitsaufgaben nicht oder nicht mehr so gut erledigt werden können, man häufiger fehlt oder während der Arbeitszeit oft Termine mit Ärzt:innen oder Therapeut:innen hat. Davon abgesehen fühlt es sich für viele aber auch einfach nicht gut an, diesen Teil des eigenen Lebens zu verbergen. Das kostet oft viel Kraft. Und wenn der Leidensdruck größer wird, überlegen viele irgendwann, ob sie es nicht doch offen ansprechen sollten. Aber das ist einfacher gesagt als getan.

Was macht die Entscheidung so schwierig?

Niemand kann in die Zukunft schauen, deshalb ist es gar nicht so einfach, herauszufinden, mit welcher Entscheidung jemand langfristig zufriedener sein wird. Viele verspüren zwar den Wunsch oder auch den Druck, über die Beeinträchtigung offen zu sprechen – aber zugleich ist da auch immer die Befürchtung, diskriminiert zu werden oder plötzlich Nachteile in der beruflichen Entwicklung zu erfahren. Und was am Ende eintreten wird, weiß ja niemand.

Es gibt bereits Anlaufstellen und Angebote für Menschen, die sich Unterstützung holen möchten. Zum Beispiel helfen betriebsärztliche Dienste, Schwerbehindertenvertretungen, Inklusionsämter oder Inklusionsfachdienste weiter. Wie unterscheidet sich der Selbsttest von diesen Angeboten?

Die Anlaufstellen, die Sie genannt haben, haben meist viel Erfahrung mit der Beratung und Unterstützung von Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen, das sind also gute und wichtige Angebote. Sie alle setzen aber in der Regel ein persönliches Gespräch voraus – für viele ist das schon ein erstes Hindernis. Wer lieber (noch) keine persönliche Beratung möchte, kann sich auf unserer Website erst einmal in Ruhe informieren, sich über den Selbsttest allein mit dem Thema auseinandersetzen und sich einer Entscheidung langsam annähern. Ein Online-Angebot kann natürlich nie das direkte Gespräch ersetzen, deshalb beschreiben wir auf sag-ichs.de auch sehr ausführlich, welche Anlaufstellen zu welchen Themen beraten und welche davon beispielsweise an eine Schweigepflicht gebunden sind. Unsere Hoffnung ist, dass so die Hemmschwelle sinkt und die Eine oder der Andere vielleicht doch den Schritt geht, eine persönliche Beratung in Anspruch zu nehmen.

Woher wissen Sie, ob Ihr Test tatsächlich die „echten“ Fragen, Bedürfnisse und Herausforderungen von Menschen mit Behinderung und chronischen Erkrankungen abbildet?

Weil wir unser Projekt von Anfang so aufgebaut haben, dass wir das sicherstellen konnten. In den entscheidenden Projektphasen saßen zum Beispiel immer Expert:innen in eigener Sache mit am Tisch, also Berufstätige mit verschiedenen chronischen Erkrankungen und Behinderungen. Mit diesem Gremium haben wir immer wieder kritische Fragen rund um die Entwicklung der Website und des Selbsttests besprochen. Es ging beispielsweise um eine passende Bezeichnung für das Thema insgesamt, um den Tonfall, die Art der Sprache in den Texten, ob alle wichtigen Themen im Selbsttest abgefragt wurden und ob die Nutzer:innenführung verständlich ist. Außerdem leben ja auch manche unserer Teammitglieder selbst mit einer chronischen Erkrankung oder Schwerbehinderung.

Welche fachlichen Impulse gab es von außen und wie sind sie in das Projekt eingeflossen?

In den verschiedenen Phasen waren Psychologinnen, eine Kommunikationsdesignerin, eine Rehabilitationswissenschaftlerin und eine Soziologin mit dabei, außerdem hat ein Jurist geholfen, ein User Experience Designer (auf Deutsch: Nutzererlebnis-Gestalter), ein IT-Experte und eine Motion-Designerin (auf Deutsch: Bewegtbild-Gestalterin) dabei. Auch unsere Projektpartner:innen und ein Beirat haben uns beraten und unterstützt, also immer wieder den „Blick von außen“ auf das Projekt geworfen – beispielsweise Krankenkassen, andere Wissenschaftler:innen oder Expert:innen für Datensicherheit.

Der Selbsttest, den Sie anbieten, ist kostenlos. Wie finanzieren Sie das?

Die Kosten für die Entwicklung der Webseite haben wir zur Hälfte aus Mitteln des Ausgleichsfonds des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) gedeckt. Die andere Hälfte hat unser Kooperationspartner AbbVie finanziert. Aus diesem Budget können wir das Angebot technisch noch für drei Jahre weiterbetreuen – also noch bis März 2024. Inhaltliche Anpassungen finanzieren wir im Moment aus den Mitteln des Lehrstuhls. Übrigens hatten weder das BMAS noch Abbvie Einfluss auf die Inhalte der Webseite, die Finanzierung läuft also klar getrennt von unserer inhaltlichen Arbeit im Projektteam. –

Im zweiten Teil des Interviews erklärt Veronika Chakraverty, wie der Selbsttest genau funktioniert, was er leisten kann und was nicht.


Neugierig geworden? Hier geht es direkt » weiter zum Selbsttest





Wie offen gehe ich am Arbeitsplatz mit meiner Behinderung um? Ein Selbsttest hilft bei der Entscheidung

Laut Deutschem Gewerkschaftsbund (DGB) verschweigen viele Menschen mit Schwerbehinderung diese am Arbeitsplatz lieber – aus Angst vor Nachteilen. Andersherum können Arbeitgeber:innen ihren Pflichten gegenüber Angestellten mit Behinderung nur dann nachkommen, wenn sie darüber Bescheid wissen. Eine Zwickmühle, die auch rechtlich nicht eindeutig geklärt ist.

Gerade wer keine sichtbare Behinderung hat, steht im Laufe der Karriere wahrscheinlich irgendwann vor der Entscheidung: Sag ich’s – oder nicht? Die Antwort auf diese Frage hängt von vielen verschiedenen Faktoren und der individuellen Lebenssituation ab.
Die Uni Köln hat im Rahmen eines Forschungsprojektes einen Selbsttest für Menschen mit chronischer Erkrankung oder Schwerbehinderung im Job entwickelt, um bei der Entscheidung zu helfen. Der Test steht kostenlos auf der Website „Sag ich’s? Chronisch krank im Job“ zur Verfügung und fragt detailliert ab, wie die persönliche und die berufliche Situation aussieht. Zum Beispiel: Wie ist das Verhältnis zu Vorgesetzten, Kolleg:innen, Arbeitgeber:innen? Was sind die persönlichen Bedürfnisse am Arbeitsplatz, was ist dort schon vorhanden? Wie gehe ich anderen gegenüber mit für mich sehr persönlichen Informationen um? Wie wichtig ist es mir, ich selbst sein zu können? Wenn ich anderen gegenüber offen war, welche Erfahrungen habe ich damit gemacht?

Die Testergebnisse werden am Schluss sofort anschaulich mit einer Auswertung aufbereitet und können auch als PDF heruntergeladen werden. Außerdem gibt es hilfreiche Tipps für weitere Beratung und Unterstützung.




Hoffnung auf bessere Aussichten nach dem Corona-Knick: Das Inklusionsbarometer Arbeit 2021

Frau Greskamp, die Aktion Mensch gibt seit 2013 zusammen mit dem Handelsblatt Research Institute jährlich das Inklusionsbarometer Arbeit heraus. Was genau untersuchen Sie damit?

Der Name des Inklusionsbarometers Arbeit sagt es schon: Wir untersuchen die Lage der Inklusion auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Dafür werten wir die Daten der Bundesagentur für Arbeit und der Inklusionsämter aus und setzen diese in ein Verhältnis zueinander. Es gibt dabei zehn Anhaltspunkte, mit denen wir zusammengenommen ein Bild der Situation zeichnen können. Etwa die Arbeitslosenquote, der Anteil an Langzeitarbeitslosen unter Menschen mit Behinderung oder die Quote der Arbeitsplätze, die Arbeitgeber:innen eigentlich gesetzlich verpflichtend mit Menschen mit Behinderung besetzen müssen, es aber oft nicht tun. Das Ziel unserer Studie ist es, verschiedene Ansatzpunkte zu finden, um die Inklusion auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern und voranzutreiben.

Ihre Studie aus dem letzten Jahr hat gezeigt, dass Menschen mit Behinderung besonders von der Corona-Pandemie betroffen waren. Von ihnen wurden viele arbeitslos. Jetzt sind wir im zweiten Pandemie-Jahr. Hat sich am Beschäftigungsverhältnis von Menschen mit Behinderung etwas verbessert?

Die Arbeitslosigkeit bei Menschen mit Behinderung ist zwar etwas langsamer angestiegen als bei Menschen ohne Behinderung. Das Problem liegt aber auch an anderer Stelle. Sobald Menschen mit Behinderung einmal arbeitslos geworden sind, suchen sie deutlich länger nach einer neuen Stelle als Menschen ohne Behinderung. Deshalb ist die Arbeitslosigkeit hier auch so gravierend. Im Inklusionsbarometer 2020 haben wir einige teilweise pandemiebedingte Gründe entdeckt, zum Beispiel wurden befristete Verträge nicht verlängert oder Auszubildende nach der Ausbildung nicht übernommen. Wegen Corona konnten außerdem viele Qualifizierungs- oder Beschäftigungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit nicht stattfinden.

Wie viel länger sind Menschen mit Behinderung durchschnittlich arbeitslos im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung?

Menschen mit Behinderung suchen im Schnitt rund 100 Tage länger nach einer neuen Stelle als Menschen ohne Behinderung. Schon im letzten Jahr waren knapp 70.000 Menschen mit Behinderung mindestens ein Jahr ohne Beschäftigung. 35.000 davon waren sogar länger als zwei Jahre arbeitslos. Langzeitarbeitslosigkeit war schon vor Corona ein großes Problem. Das verschärft sich nun leider weiter.

Welche Möglichkeiten gibt es für Arbeitgeber:innen, die Lage von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern?

Das ist eigentlich einfach. Sie müssten mehr Menschen mit Behinderung einstellen. Es gibt hierfür viele hilfreiche Angebote und Zuschüsse. Beispielsweise helfen Land und Bund bei den Lohnkosten oder wenn Investitionen anfallen, und es gibt Zuschüsse, um Beschäftigungsverhältnisse zu sichern oder einen Arbeitsplatz passend auszustatten. Letzteres können teilweise auch die Arbeitnehmer:innen selbst beantragen, genauso wie eine Assistenz, die im Arbeitsalltag unterstützt. Auch für Fahrtkosten gibt es Zuschüsse, oder auch Finanzierungsangebote für den behinderungsgerechten Umbau eines Autos. Die Integrationsfachdienste, Arbeitsagenturen und Jobcenter beraten dazu sowohl Arbeitgeber:innen als auch Arbeitnehmer:innen kostenlos.

Es gibt also viele finanzielle Anreize und kostenlose Angebote, die doch eigentlich dazu führen müssten, dass Arbeitgeber:innen mehr Menschen mit Behinderung einstellen. Woran liegt es, dass das insgesamt trotzdem zu selten der Fall ist?

Als Aktion Mensch betreiben wir viel Aufklärungsarbeit in diesem Bereich. Wir haben dabei festgestellt, dass viele Unternehmen und Arbeitgeber:innen gar nicht wissen, welche Fördermöglichkeiten, Unterstützungsleistungen und Beratungsangebote es gibt. Zwar haben wir in Deutschland seit vielen Jahren eine gute Infrastruktur mit Inklusionsberatungen, Integrationsfachdiensten oder den Technischen Beratungsdiensten, die beispielsweise bei der Arbeitsplatzausstattung helfen. Der Zugang soll aber ab nächstem Jahr einfacher werden. Dabei spielt das Teilhabestärkungsgesetz eine wichtige Rolle, das im April 2021 im Bundestag verabschiedet wurde. Es legt unter anderem fest, dass ab Anfang 2022 einheitliche Ansprechstellen in Deutschland geschaffen werden sollen, die Arbeitgeber:innen bei der Ausbildung, Anstellung und Beschäftigung von Menschen mit Behinderung unterstützen. Das ist eine Entwicklung, die wir als Aktion Mensch begrüßen.

Es gibt noch einen anderen Punkt, der für ein inklusives Arbeitsleben sehr wichtig ist: Die Barrierefreiheit in Betrieben. Wie hat sich das entwickelt?

Die Kostenträger haben in den letzten zehn Jahren auf jeden Fall weniger Geld dafür ausgegeben, Barrierefreiheit in Betrieben zu schaffen, weil das von den Unternehmen offenbar seltener beantragt wird. Das kann natürlich auch daran liegen, dass einige Unternehmen bereits ausreichend Barrierefreiheit geschaffen haben – diese nutzt dann ja auch zukünftigen Beschäftigten mit Behinderung und oft auch den Angestellten ohne Behinderung. Dennoch gibt es hier sicherlich noch Luft nach oben. Insgesamt sollten Unternehmen sich idealerweise nicht erst dann um Barrierefreiheit bemühen, wenn sie einen Menschen mit Behinderung einstellen, sondern schon vorher die Rahmenbedingungen dafür schaffen. Das umfasst übrigens sowohl bauliche als auch digitale Barrierefreiheit.

Wie lautet ihre Prognose für das Inklusionsbarometer Arbeit 2022?

Laut Prognosen der Wirtschaftsinstitute wird sich der Arbeitsmarkt erst im Laufe des Jahres 2022 erholen. Grundsätzlich bleiben die Trends am Arbeitsmarkt bestehen: Aufgrund des demografischen Wandels sinkt das Fachkräfteangebot, sodass die Chancen für Fachkräfte mit Behinderung steigen.
Die besten Chancen haben Arbeitskräfte im Öffentlichen Dienst, aber auch in der Erziehung, im Gesundheitssektor, im Handel, im Verkehr sowie im Gastgewerbe. Dort zum Beispiel könnten 2022 insgesamt über 400.000 zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. In diesen Wirtschaftszweigen sind schon jetzt rund 45 Prozent der Menschen mit Behinderung beschäftigt, die einen Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt haben.
Die Erfahrung lehrt uns allerdings auch, dass sich der Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung langsamer entwickelt als für Menschen ohne Behinderung – das gilt während eines Abschwungs genauso wie in Zeiten des Aufschwungs. Dass sich der Arbeitsmarkt erholt, wird sich für Menschen mit Behinderung also positiv auswirken, aber voraussichtlich langsamer als für Menschen ohne Behinderung.

Wenn Sie drei Wünsche frei hätten: Was würden Sie ändern, um das Ergebnis des nächsten Inklusionsbarometers zu verbessern?

Mein erster Wunsch ist, dass die Ausgleichsabgabe deutlich erhöht wird. Das ist der Betrag, den in Deutschland alle Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeiter:innen zahlen müssen, deren Arbeitsplätze zu weniger als fünf Prozent mit Menschen mit Behinderung besetzt sind. Ich würde mir diese Erhöhung zumindest für die Unternehmen wünschen, die derzeit noch gar keine Menschen mit Behinderung beschäftigen.
Zweitens sollten Arbeitgeber:innen künftig viel niedrigschwelliger beraten und begleitet werden als jetzt. Diese Entwicklung erhoffe ich mir aber schon von den bereits genannten einheitlichen Ansprechstellen, die ab nächstem Jahr geschaffen werden sollen. So steht es ja auch im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP. Ich hoffe, dass die neue Regierung das auch umsetzt.
Und zu guter Letzt brauchen wir noch mehr gute Beispiele und Vorbilder – also mehr Unternehmen, die zeigen und darüber reden, dass und wie Menschen mit Behinderung ihre Stärken am Arbeitsplatz für beide Seiten positiv einsetzen können. So, wie es für Menschen ohne Behinderung ja längst selbstverständlich ist. —




Mittendrin – oder nur dabei? Umfrage zum Arbeiten mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen

Die Studie

Wie steht es um die „gefühlte“ Inklusion in Deutschland? Das will Veronika Chakraverty mit ihrem Team genauer untersuchen. Bisher ging oder geht es in Studien oft um die rein sachliche oder gesetzliche Faktenlage auf dem Arbeitsmarkt. Das Forscherteam der Uni Köln beschäftigt sich dagegen mit der psychologischen Seite der Inklusion: Wie nehmen Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen ihr Arbeitsumfeld ganz individuell wahr? Und welche Gründe gibt es dafür?
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollen dazu möglichst viele Eindrücke aus erster Hand sammeln. Wie fühlen sich Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen in ihrem Team? Welche Auswirkungen hat das auf sie? Und was brauchen sie, damit es besser wird?

Wer darf an der Befragung teilnehmen?

Jede Person über 18 Jahre, die mindestens mit 18 Stunden in der Woche einer festen Arbeit nachgeht und eine oder mehrere langanhaltende (gesundheitliche) Beeinträchtigungen hat, die sie im Alltag mehr als nur geringfügig einschränken.

Bis wann läuft die Umfrage?

Die Befragungsphase läuft noch bis mindestens Ende 2019, dann wird der Online-Fragebogen geschlossen. Anschließend werden die Ergebnisse ausgewertet, die voraussichtlich im Spätsommer 2020 veröffentlicht werden.

Wie lange dauert es, den Fragebogen auszufüllen?

Die Befragung dauert zwischen 15 und 25 Minuten. Nehmt euch die Zeit und macht mit, damit genügend Daten zusammenkommen – es werden nämlich insgesamt rund 1.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer gebraucht!

Muss ich auf alles antworten, was abgefragt wird?

Nein. Die Umfrage ist anonym und die Angaben sind freiwillig. Nur die Einstiegsfragen nach dem aktuellen Arbeitsverhältnis, der gesundheitlichen Beeinträchtigung oder Behinderung und der wöchentlichen Arbeitszeit sind verpflichtend, damit der Fragebogen in die Studie einfließen kann. Das Forscherteam freut sich aber selbstverständlich über jede Frage mehr, die ehrlich beantwortet wird.

Gibt es eine Belohnung für die Teilnahme an der Studie?

Wer möchte, kann nach der Befragung an einem Gewinnspiel teilnehmen, bei dem zwei Gutscheine im Wert von je 100 Euro verlost werden. Außerdem bietet das Forscherteam an, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern nach Ende der Auswertung eine Zusammenfassung der Ergebnisse zuzuschicken.





Umfrage: Was braucht ihr, damit der Arbeitsmarkt inklusiver wird?

JOBinklusive ist eine Langzeit-Kampagne der Sozialhelden. Der Verein möchte mit dem Projekt Brücken bauen zwischen den verschiedenen Akteurinnen und Akteuren, die beim Thema Arbeit und Inklusion etwas bewegen können oder von konkreten Maßnahmen profitieren würden: Menschen mit Behinderung, Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern, Bildungseinrichtungen, Arbeitsvermittlerinnen und -vermittlern, der Politik und den Wohlfahrtsverbänden.

Um herauszufinden, was konkret verbessert werden müsste, damit die Arbeitswelt wirklich inklusiver wird, hat JOBinklusive jetzt einen Online-Fragebogen gestartet. Damit soll die Perspektive von Menschen mit Behinderung erfasst werden: Wie ist eure Situation und warum ist sie so? Wie war euer Weg bisher? Was braucht ihr für einen inklusiven Arbeitsmarkt?




Die Inklusion auf dem Arbeitsmarkt ist im Aufschwung

Die Situation in der Arbeitswelt verbessert sich für Menschen mit Behinderung stetig – das bestätigt das Inklusionsbarometer Arbeit 2018 auch in diesem Jahr wieder. Für diese Studie untersucht die Aktion Mensch seit fünf Jahren mit wissenschaftlichen Methoden, wie sich die Inklusion auf dem deutschen Arbeitsmarkt entwickelt. Wie schon in den vergangenen Jahren befragte die Stiftung dafür sowohl Unternehmen als auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Behinderung. Und sie arbeitete eng mit dem Handelsblatt Research Institute zusammen.

Arbeitslosenquote sinkt

Die beste Nachricht aus der Studie ist: Die Quote von Menschen mit Behinderung, die keinen festen Arbeitsplatz haben, wird geringer.
Dazu passt auch der Zahlenwert, mit dem das Inklusionsbarometer die Entwicklung des Arbeitsmarktes im Bereich Inklusion insgesamt anzeigt. Dieser ist dieses Jahr so hoch wie noch nie seit Erscheinen des ersten Inklusionsbarometers vor fünf Jahren (2013): Er liegt bei 107,2 Punkten im Vergleich zu 105,1 Punkten im Jahr 2017. Die Zahl drückt aus, ob sich der Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung insgesamt eher positiv oder eher negativ entwickelt. Wenn der Wert unter Hundert sinkt, bedeutet das eine Verschlechterung; steigt er über Hundert, ist die Arbeitsmarkt-Inklusion auf einem guten Weg. Und diese erfreuliche Entwicklung konnten die Forscherinnen und Forscher auch dieses Jahr wieder beobachten.

Illustration der Aktion Mensch mit den Zahlen aus dem Inklusionsbarometer Arbeit 2018.
Die wichtigsten Ergebnisse des Inklusionsbarometers 2018 als Grafik. Illustration: Aktion Mensch

Ostdeutschland hat die Nase vorn

Für die Studie wurde Deutschland in sechs Regionen aufgeteilt: Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und in die Region Ostdeutschland (Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen).
Alle sechs verbesserten sich im Vergleich zum Vorjahr. An der Spitze steht erneut die Region Ostdeutschland mit einem Wert von 111,9 (Vorjahr: 109,9), das Schlusslicht ist weiterhin Niedersachsen mit einem Wert von 103,8 (Vorjahr: 102,0).

Noch viel zu tun

Es gibt aber auch schlechte Nachrichten, vor allem im Vergleich zur Situation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ohne Behinderung. Die Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderung ist nach wie vor doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Behinderung (11,7 Prozent im Vergleich zu 5,7 Prozent). Auch der Anteil der Langzeitarbeitslosen unter arbeitslosen Menschen mit Schwerbehinderung (44,4 Prozent) ist deutlich höher als bei den allgemeinen Arbeitslosen (35,6 Prozent). Und Menschen mit Behinderung brauchen im Schnitt auch länger als Menschen ohne Handicap, um eine neue Stelle zu finden: Sie suchen rund 366 Tage nach einem neuen Job. Das sind 104 Tage mehr als bei allen anderen.