„Die Arbeitgeber werden immer optimistischer“

An einem sicheren Arbeitsplatz den Lebensunterhalt selbst zu verdienen, mit einem Job, der den eigenen Fähigkeiten und Interessen entspricht: Das wünschen sich die meisten Menschen. Wer mit einer Behinderung lebt, hat es aber oft viel schwerer, eine Beschäftigung zu finden, die zu den eigenen Fähigkeiten passt. Viele Arbeitgeber:innen scheuen trotz Fachkräftemangel, Menschen mit Behinderung in ihren Betrieben einzustellen – sogar dann, wenn diese hervorragend ausgebildet sind. Warum das in Deutschland so ist, wollte die Aktion Mensch genauer wissen und hat das so genannte Inklusionsbarometer entwickelt.


Frau Marx, die Aktion Mensch gibt seit dem Jahr 2012 zusammen mit dem Handelsblatt Research Institute jährlich ein so genanntes „Inklusionsbarometer Arbeit“ heraus. Was ist das genau, wie funktioniert es und warum haben Sie damit begonnen?

Es gibt eine Vielzahl Faktoren, die verhindern, dass es eine gleichberechtigte Teilhabe für Menschen mit und ohne Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt gibt. Um diese Einflüsse genauer betrachten zu können, haben wir beschlossen, sie erst einmal zusammenzutragen – und deshalb das Inklusionsbarometer entwickelt. Wir haben dafür 500 mittelständische Unternehmen und 802 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderung befragt, wie sie das Klima in ihrer Firma empfinden. Zum Beispiel wollten wir wissen, ob Arbeitgeber Leistungsunterschiede im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung in ihrem Betrieb feststellen, oder ob die Arbeitnehmer passend zu ihren Fähigkeiten und Qualifikationen eingesetzt werden. Die Ergebnisse dieser Umfrage haben wir zusätzlich mit „harten“ Fakten unterfüttert, unter anderem sind hierbei die jüngsten Zahlen aus verschiedenen Quellen eingeflossen, etwa der Bundesagentur für Arbeit. Beispielsweise ist die Dauer der Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderung oder die Beschäftigungsquote wichtig, um die Situation zu analysieren. Das machen wir jedes Jahr seit 2012 aufs Neue.

Das Barometer sagte im Jahr 2015 aus, dass sich die Lage für Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in vielen Bereichen verbessert hat. Wie sieht es im Jahr 2016 aus?

Das Inklusionsbarometer bringt auch dieses Jahr erst einmal gute Nachrichten: In der Arbeitswelt wird Inklusion immer alltäglicher. Der Grund dafür ist vor allem, dass die Unternehmen die Inklusion als solche positiver einschätzen. Sie sind dabei sogar zum ersten Mal optimistischer als die Mitarbeiter mit Behinderung. Trotzdem: Es gibt weiterhin großen Verbesserungsbedarf. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung hat sich nur leicht entspannt.

Das Inklusionsbarometer Arbeit 2016 als Infografik
Das Inklusionsbarometer Arbeit 2016 als Infografik. Illustration: Aktion Mensch

Können Sie das in Zahlen fassen?

Der Gesamtwert des Barometers ist von 101,1 auf 106,7 gestiegen – vereinfacht erklärt bedeutet diese wachsende Zahl eine positive Tendenz. Zugleich ist die Arbeitslosenquote zwar von 13,9 Prozent auf jetzt 13,4 Prozent gesunken, aber sie fällt wesentlich langsamer als die Quote auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt insgesamt, die aktuell bei 6,4 Prozent liegt. Die Schere zwischen Arbeitslosen mit und ohne Behinderung geht also weiter auseinander. Auch die Dauer, die Menschen mit Behinderung im Schnitt arbeitslos sind, ist vergleichsweise lang: Sie suchen mehr als 100 Tage länger als Menschen ohne Behinderung nach einem Job.

Woran liegt es aus Ihrer Sicht, dass nach wie vor vergleichsweise viele Menschen mit Behinderung arbeitslos sind? Was könnte getan werden, um die Situation zu verbessern?

Ganz wichtig ist hier das Thema Barrierefreiheit. Im Moment ist nur die Hälfte der kleinen und mittelständischen Unternehmen barrierefrei – diese Firmen stellen aber in der Summe die meisten Arbeitsplätze. Für eine Verbesserung der Lage wäre es außerdem gut, wenn die Informationen über Förderprogramme transparenter für die Arbeitgeber wären. 96 Prozent der großen Unternehmen kennen die Instrumente und nutzen sie oft auch. Von den kleinen Unternehmen wissen dagegen nur 62 Prozent etwa von der staatlichen Förderung für Mitarbeiter mit Behinderung und nur 53 Prozent nehmen sie auch in Anspruch.

Wer oder was sind Ihrer Meinung nach die größten „Inklusions-Bremsen“ unserer Gesellschaft?

Es ist wichtig, bürokratische Hürden abzubauen, aber auch und vor allem die Hürden in den Köpfen vieler Arbeitgeber. Es ist sehr einfach, bei einem potenziellen neuen Mitarbeiter die Behinderung als Defizit zu sehen, anstatt darauf zu schauen, welche Fähigkeiten er mitbringt. Genau das sollten die Mitarbeiter in Personalabteilungen und Chefs aber tun. Dabei ist es egal, ob ein Mensch eine angeborene Behinderung hat oder diese im Laufe des Berufslebens „erworben“ hat. Themen wie ein betriebliches Eingliederungsmanagement und Gesundheitsförderung werden ja gerade in älter werdenden Belegschaften immer bedeutender.

Gibt es etwas, das Menschen mit Behinderung selbst tun können, um ihre Lage zu verbessern?

Sie müssen sich auf jeden Fall zutrauen, sich auf Stellen des ersten Arbeitsmarktes zu bewerben. Dabei sind unsere Sondersysteme mit den Förderschulen zurzeit noch ein Hemmschuh. Ich habe aber die Hoffnung, dass mit einem zunehmend inklusiven Bildungssystem auch diese Hürde immer häufiger überwunden wird. Wer früh zusammen lernt, findet es ganz automatisch selbstverständlicher, dass man später auch zusammen arbeitet.

Wie müsste für Sie die Unternehmenskultur der Zukunft aussehen, um eine vollständige Inklusion zu erreichen?

Eine solche Unternehmenskultur muss den Menschen und seine Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellen. Zugleich muss Verschiedenheit als Normalität begriffen werden. Arbeitnehmer mit und ohne Behinderung müssen sich auf Augenhöhe begegnen und dürfen keine Berührungsängste miteinander haben. Eine inklusive Unternehmenskultur braucht vor allem diese Art der Begegnung und ein selbstverständlicheres Miteinander. Das muss heute vielfach erst noch gelernt werden. Aus meiner Sicht sind hier insbesondere die Arbeitgeber gefragt, diese Unternehmenskultur vorzuleben und mit anzustoßen.




Starthilfe bei der beruflichen Neuorientierung

Ein Krankenpfleger, der wegen eines Bandscheibenvorfalls plötzlich nicht mehr in seinem Beruf arbeiten kann, ein Ingenieur, der bei einem Arbeitsunfall eine schwere Verletzung davonträgt, die nicht vollständig ausheilt, ein Bäcker, der eine Stauballergie entwickelt und die Backstube meiden muss: Arbeitsunfähigkeit kann sehr unterschiedliche Formen annehmen und jeden treffen. Die Vorfälle und Entwicklungen, die dazu führen, kommen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fast immer unerwartet – und meistens ist danach auch eine berufliche Neuorientierung nötig.

Durch diese oftmals schwierige Phase begleiten die Experten des Verbundes der Deutschen Berufsförderwerke. Sie beraten und unterstützen Menschen unter bestimmten Voraussetzungen bei der Umschulung und auch beim Wiedereinstieg in den Beruf nach einem Unfall. Es gibt auch präventive Angebote, also die Möglichkeit, frühzeitig Lösungen zu entwickeln, wenn bereits abzusehen ist, dass sich das Befinden eines Berufstätigen über kurz oder lang negativ verändern wird.

Angebote für Arbeitnehmer und Unternehmen

Die Berufsförderwerke wenden sich mit ihrem Angebot übrigens nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch an Unternehmen. Sie helfen Firmen auf Wunsch bei der Bewältigung der vielen Herausforderungen des modernen Arbeitsmarktes zum Beispiel, wenn das Unternehmen einen Mangel an Fachkräften abfedern muss und dabei Unterstützung braucht.

Das Webangebot des Bundesverbandes, der übrigens mit rund 100 Standorten in Deutschland vertreten ist, bietet unter anderem Informationen zu den Voraussetzungen für den beruflichen Neustart. Außerdem wird dort erklärt, was der Verband genau bieten kann. Die Postleitzahlsuche hilft Interessierten, einen Ansprechpartner in der Nähe des eigenen Wohnortes zu finden. Die aufgeräumt wirkende Seite bietet damit einen guten Überblick über das Thema und macht “Erste-Hilfe”-Angebote zum Thema.




Barrierefreie Veranstaltungen planen

Die Räumlichkeiten sind gebucht, das Programm steht, die Catering-Firma weiß Bescheid. Das Event kann kommen oder? Noch nicht ganz. Was vielen Veranstaltern oft “durchrutscht”, ist das Thema Barrierefreiheit. Denn ob ein Event wirklich für alle Gäste zugänglich ist, hängt sowohl vom Veranstaltungsort ab als auch vom Programm und von der Kommunikation vor und während des Ereignisses  technisch wie inhaltlich. Diese Aspekte sollten am besten frühzeitig bedacht werden und direkt in die Planungen einfließen.

Was dabei wichtig ist und welche interessanten Möglichkeiten es gibt, Veranstaltungen bewusst barrierefrei zu gestalten, ist das Thema des Portals Ramp-up.me. Die Seite ist als Initiative des Vereins Sozialhelden e. V. entstanden und gibt viele Tipps und Hinweise rund um barrierefreie Planung von Events. Der Wunsch und das Ziel der Initiatoren ist es, eine vielfältigere und buntere Veranstaltungskultur schaffen, in der alle Menschen gleichberechtigt agieren und teilnehmen können und mit ihren Beiträgen gehört werden.




Was sind Inklusionsunternehmen?

Was genau sind Inklusionsunternehmen?

Inklusionsunternehmen sind gewöhnliche Betriebe, in denen Menschen mit und ohne Behinderung zusammenarbeiten. Im Schnitt beschäftigen diese Firmen zwischen 25 und 50 Prozent Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit unterschiedlich schweren Handicaps. Sie haben deshalb aber keinen Sonderstatus, sondern müssen sich wie jedes andere Unternehmen auf dem freien Markt behaupten. In Westfalen-Lippe gibt es zur Zeit rund 160 Inklusionsbetriebe und -abteilungen, in denen etwa 2000 Menschen mit Behinderung beschäftigt sind. Die Firmen und Betriebe tragen damit zu einem inklusiven Arbeitsleben bei, weil sie Menschen mit Handicap dauerhafte und sozialversicherungspflichtige Stellen auf dem ersten Arbeitsmarkt bieten.

Welche Rolle spielt das LWL-Inklusionsamt in diesem Zusammenhang?

Der Landschaftsverband-Westfalen Lippe erfüllt als gemeinnütziger Träger viele soziale Aufgaben in der Region. Wir sind, als eine Einrichtung innerhalb dieses Trägers, sozusagen die „ausführende Hand“ in einem bestimmten Bereich. So sind wir zum Beispiel erster Ansprechpartner in der Region rund um das Thema Inklusionsunternehmen. Wir beraten Arbeitgeber unter anderem zu allen Fragen, die entstehen können, wenn Arbeitsplätze für Menschen mit und ohne Behinderung eingerichtet werden sollen, aber auch zu den Planungsschritten, den rechtlichen Grundlagen und den Fördermöglichkeiten. Außerdem analysieren wir die eigenen Ideen des Unternehmens und geben entsprechendes Feedback.

Wie werden Inklusionsunternehmen gefördert – und mit welchen Mitteln?

Der LWL hat unter anderem die Aufgabe, bereits bestehende Arbeitsplätze in Inklusionsunternehmen zu erhalten, indem er die Firmen mit Mitteln aus der so genannten „Ausgleichsabgabe“ unterstützt. Diesen Betrag müssen alle Unternehmen in Deutschland zahlen, die mehr als 20 Personen in ihrem Betrieb beschäftigen,  aber weniger als fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Schwerbehinderung besetzt haben. Darüber hinaus ist auch das Land Nordrhein-Westfalen eine wichtige Anlaufstelle für Fördermittel. Über das Programm „Integration unternehmen!“ kann es Zuschüsse zu Investitionskosten bewilligen, damit weitere Arbeitsplätze in Inklusionsunternehmen entstehen können. Der Bund stellt ebenfalls finanzielle Mittel bereit, die von den Unternehmen beantragt werden können, und zwar aus dem Programm „Inklusionsinitiative II – AlleImBetrieb“. Deutschland stellt seinen Ländern mit diesem Programm insgesamt 150 Millionen Euro zur Verfügung, um die Inklusion in diesen Betrieben weiter voranzutreiben und neue Stellen zu schaffen. Des Weiteren beteiligen sich die Arbeitsagenturen und die Jobcenter mit Eingliederungszuschüssen. In den kommenden Jahren rechnen wir deshalb damit, dass es rund 300 bis 400 neue Arbeitsplätze in den Inklusionsunternehmen geben wird.

Gibt es noch weitere Möglichkeiten, Unterstützung zu bekommen?

Jeder interessierte Arbeitgeber kann als Starthilfe einen Investitionskostenzuschuss beantragen, der das Unternehmen finanziell entlastet, wenn dort ein neuer Arbeitsplatz für einen Menschen mit Schwerbehinderung eingerichtet werden soll. In den Inklusionsunternehmen kann dieser Zuschuss bis zu 80 Prozent der entstehenden Kosten (maximal 20.000 Euro) für jeden neu geschaffenen Arbeitsplatz betragen. Daneben gibt es auch die sogenannte Einzelfallhilfe, bei der die Förderung eines behindertengerechten Arbeitsplatzes individuell festgelegt wird. Um eventuelle Minderleistungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Handicap auszugleichen, können die Unternehmen außerdem Lohnkostenzuschüsse beantragen. Diese liegen bei maximal 30 Prozent des Arbeitnehmerbruttolohns. Und: Für den besonderen Betreuungsaufwand am Arbeitsplatz stehen den Unternehmen jeden Monat 210 Euro pro Mitarbeiterin oder Mitarbeiter mit Behinderung zu.

Wie wird der Kontakt zwischen den Firmen und potentiellen Interessentinnen oder Interessenten für einen Arbeitsplatz im jeweiligen Betrieb hergestellt?

Eine unserer Zielgruppen unter den potentiellen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sind Menschen mit Behinderung, die aus einer Werkstatt auf den Ersten Arbeitsmarkt wechseln wollen und können. Im Kontakt zu diesen möglichen Bewerberinnen und Bewerber stehen vor allem die so genannten Inklusionsfachdienste, die an das LWL-Inklusionsamt angegliedert sind, ebenfalls vom LWL finanziert werden und eng mit den Inklusionsunternehmen zusammenarbeiten. Aber auch die Agenturen für Arbeit und die Jobcenter helfen dabei, passende Arbeitskräfte mit Behinderung zu vermitteln.

Ist es wichtig, dass die Unternehmerinnen und Unternehmer schon vorher mit Menschen mit Behinderung zusammengearbeitet haben?

Das schadet nicht, ist aber keine Bedingung. Viel entscheidender ist, dass die Arbeitgeber bereit sind, sich wirklich auf diesen Prozess einzulassen. Einen Menschen mit Schwerbehinderung in den eigenen Betrieb zu integrieren, kann mit vielen Herausforderungen verbunden sein – damit sollten sich die Arbeitgeber schon vorher auseinandergesetzt haben. Aber: Wenn im Vorfeld gut geplant und dieser Plan auch strukturiert umgesetzt wird, haben wir bisher immer nur den Fall beobachtet, dass die Umstellung auf das Modell „Inklusionsbetrieb“ eine echte Bereicherung für die Unternehmer ist. Bei den bisherigen Betrieben wirkte sich das neue Konzept sehr positiv auf das Betriebsklima aus, die Arbeitsergebnisse waren stets gut und die übrigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren sehr loyal und motiviert bei der Sache.




Ein Wegweiser für mehr inklusive Arbeitsplätze

Viele Arbeitgeber scheuen sich davor, Menschen mit Behinderungen in ihren Unternehmen einzustellen die Gründe dafür sind aber oft einfach mangelnde Informationen und fehlende Erfahrungswerte rund um das Thema Inklusion am Arbeitsplatz.

Das will das Institut der deutschen Wirtschaft Köln e. V. gerne ändern und hat einen “Personalkompass Inklusion” erstellt: Der Ratgeber beantwortet viele Fragen rund um die Organisation, die Finanzierung und die Personalstrategie im Zusammenhang mit der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung.