„Es reicht nicht, nur zu sensibilisieren – wir brauchen gesetzliche Verpflichtungen“

Herr Brückner, es heißt, Kulturorte in Deutschland seien oft wenig inklusiv. Was haben Sie persönlich erlebt, was das besonders verdeutlicht?

Es klingt banal, aber es ist eine Tatsache, dass viele Menschen mit Behinderung im Jahr 2024 immer noch nicht in der Lage sind, an Kulturorten auf die Toilette zu gehen. Wenn ein so simples Grundbedürfnis nicht erfüllt ist, ist es kaum verwunderlich, dass Menschen mit Behinderung sich oft dagegen entscheiden, an Veranstaltungen teilzunehmen und Teil von Kultur zu sein. Aus meiner Perspektive als Künstler ist es ganz ähnlich: Über 90 Prozent der Bühnen, auf denen ich bisher gespielt habe und spiele, sind nicht barrierefrei. Das bedeutet, dass ich mit meinem Rollstuhl nicht eigenständig auf die Bühne gelangen kann und darauf angewiesen bin, getragen oder geschoben zu werden. Das erschwert das Künstlerdasein enorm, und auf dieser Ebene ist es sogar noch deutlich komplizierter, als es bereits für Gäste mit Behinderung ist.

Woran liegt es, dass das in Deutschland oft so schlecht funktioniert?

Weil das Thema oft nicht ganzheitlich gedacht wird. Wenn es darum geht, auf die unterschiedlichen Formen von Behinderung Rücksicht zu nehmen, hapert es oft noch gewaltig. Zunächst einmal müssten aber sowohl Gäste als auch als Künstler:innen mit Behinderung die Möglichkeit haben, sich vor Ort frei bewegen und agieren können – inklusive der Backstage-Bereiche. Auch in den Teams der Veranstalter:innen müssten selbstverständlicher auch Menschen mit Behinderung mit dabei sein. Das alles ist aber oft noch nicht der Fall. Aber erst, wenn Barrierefreiheit selbstverständlich geworden ist, also der bloße Zugang auf allen Ebenen, das Miteinander und der Austausch zwischen Künstler:innen, Teams und Besucher:innen mit und ohne Behinderung selbstverständlich funktionieren – dann nähern wir uns Inklusion.

Wie ließe sich das – vielleicht auch mit einfachen Mitteln – ändern?

Ein großes Problem ist, dass wir in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern keine rechtlich bindenden Regelungen für Barrierefreiheit haben. Es gibt zwar Gesetze, die viel Gutes beinhalten, aber sie sind meistens nicht verbindlich. Es wird also häufig nicht sanktioniert, wenn etwas nicht umgesetzt wird. Privatwirtschaftliche Unternehmen können sogar noch viel weniger dazu gezwungen werden, etwas zu tun. So müssen wir oft auf Freiwilligkeit hoffen, und die ist nicht allzu häufig vorhanden. Es fehlt meist an Verständnis und Sensibilität für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung. Diese Zielgruppe wird oft nicht gesehen, nicht mitgedacht und außerdem häufig unterschätzt.

Spielen auch die Kosten eine Rolle?

Das wird oft gesagt, stimmt pauschal aber nicht. Viele Dinge könnten ohne großen finanziellen Aufwand verändert werden, etwa durch eine barrierefreie Kommunikation. Das ist aus meiner Sicht auch eines der größten Arbeitsfelder. Um beispielsweise Social-Media-Kanäle für blinde und sehbehinderte Menschen so zu gestalten, dass sie technisch zugänglich sind, braucht es nicht viel. Hier fehlen meist nur Bildbeschreibungen und Alternativtexte. Das konsequent zu ergänzen, ist also eine sehr kostengünstige Maßnahme. Ein ebenfalls einfacher, aber wichtiger Schritt wäre auch, den aktuellen Zustand der Barrierefreiheit eines Ortes auf der Website transparent darzustellen. Das würde schon so vielen Menschen mit Behinderung helfen, weil sie sich dann nicht ohne Vorwissen in eine unsichere oder sogar traumatisierende Situation begeben müssten, sondern sich vorab informieren und dann frei entscheiden könnten, ob sie sich auf das Event einlassen möchten oder nicht. Das kostet wenig Geld, erfordert aber etwas Zeit und das Mitdenken der Bedürfnisse von Besucher:innen mit Behinderung.

Haben Sie weitere Tipps für Veranstalter:innen, wie sie die Barrierefreiheit auf und vor der Bühne verbessern können?

Ein häufiger Fehler ist es, Barrierefreiheit darauf zu reduzieren, dass der Ort „nur“ rollstuhlgerecht sein muss. Dabei sind die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung so vielfältig wie die Behinderungen selbst. Entsprechend müssen die Maßnahmen auch unterschiedlich sein. Neben nicht vorhandenen Rampen gibt es viele weitere Hürden, insbesondere in der Kommunikation. Bei Websites sind beispielsweise Texte in schwer verständlicher Sprache ein Problem, weil das Menschen mit anderen Lern- und Lesemöglichkeiten ausschließt. Hier würden kürzere Sätze und der Verzicht auf englische Begriffe oder Fachsprache sehr helfen.

Was können Veranstalter:innen tun, die sich nicht gut mit den Belangen von Menschen mit Behinderungen auskennen?

Sie sollten aufhören, selbst zu beurteilen, was gut und richtig ist. Stattdessen sollten sie den Dialog mit Menschen mit Behinderung suchen, um deren Expertise einzubeziehen. Diese Menschen müssen gar nicht unbedingt professionell organisiert sein, wie es zum Beispiel unsere Beratungsagentur „WIR KÜMMERN UNS“ ist. Oft gibt es auch im Freundes- oder Familienkreis Personen mit Behinderung, die wertvolle Tipps geben können. Das ist der erste und der wichtigste Schritt: Ins Gespräch gehen mit Menschen mit Behinderung, nach dem Motto „Nichts über uns ohne uns“.

Welche Akteur:innen sehen Sie besonders in der Verantwortung, damit es mit der Inklusion in der Kultur vorangeht?

Deutschland hat sich im Jahr 2009 mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, mehr für Menschen mit Behinderung zu tun. Dazu gehört auch der Zugang zur Kultur und die Möglichkeit für Menschen mit Behinderung, ihr künstlerisches Potenzial zu entfalten. Das Problem ist aber auch hier, dass diese Verpflichtungen nicht sanktioniert werden, wenn sie nicht erfüllt werden. Außerdem liegt der Fokus ausschließlich auf dem öffentlichen Sektor, während der private Bereich außen vor bleibt. Hier muss ein grundlegendes Umdenken stattfinden, und das auf allen Ebenen. Von der Bundesregierung in Berlin bis runter zu den einzelnen Städten und Gemeinden brauchen wir mehr politische Solidarität mit Menschen mit Behinderung. Dabei reicht es nicht aus, nur für das Thema zu sensibilisieren. Es braucht dringend gesetzliche Verpflichtungen und auch Sanktionen, um wirklich Fortschritte zu erzielen.

Was würden Sie selbst an der Förderung von Veranstaltungen zugunsten von mehr Inklusion verändern, wenn Sie könnten?

In unserem Kollektiv haben wir Licht- und Veranstaltungstechniker:innen, deren berufliche Möglichkeiten stark eingeschränkt sind, weil es viel zu wenige barrierefreie Arbeitsplätze in den Bühnen- und Backstage-Bereichen gibt. Genauso ist es oft für die Künstler:innen. Und die Bereiche für Gäste betrifft das Thema ja sowieso. Deswegen es unbedingt erforderlich, inklusive Maßnahmen zu fördern. Gleichzeitig müssen diese Maßnahmen gesetzlich verpflichtend sein, auch für schon bestehende Kulturorte – aber es ist wichtig, sie dabei zu unterstützen, sie mit den Anforderungen also nicht alleine zu lassen. Neue Veranstaltungsorte wiederum müssen von Beginn an verpflichtet werden, barrierefrei zu planen und zu bauen. Barrierefreiheit muss so selbstverständlich und unabdingbar wie Brandschutz- oder Evakuierungsauflagen sein. Darüber hinaus darf Kulturförderung im Allgemeinen nur dann gewährt werden, wenn Barrierefreiheit vor, auf und hinter der Bühne mitgedacht wird. Und das bedeutet eben auch, Künstler:innen mit Behinderung zu einem selbstverständlichen Teil von Veranstaltungen und des Bühnenprogramms werden zu lassen. —




Lese-Tipp: Interview mit dem SPD-Politiker Constantin Grosch

Noch immer sind die Parlamente in Deutschland nicht komplett barrierefrei, weder baulich noch im täglichen Politikbetrieb. Im Bundestag werden beispielsweise nur die Plenarsitzungen in Deutsche Gebärdensprache übertragen, sagt Constantin Grosch, der unter anderem SPD-Abgeordneter im niedersächsischen Landtag ist. Bei anderen Debatten und Veranstaltungen passiere das nicht, in den Landesparlamenten sehe es noch schlechter aus – und die Gebäude seien eher für Besucher:innen barrierefrei als hinter den Kulissen für die Abgeordneten und Mitarbeiter:innen.

Allgemeingültige Regeln dafür, wie eine barrierefreie und inklusive Politik aussehen soll, gibt es in Deutschland noch nicht. Deshalb hat Constantin Grosch andere Politiker:innen mit Behinderungen zu einem überparteilichen Austausch eingeladen. Dabei gab es auch Überraschungen, wie er der „Frankfurter Rundschau“ erzählt hat: Es kamen auch Abgeordnete, die aus Angst vor negativen Reaktionen noch nicht öffentlich über ihre Behinderungen gesprochen hatten.

Worüber sich die Politiker:innen ausgetauscht haben, warum Constantin Grosch nicht nur Behindertenpolitik machen möchte und welche Veränderungen er sich wünscht, lest ihr hier im Beitrag der Frankfurter Rundschau.




„Ein Hörfilm soll ein Genuss sein“

Frau Sallam, welche Informationen und Inhalte sollte eine gute Audiodeskription vermitteln?

Das ist sehr unterschiedlich. Eine gute Audiodeskription richtet sich nach dem jeweiligen Film, und jeder Film braucht etwas anderes. Wie viele Dialoge gibt es, welche Informationen stecken schon in diesen Gesprächen? Wie viele Handlungen oder Bilder müssen zwischen den Dialogen beschrieben werden? Und was ist überhaupt das Spannende und Besondere an einem Film? Über solche Fragen müssen wir Filmbeschreiber:innen nachdenken. Grundsätzlich ist es wichtig, den Hörer:innen eine gute Orientierung zu geben, etwa, indem wir Personen und Orte einheitlich benennen. Wenn die Handlung in einer Villa spielt, sollte diese nicht plötzlich „Haus“ heißen. Es geht aber nicht nur um reine Informationen, sondern zum Beispiel auch um Humor. Wir müssen Pointen und Witze so vorbereiten, dass sie auch beim Hören zu verstehen sind und die Zuhörer:innen zum Lachen bringen – am besten genau im richtigen Moment, zusammen mit den Sehenden.

All das müssen Sie in kurzen Beschreibungen unterbringen, die zwischen die Dialoge der Figuren im Film passen?

Ja, das ist oft eine Herausforderung. Wir beschreiben in jeder Szene das Markanteste und Wichtigste, so konkret wie möglich und in möglichst knappen Worten. Manchmal müssen wir lange suchen, bis wir den passenden Begriff finden. Und wir überlegen immer wieder, was wir wirklich in die Audiodeskription aufnehmen müssen, weil wir sie ja auch nicht überfrachten wollen. Wenn an der Stimme zu hören ist, dass eine Person aufgeregt ist, müssen wir ihr nervöses Gesicht nicht beschreiben.

Übrigens sollte die Audiodeskription nicht nur Platz für die Dialoge lassen. Auch Geräusche brauchen Raum und sind sehr wichtig für die Handlung oder die Stimmung eines Films. Wenn es sehr viele Geräusche gibt, ist es natürlich manchmal nötig, zeitgleich eine Beschreibung darüberzulegen. Aber das sollte nicht ständig passieren. Zugleich muss die Audiodeskription manche Geräusche erklären. Wenn ein Pferd wiehert, ist in der Szene vielleicht eine Weide zu sehen. Und wenn ein Klirren zu hören ist, weil ein Glas vom Tisch gefallen ist, gehört das auch in die Beschreibung. Ein Hörfilm sollte ein Genuss sein. Dazu muss die Beschreibung gute Bilder erzeugen und von professionellen Sprecher:innen im Tonstudio eingesprochen werden.

Wie erarbeiten Sie eine Audiodeskription in Ihrem Team?

Die sehenden Filmbeschreiber:innen machen den Anfang. Sie schauen sich den Film an und machen sich Notizen, wenn sie etwas besonders wichtig finden oder beispielsweise eine Person schwierig zu beschreiben ist. Dann erstellen sie einen Entwurf für eine Audiodeskription und sprechen sie probeweise ein. Anschließend kommen meine sehbehinderte Kollegin oder ich dazu und gehen diese erste Fassung mit der Autorin oder dem Autor durch. Das ist eine sehr intensive Arbeitsphase, die rund einen Tag dauert. Wir hören ganz genau hin und besprechen gemeinsam, wo wir nacharbeiten müssen.

Andere Produktionsfirmen gehen andersherum vor. In unserem Beruf gibt es inzwischen immer mehr junge Kolleg:innen, die blind sind und mit der Unterstützung einer Arbeitsassistenz arbeiten. Sie erstellen dann direkt die Audiodeskription. Die angehenden sehenden Autor:innen arbeiten in diesen Teams dagegen erst einmal als Assistent:innen, um von den blinden Autor:innen zu lernen. Auch diese Arbeitsweise finde ich ein spannendes Modell.

Auf welche Dinge achten Sie, wenn Sie den Entwurf einer Audiodeskription zum ersten Mal anhören?

Ich prüfe, ob inhaltlich alles verständlich ist, ob alle Geräusche erklärt werden und ob vielleicht doch noch zu viele Dinge beschrieben werden, die sich schon aus den Dialogen ergeben. Manchmal stelle ich Rückfragen dazu, wie bestimmte Orte oder Räume aussehen. Dabei kann es um Details wie zum Beispiel Fotos gehen, die an den Wänden hängen und auf die später im Film noch einmal Bezug genommen wird. Umgekehrt schlage ich manchmal vor, Details zu streichen, weil sie nicht so wichtig sind und den Hörfilm eher überladen. Je ausführlicher eine Audiodeskription ist, desto anstrengender ist das Zuhören, weil man ja gleichzeitig auch die Dialoge verfolgen und auf Geräusche achten muss. Mein Tipp an sehende Filmbeschreiber:innen ist deshalb, sich den Hörfilm am Ende noch einmal mit geschlossenen Augen anzuhören. Und sie sollten immer daran denken, dass ihre Texte dem Film dienen müssen. Es geht nicht um die Texte an sich. Das ist manchmal schwierig für Autor:innen.

Welche Fähigkeiten und Eigenschaften sollten angehende Filmbeschreiber:innen haben – sehend oder blind?

Für unseren Beruf braucht es ein sehr gutes Gefühl für Sprache und viel Liebe zum Medium Film. Außerdem ist genaues Hören sehr wichtig. Filmbeschreiber:innen sollten immer wieder trainieren, gut hinzuhören.

Wie sind Sie selbst zu Ihrem Beruf gekommen?

Ich habe Germanistik und Philosophie studiert und danach erst einmal beim NDR gearbeitet, wo ich Hörspiele lektoriert habe. Ich hatte schon immer eine Sehbehinderung, konnte früher aber noch sehen. Damals bin ich gerne ins Kino gegangen, zusammen mit einer nicht sehbehinderten Person, die mir vieles auf der Leinwand beschrieben hat. Als die ersten Hörfilme kamen, war ich total begeistert. Ich habe bei der „Deutsche Hörfilm gGmbH“ eine Ausbildung zur Filmbeschreiberin absolviert, inzwischen arbeite ich seit fast 24 Jahren für das Unternehmen. Ich schreibe aber nicht nur Beschreibungstexte für Filme, sondern auch für andere Kulturangebote. Zurzeit erarbeite ich in einem Pilotprojekt die Audiodeskription für Cartoons. Vor kurzem habe ich mit der Berliner „Schaubühne“ zusammengearbeitet und unter anderem die Audiodeskriptionen für die Stücke „Die Affaire Rue de Lorcine“, „Richard III“ und „Nachtland“ mitentwickelt. Immer mehr Theater lassen sich auf so etwas ein, das finde ich eine sehr schöne Entwicklung.

Sie werden also auch von neuen Auftraggeber:innen angefragt. Geht es Ihrer Branche demnach insgesamt gut?

Ja und nein. Wir müssen leider immer häufiger darum kämpfen, dass blinde Autor:innen an Filmproduktionen mitarbeiten oder diese abnehmen dürfen. Viele neue Produktionsfirmen möchten günstig sein und schnell Texte liefern, deshalb schreiben dort Autor:innen ohne Sehbehinderung die Audiodeskriptionen allein. Das sehe ich kritisch. Damit ein Hörfilm richtig gut wird, ist es wichtig, gründlich zu analysieren und die Texte auch im Team zu diskutieren. Sehende Menschen erfassen beispielsweise in Action-Szenen sehr viele Handlungen und Details gleichzeitig, innerhalb von Sekunden. Wenn all das mit Worten beschrieben wird, geht das natürlich nur linear, also nacheinander. Nur blinde oder sehbehinderte Menschen können wirklich beurteilen, wie gut so etwas in der Audiodeskription umgesetzt ist. Sehende Kolleg:innen sollten die inklusive Zusammenarbeit deshalb einfordern. —




Inklusion in der Politik: Die Spanierin Mar Galcerán ist Europas erste Abgeordnete mit Down-Syndrom

„Viele sehen uns Menschen mit Down-Syndrom als ewige Kinder“, sagt Mar Galcerán – und erklärt damit aus ihrer Sicht, warum bis heute kaum Menschen mit dieser Behinderung in der Politik zu finden sind. Sie selbst ist seit September 2023 Mitglied des spanischen Parlaments und damit die erste Frau mit Down-Syndrom in Europa, die Mitglied in solch einem politischen Gremium ist. Sie glaubt, dass der Weg hin zu einer diversen und inklusiveren Politik nur darüber führt, dass Menschen mit Behinderung mehr Raum gegeben wird – und zwar dafür, sowohl Verantwortung zu übernehmen als auch Fehler zu machen.

Den ganzen Tagesspiegel-Artikel über Mar Galcerán lest ihr hier.




Video-Tipp: Das Projekt „Mission AstroAccess“ will die Raumfahrt inklusiver machen

Das Weltall und Raumschiffe haben Michaela Benthaus schon immer fasziniert. Seit ihrer Kindheit träumt sie von einer Karriere in der Raumfahrt. Deshalb studiert sie heute in München Luft- und Raumfahrttechnik.
Den Wunsch, als Astronautin ins All zu fliegen, hatte sie allerdings schon aufgegeben: Seit einem Unfall mit dem Mountainbike vor ein paar Jahren hat Michaela Benthaus eine Querschnittlähmung.

Doch dann entdeckte sie „Mission AstroAccess“. Das US-amerikanische Projekt, das sich aus Spenden finanziert, möchte Ideen für eine inklusivere Raumfahrt ausprobieren und voranbringen. Michaela Benthaus bewarb sich, wurde angenommen und reiste Ende 2022 zusammen mit einem internationalen Team nach Houston im US-Bundesstaat Texas. Bei einem Parabelflug testeten die Teilnehmer:innen, die jeweils Geh-, Hör- und Sehbehinderungen haben, wie sich Raumfahrzeuge oder die Internationale Raumstation barrierefreier und inklusiver gestalten lassen. Viele dieser Lösungen könnten auch für Menschen ohne Behinderung nützlich sein, weil sie zum Beispiel die Sicherheit an Bord verbessern.

Für Menschen mit Behinderung könnten daraus langfristig Möglichkeiten entstehen, den Beruf Astronaut:in zu ergreifen. Michaela Benthaus hat dabei auch einen zukünftigen Weltraum-Tourismus im Blick.
Parallel zu „Mission AstroAccess“ hat übrigens auch die Europäische Raumfahrtagentur ESA einen Schritt zu einer inklusiveren Raumfahrt getan: Sie bildet in ihrem neuen Programm aktuell einen angehenden Astronauten mit körperlicher Behinderung aus.




Ein Pilotprojekt für Autor:innen mit Lernschwierigkeiten: die „Literatur-Bootschaft“ des Vereins ‚Ohrenschmaus‘

Toni, warum haben Sie sich für die „Literatur-Bootschaft“ beworben?

Toni: Ich drücke mich gerne mit Worten aus und habe schon als Jugendlicher angefangen, zu schreiben. Im Deutschunterricht in der Schule haben wir uns aber eher mit Grammatik als mit Geschichten beschäftigt. Ich habe mich zwar damals und auch als Erwachsener in meiner Freizeit an meine Texte gesetzt, aber leider immer wieder den Faden verloren. Durch das Projekt habe ich jetzt die Unterstützung, die mir vorher gefehlt hat. Wir sind alle hier, um zu schreiben, und sprechen viel über unsere Texte. Das hilft sehr. Ich habe in den ersten Wochen schon zwei Kurzgeschichten fertig geschrieben.

In welchem Beruf haben Sie bisher gearbeitet?

Toni: Ich bin gelernter Einzelhandelskaufmann, konnte irgendwann aber aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in dem Beruf arbeiten. Ein paar Jahre lang habe ich Gelegenheitsjobs angenommen. Im vergangenen Winter habe ich dann eine Stelle als Rezeptionist in einem Hotel bekommen. Das hat mir Spaß gemacht, allerdings bin ich mit der 45-Stunden-Woche nicht so gut zurechtgekommen.

Wie sieht Ihr Tagesablauf in der „Literatur-Bootschaft“ aus?

Toni: Die beiden anderen Autor:innen, unsere Mentorinnen und ich treffen uns morgens auf dem Badeschiff am Donaukanal (Anm.: ein Veranstaltungsort mit Schwimmbad und Gastronomie, der von einem inklusiven Team betrieben wird). Unsere Mentorinnen stellen uns jeden Tag eine neue Gedicht- oder Textart vor und erklären, welche Regeln wir beim Schreiben beachten müssen. Wir probieren dann selbst aus, tragen unsere Entwürfe vor, besprechen sie mit den anderen und arbeiten anschließend daran weiter. Es ist eine Art interaktiver Unterricht.

Frau Figl, Sie leiten die „Literatur-Bootschaft“ und begleiten die Autor:innen als Mentorin, blicken also von der anderen Seite auf das Projekt. Wie unterstützen Sie die Teilnehmer:innen über den Unterricht hinaus?

Figl: Meine Kolleginnen und ich helfen den Schreibenden zum Beispiel dabei, ihren Arbeitsalltag zu organisieren. Es ist für die meisten ja sehr ungewohnt, so vieles selbst zu gestalten. Wir machen deshalb gemeinsam mit ihnen Wochenpläne, tragen am Ende der Woche die Arbeitsstunden ein und unterstützen sie dabei, Texte und andere Dateien nach einem sinnvollen System abzuspeichern. Wir sind drei Mentorinnen, jede von uns betreut bestimmte Unterrichtsmodule und begleitet jeweils eine Person im Projekt. In diesen Tandems besprechen wir einmal pro Woche, welche Ziele wir erreichen möchten und wie wir Mentorinnen dabei unterstützen können. Das Ganze ist im Moment noch relativ schulisch, das wird sich aber im Laufe der Zeit sicher verändern.

Die Teilnehmer:innen der „Literatur-Bootschaft“ sind im Verein für eineinhalb Jahre fest angestellt. Wie werden sie bezahlt?

Figl: Die Autor:innen arbeiten 20 Stunden pro Woche, das Gehalt richtet sich nach dem Fair Pay Schema für eine Assistenz im Kulturbereich.

Wie viele Autor:innen haben sich für das Projekt beworben?

Figl: Nach unserem ersten Aufruf war der Rücklauf erst einmal zögerlich. Wir haben nur vier Bewerbungen bekommen. Das hat uns selbst etwas überrascht, weil der Verein „Ohrenschmaus“ ja sehr etabliert und als einzige Anlaufstelle für Autor:innen mit Lernschwierigkeiten bekannt ist. Ein Grund könnte sein, dass manche Autor:innen, die wir schon von anderen „Ohrenschmaus“-Projekten kennen, in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeiten. Für die „Literatur-Bootschaft“ hätten sie die Werkstatt zumindest vorübergehend verlassen müssen – da gab es viele Unsicherheiten und Fragen. Wir haben versucht, viele davon zu beantworten, und noch einmal für das Projekt geworben. Am Ende konnten wir zehn Bewerbungen an unsere Jury weitergeben, zu der unter anderem Autorinnen und eine Journalistin gehören.

Nach welchen Kriterien hat die Jury die Teilnehmenden ausgewählt?

Figl: Es ist natürlich sehr schwierig, kreative Arbeit zu beurteilen und zu vergleichen. Die Expert:innen in der Jury haben Kriterien wie Fantasie, Textaufbau und den sprachlichen Ausdruck diskutiert. Ein Thema war außerdem, ob und wie stark wir die Konstellation der Projektgruppe mitbedenken wollen. Eine reine Männergruppe fänden wir zum Beispiel eher unglücklich. Jede Person in der Jury hat vor dem Hintergrund dieser Überlegungen drei Bewerbungstexte ausgesucht, in denen sie Potenzial gesehen hat. Dadurch sind vier Bewerber:innen in die engere Auswahl gekommen, die wir zum Gespräch eingeladen haben. Im Organisationsteam überlegen und besprechen wir nun erneut, wie wir das Auswahlverfahren in der nächsten Runde gestalten wollen. Das ist ein ständiger Lernprozess.

Der erste Projektzeitraum endet im Herbst 2024. Was möchten Sie bis dahin erreichen?

Figl: Wir haben das Projekt in drei Abschnitte von je einem halben Jahr aufgeteilt. Der erste hat im Mai begonnen. In dieser Phase ging es erst einmal darum, beim Schreiben Neues kennenzulernen und sich auszuprobieren. Im zweiten Abschnitt werden wir dieses Wissen und die neuen Fähigkeiten vertiefen. Im dritten Block schauen wir dann schon auf die Zeit nach dem Projekt: Welchen Berufsweg können sich die Teilnehmenden vorstellen? Was möchten sie gerne praktisch ausprobieren? Es gibt ja sehr viele Möglichkeiten für Autor:innen und Texter:innen. Sie könnten sich auf Praktikumsplätze bewerben oder auf Stellen in der Öffentlichkeitsarbeit bei Unternehmen. Oder sie schreiben Ausstellungstexte in einfacher Sprache für Museen. Vielleicht möchte jemand auch gerne Veranstaltungen moderieren oder im Kulturbereich Führungen anbieten. Wir helfen unseren Autor:innen bei der Orientierung und natürlich auch bei den Bewerbungen. Und wir hoffen, dass wir durch unser Projekt Autor:innen mit Lernschwierigkeiten im Laufe der Zeit sichtbarer machen und ihnen neue Türen öffnen.

Toni, noch einmal Ihre Sicht als Autor im Projekt: Was ist Ihr persönliches Ziel für die Zeit nach der „Literatur-Bootschaft“?

Toni: Mein Traum ist es, Drehbuchautor zu werden und auf diesem Weg Themen in die Welt zu bringen, die mir wichtig sind. Ich finde, die Gesellschaft wird immer introvertierter. Viele Menschen glauben, dass sie niemanden brauchen. Sie sind mit sich selbst zufrieden. Meiner Meinung nach stecken Enttäuschungen hinter dieser Haltung. Aber wenn man sich davor versteckt, zieht man sich ja auch von den positiven Dingen zurück. Deshalb sollte man besser lernen, mit Enttäuschungen umzugehen.

Warum möchten Sie Ihre Themen gern in Filmen und nicht mit Texten zeigen?

Toni: Filme haben eine große Reichweite und sprechen viele Menschen direkter an als Bücher. Außerdem schreiben Drehbuchautor:innen ja nicht allein und für sich, sondern arbeiten mit anderen Filmleuten zusammen. Das gefällt mir. —


Über unsere Interviewpartner:innen




Inklusion gesellschaftlich vorantreiben

Ein Blick, ein Nicken, eine Geste mit dem Arm: Das Team von GrünBau-inklusiv versteht sich auch ohne Worte. 15 der insgesamt 35 Angestellten des Inklusionsunternehmens haben eine Behinderung, die meisten von ihnen eine Hörbehinderung. Deshalb haben sich unter den Kolleg:innen schnell allgemeinverständliche Gesten eingebürgert, erzählt Michael Stober, der ehemalige Geschäftsführer: „Den Versuch, mit Zetteln zu arbeiten, haben wir schnell wieder aufgegeben.“

Gerade arbeitet ein Trupp an der Klönnestraße in Dortmund an verschiedenen Aufgaben gleichzeitig. Zwei Angestellte fahren auf Geländemähern die Rasenflächen ab, zwei weitere sind mit Freischneidern auf dem Gelände unterwegs. Oleg Bolgert, der schon seit dem Start 2013 bei GrünBau-inklusiv arbeitet, organisiert und verteilt die Aufgaben. Er hat die Erfahrung gemacht, dass eine funktionierende Kommunikation nicht vom Gehör abhängt, sondern davon, dass seine Mitarbeiter:innen aufeinander eingehen und sich Mühe geben: „Es klappt immer gut, solange beide Seiten auch ein Interesse haben, verstanden zu werden. Und das ist eigentlich immer der Fall.“ Oleg Bolgert zeigt auf sich und einen Kollegen und deutet mit einer schnellen Armbewegung an, dass sie als nächstes die Wiese hinter der Häuserzeile angehen werden.

Inklusion vorleben

Wie an jedem zweiten Freitag wird sich auch heute Nachmittag das komplette Außenteam in der Zentrale der GrünBau-inklusiv gGmbH zum Freitalk treffen. Regelmäßig kommt dann auch ein Gebärdensprachdolmetscher dazu, um zu übersetzen und ausführlichere Gespräche zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit und ohne Hörbehinderung zu ermöglichen. Anja Coumans, seit Januar 2022 die neue Geschäftsführerin des Unternehmens, sind diese Treffen sehr wichtig. Dass die Zusammenarbeit im Team so gut funktioniert und sich alle gut verstehen, sei schließlich kein Zufall, sondern das Ergebnis solcher Maßnahmen – und ein wichtiges Signal für die Gesellschaft.

Zum guten Arbeitsklima tragen auch regelmäßige Kollegen-Seminare bei: Mehrere Mitarbeiter:innen mit und ohne Behinderung verbringen gemeinsam jeweils ein Wochenende, um sich gegenseitig besser kennenzulernen. Zusätzlich bietet das Unternehmen Gesundheitswochen an und organisiert alle drei bis vier Monate ein Treffen mit dem Integrationsfachdienst, der Menschen mit Behinderungen und Inklusionsbetriebe unterstützt und berät.

Drei Mitarbeiter von Grünbau im Einsatz
Das Team kommuniziert vor allem über Gesten. Das bietet sich wegen der Ohrenschützer ohnehin an, die die Mitarbeiter gegen den Lärm tragen müssen. Foto: LWL

Gleiche Chancen für alle

Gleiche Chancen und Gleichberechtigung heißt bei GrünBau-inklusiv auch, dass alle Mitarbeiter:innen die Möglichkeit haben sollen, sich fachlich weiterzubilden. Was einfach klingt, ist in der Praxis manchmal eine große Herausforderung.
Ein Beispiel: Das Inklusionsunternehmen aus Dortmund war der erste Betrieb in Deutschland, der für Menschen mit Hörbehinderung, die sich mit Gebärdensprache verständigen, eine Ausbildung zur Baumaschinenführung angeboten hat. Der bürokratische Aufwand, den Michael Stober und die anderen Verantwortlichen im Betrieb für dieses Spezialangebot betreiben mussten, war enorm. Doch der Erfolg spornte sie an. Sie richteten für ihre Mitarbeiter:innen mit Hörbehinderung auch noch die Möglichkeit ein, einen Kettensägenschein zu machen. Zurzeit bereiten sie in Kooperation mit der Berufsgenossenschaft weitere Lehrgänge vor

Auf dem richtigen Weg

Von diesem Engagement profitieren langfristig nicht nur die Angestellten, sondern auch das Unternehmen selbst. Die Konkurrenz ist groß und der Fachkräftemangel trifft den Garten- und Landschaftsbau ebenso sehr wie andere Branchen. Die besonderen Weiterbildungsangebote sind für die GrünBau-inklusiv gGmbH ein wichtiger Baustein, um sich als attraktiver Arbeitsgeber zu positionieren.
Diese Strategie geht auf. Das Unternehmen ist in seiner zehnjährigen Geschichte gewachsen, aus 28 wurden 35 Angestellte, der Umsatz hat sich mehr als verdoppelt. Der größte Kunde sind die Dortmunder Stadtwerke, die zur Dortmunder Energie- und Wasserversorgung GmbH gehören. Außerdem hat GrünBau-inklusiv mit dem Schwerpunkt auf gärtnerischer Grünpflege bei Wohnbaugesellschaften, Firmen- und Privatkunden eine ganz eigene Nische besetzt und sich inzwischen am Markt etabliert.

Anja Coumans und ihre Kolleg:innen ruhen sich auf diesem Erfolg aber nicht aus. In Zukunft möchten sie das Unternehmen noch bekannter machen und weitere Kunden gewinnen. —




Inklusion zwischen Bistrotheke und Gemüseregal

Über der Eingangstür hängt ein großes Schild mit der Aufschrift „Der Bioladen“. Drinnen, im großen, hellen Verkaufsraum, herrscht entspannte Geschäftigkeit. In der Luft liegt der Duft der Gemüselasagne, die es als Tagesgericht im Bistro zu essen gibt.

Hinter der Bistrotheke steht Helen Jarosch und begrüßt mit ihrer herzlichen Art die Kunden, die zum Einkaufen oder zum Mittagessen kommen. Früher arbeitete die junge Frau selbstständig in der Gastronomie, musste diese Tätigkeit wegen ihrer Behinderung im Jahr 2015 aber wieder aufgeben und sich einen neuen Job suchen. Sie fing als Reinigungskraft im „Bioladen“ an, einem von drei Inklusionsbetrieben im Lebensmittelbereich der INTEGRA gGmbH des Vereins INI. Sie sah in der Stelle eine große Chance und lernte schnell und viel dazu, irgendwann stieg sie als Verkäuferin ein. Für den Betriebsleiter Henning Jahns ist Helen Jarosch inzwischen eine verlässliche Größe bei der Schichtplanung und auch sonst eine unverzichtbare Mitarbeiterin – nicht zuletzt, weil sie gerne einspringt, wenn Kolleginnen oder Kollegen krank werden.

Viele Erfolgsgeschichten

Wie Helen Jarosch haben sich viele von ihnen im Laufe der Zeit in neue Bereiche eingearbeitet und neue Aufgaben übernommen. Hinter diesen Erfolgsgeschichten steckt aber nicht nur viel Einsatz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst. Auch ihre Vorgesetzten tun eine Menge dafür, dass sich jeder im Team gut entfalten und weiterentwickeln kann. „Der Mehraufwand am Anfang zahlt sich auf lange Sicht aus – in der persönlichen Entwicklung der Mitarbeiter, aber auch unternehmerisch“, erklären Geschäftsführer Andreas Knapp und Betriebsleiter Henning Jahns. „Unsere Angestellten sind loyal, ehrlich und sehr verbunden mit dem Betrieb.“

Gerade zu Beginn investieren die Verantwortlichen erst einmal Zeit und Energie, um neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anzulernen. Viele von ihnen haben vorher in einem Praktikum ausprobiert, in welchem der INI-Inklusionsunternehmen sie gerne arbeiten wollen. Der tägliche Kundenkontakt ist schließlich nicht für jeden das Richtige, und nicht jede und jeder möchte oder kann im Bistro arbeiten wie Helen Jarosch. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen also einen Arbeitsplatz finden, der zu ihren individuellen Fähigkeiten passt, aber auch ihre Grenzen berücksichtigt. Nur so kann die Zusammenarbeit funktionieren und – das wird häufig vergessen – zu wirtschaftlichem Erfolg führen.
Im „Bioladen“ ist das gelungen: Eine starke Steigerung des Umsatzes und ein florierendes Geschäft zeigen, dass der Betrieb mit seinem inklusiven und diversen Team auf dem richtigen Weg ist. Das Bistro ist zur Mittagszeit rappelvoll, Helen Jarosch hat hinter der Theke alle Hände voll zu tun.

Andreas Knapp in der Obst- und Gemüseabteilung des Bioladens Lippstadt.
Für Andreas Knapp ist Inklusion selbstverständlich. Der Geschäftsführer der INTEGRA gGmbH beschäftigt 85 Menschen mit Behinderung.

Regionale Zusammenarbeit und nachhaltige Konzepte

Auch in vielen Zuliefererbetrieben des Unternehmens arbeiten Menschen mit und ohne Behinderung zusammen. Die drei INTEGRA-Lebensmittelgeschäfte bekommen ihre Waren von einem inklusiven Bauernhof, der ebenfalls zum Verein INI gehört, der JOSEFS-Brauerei, dem Kiebitzhof und der BioManufaktur Schloss Hamborn.

Die INTEGRA gGmbH setzt neben der engen Vernetzung mit anderen Betrieben in der Region auch auf das Thema Nachhaltigkeit und entwickelt daraus wirtschaftliche Konzepte. So waren die Läden des Unternehmens vor einigen Jahren die ersten, die das Mineralwasser des sozial engagierten Herstellers „Viva con Agua“ aus Lippstadt in ihr Sortiment aufnahmen. Inzwischen führen auch andere Lebensmittelhändler und Gastronomie-Unternehmen die Marke. Zurzeit wird daran gearbeitet, möglichst plastikfrei zu werden, zum Beispiel durch „Unverpackt-Lösungen“ wie ein Gläserpfandsystem für Oliven, Nudeln und Reis.

Für die Zukunft haben Andreas Knapp und seine Kollegen noch viele weitere Ideen, die in diese Richtung gehen. „Das Beispiel ‚Viva von agua‘ hat uns gezeigt, dass sich die gesellschaftliche Vorreiterrolle als Inklusionsbetrieb auch auf andere Bereiche übertragen lässt“, sagt der Geschäftsführer. „Offen zu sein für alle und alles – das kann auch heißen, neue Wege als Erster zu sehen und wirtschaftlich zu erschließen.“ —




Spitzenreiter bei der Ausbildung

Bevor die zwei Geschäftsführerinnen des Lippischen Kombi-Service gGmbH (LKS) Zeit für ein Interview haben, steuern sie erst einmal die Essenstheke an. Sie konnten den ganzen Tag noch nichts essen – und hier wisse man schließlich, dass es schmeckt. „Pop&Corn“, der Catering-Service des Unternehmens, sei zwar schon vorher am Berufskolleg in Lemgo aktiv gewesen. Die vor wenigen Wochen in Betrieb genommene Küche biete aber ganz neue Möglichkeiten.

Seit 16 Jahren ist Monika Zimmermann beim LKS. Ende nächsten Jahres übergibt sie die Geschäftsführung komplett an Simone Luther, die bereits sieben Jahre im gemeinnützigen Unternehmen tätig ist. Ob sich nach dem Wechsel etwas ändert? „Na ja, sie ist jünger als ich“, sagt Zimmermann, beide lachen. Luther will den etablierten Kurs beibehalten. Und dazu gibt es Anlass.
Wie gut das Essen hier ist, spricht sich schnell herum; fast schon zu schnell. Zum ersten Mal in der 35-jährigen Unternehmenshistorie kann der LKS nicht alle Anfragen bedienen. Das Interesse an den Verpflegungsdiensten aus Detmold ist groß. Inklusion sei selbstverständlich auch ein Faktor bei den Anfragen, erklärt Zimmermann, und bei manchen Schulen auch ein Auswahlkriterium. Aber nach ein bis zwei Jahren stehe das gar nicht mehr so im Mittelpunkt – was auf den Teller kommt, bleibe präsenter.
„Primär kommen die Anfragen, weil andere Schulen sagen: Wir sind sehr zufrieden mit unserem Caterer“, resümiert die langjährige Geschäftsführerin. Ein Empfehlungsmarketing, das sich bewährt hat: Mittlerweile kocht und catert der LKS an 48 Standorten im Umkreis.

Simone Luther und Monika Zimmermann nebeneinander vor der Kantine.
Das Führungsduo: Die LKS-Geschäftsführerinnen Simone Luther (l.) und Monika Zimmermann. Foto: LWL

50 Auszubildende

Der LKS ist in der ganzen Region tätig und beschäftigt rund 250 Mitarbeiter:innen, von denen rund die Hälfte eine Schwerbehinderung hat. Die Dienstleistungen des Unternehmens reichen von einer Wäscherei über Datensicherung bis zum Catering.
Ein Schwerpunkt des Unternehmens liegt in der inklusiven, theoriereduzierten Ausbildung, die zusätzlich zur Vollausbildung angeboten wird. Um die 50 Auszubildende sind so im Betrieb verteilt beschäftigt – das ist der Spitzenwert in der Region Westfalen-Lippe.
Jugendliche mit einer Lernbehinderung können zum Beispiel die theoriereduzierte Ausbildung „Fachpraktiker:in Küche“ absolvieren. Ihre Ausbilder:innen wie Frank Schlepper, Leiter der Küche im Berufskolleg, nehmen in der Praxis Rücksicht auf die individuellen Bedürfnisse der Auszubildenden.

Nach einer pandemiebedingten Pause erreichen die Zahlen wieder das Niveau der Vorjahre. „Dieses Jahr waren es fast so viele wie noch nie“, sagt Simone Luther. 24 Neuzugänge befinden sich momentan in der Ausbildung oder einer Einstiegsqualifizierung. Die einjährige Einstiegsqualifizierung zur Ausbildung ist mit die wichtigste, aber auch die schwierigste Zeit. „Das ist nochmal das kleine Einmaleins“, erklärt Luther – eine Phase, in der man vieles neu anlernen müsse. Zimmermann sieht darin aber auch eine Stärke des Konzeptes: Was Vorgesetzte in einer „normalen“ Ausbildung bereits anmahnen müssten – etwa ein unangekündigtes Fehlen – können sie hier auffangen und persönlich klären. Dadurch bekommen junge Menschen die Chance, sich im neuen Beruf und Umfeld einzuleben.

Ein gutes Teamklima ist die Grundlage

„Die Blase LKS“, wie eine Mitarbeiterin diesen eigenen Mikrokosmos einmal etwas verschmitzt beschrieb, setzt auf Zwischenmenschliches. Man kenne eigentlich jede:n Mitarbeiter:in, erklärt Zimmermann, was zusammen mit einem guten Teamklima dazu führe, dass wenige aus dem Raster fallen. Gerade Problemen wie häufigen Krankheitsfällen und fehlender Arbeitskontinuität kann so vorgebeugt werden.
Auch am Arbeitsplatz helfen sich alle gegenseitig, pflichtet Frank Schlepper bei. Die Stärken und Schwächen der unterschiedlichen Mitarbeiter:innen ergänzen sich, man unterstützt einander – mit gutem Ergebnis.
Der großgewachsene Küchenchef kehrte nach zwei Jahren in einem anderen Unternehmen zum LKS zurück, die Arbeit und die Menschen lägen ihm hier einfach mehr. An der Ebenbürtigkeit aller Mitarbeiter:innen zeigt sich für ihn das Besondere des Unternehmens – und am Erfolg des inklusiven Konzepts: „Dass wir hier Sachen schaffen, die auch andere, nicht-inklusive Caterer mit ihrem Personal machen – das ist für mich die größte Bestätigung.“

Erfolgsgeschichten

Für den Küchenleiter liegt der Schlüssel zum Erfolg in der gegenseitigen Offenheit. Wer unvoreingenommen an die Sache herangehe, werde das Arbeiten mit und Ausbilden von Menschen mit Behinderung nicht bereuen. Sein Fazit aus vielen Jahren im Job: „Keine Vorurteile haben, einfach machen, loslegen und gucken, wohin die Reise geht. Damit habe ich nie schlechte Erfahrungen gemacht.“

Und die gemeinsame Reise gestaltet sich – für alle Beteiligten – als Gewinn. Elli Jurk, eigentlich Auszubildende in einer anderen LKS-Küche in Lemgo, hilft gerade am neuen Standort aus. „Ich bin immer die Erste“, berichtet die 20-Jährige, die mit einer Cerebralparese lebt. Sie hilft, den Küchenalltag vorzubereiten, startet die Öfen, backt die Brezeln – eine unerlässliche Stütze für die neue Küche. Sind die Schüler:innen zufrieden, ist die Auszubildende es auch: „Wenn man die Kinder sieht, wenn die anstehen zum Essen, dass die glücklich sind und sich freuen“ – diese Freude ist auch für sie das Highlight des Arbeitstages.
Mittlerweile ist sie im letzten Ausbildungsjahr und fühlt sich sehr wohl. Das Team sei nett und hilfsbereit und jede:r habe Gelegenheit, sich kreativ in der Küche und Essensplanung einzubringen. Außerdem nähmen die Vorgesetzten sich Zeit für alle Mitarbeiter:innen. Das sei für das Gelingen der Ausbildung unerlässlich, deren guter Verlauf Elli auch für die Zukunft positiv stimmt: „Dann bin ich ausgelernt und habe schon Erfahrungen gesammelt.“

Die Auszubildende Elli Jurk mit Kochuniform in der LKS-Küche.
Die Auszubildende Elli Jurk arbeitet in der Küche in Lemgo tatkräftig mit. Foto: LWL

Noel, ebenfalls 20 und heute zur Aushilfe in Lemgo, schlägt ähnliche Töne an. Der Auszubildende mit Konzentrationsstörung wollte sich schon früher in der Gastronomie bewerben – über eine berufsvorbereitende Maßnahme bei einem Bildungsträger fand er schließlich den Weg zum Lippischen Kombi-Service. Die Arbeit macht ihm Spaß, „denn hier kann ich mich kreativ ausleben.“ Er kocht für sein Leben gern, ein besonderes Faible habe er fürs Würzen und für vegetarische Gerichte. In der Ausbildung sieht er einen wichtigen Baustein für seine Zukunft. „Ich will mich selbstständig machen“, offenbart er grinsend – „vielleicht auch mit einem Restaurant“.

Nach den vielen Jahren als inklusiver Ausbilder überwiegen für Küchenchef Schlepper klar die positiven Seiten. Wer sich auf die Jugendlichen einlasse, finde sich später in einem Team wieder, das von starkem gegenseitigen Vertrauen geprägt sei – und das motiviere. Es komme oft vor, dass junge Menschen sich nach der theoriereduzierten Ausbildung zum Beikoch auch an die Vollausbildung wagen. Frank Schlepper begleitet sie dann mehrere Jahre lang. Diesen Weg ein Stück mitzugehen und am Ende zur bestandenen Prüfung zu gratulieren: „Das sind die größten Erfolge.“

Hürden und Chancen

Insgesamt läuft die Arbeit gut, aber sie wird nicht einfacher, denn mittlerweile muss der LKS immer mehr auffangen. Jugendliche, die auf dem traditionellen Arbeitsmarkt durch die Raster fallen, bekommen beim LKS die Chancen und Betreuung, die ihnen anderswo nicht zuteilwurden. Das mehrt sich aktuell, gerade bei Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Zunehmend werden außerdem Jugendliche mit Migrations- oder Fluchthintergrund an das Unternehmen vermittelt. Bei manchen von ihnen tritt im Verlauf der Ausbildung noch eine psychische Erkrankung zutage, die vorher schlicht nicht erfasst wurde. Für Monika Zimmermann besteht also immer noch Handlungs- und Aufklärungsbedarf. „Viele wissen immer noch nicht, was Inklusion überhaupt ist“, sagt sie. Und zu wenige seien bereit, sich dafür einzusetzen, ergänzt Simone Luther: „Wirklich mitmachen und mithelfen, wenn es ans Eingemachte geht, wollen die wenigsten.“
Da fühle man sich gelegentlich schon allein gelassen oder überfordert. „Lieber LKS, rettet das Ganze, macht was draus“, fasst Monika Zimmermann schulterzuckend zusammen, was oft an sie herangetragen wird. Einer kurzen Pause folgt ein stolzes Lächeln: „Aber manchmal machen wir ja auch was draus.“ Der LKS müsse viel für die Betreuung der einzelnen Azubis leisten – aber es stecke auch in jedem Jugendlichen Potenzial, für das sich der Einsatz lohne. —




Wie eine große Familie

Es duftet nach Tomatensauce und gebratenem Hackfleisch. In der Auslage der knallig-roten Theke dampfen gefüllte Paprika. Die Cafeteria „Köstlich“  der Integrationsküche Nordkirchen rüstet sich für den großen Ansturm. Jetzt, um kurz nach halb zwölf, ist es noch ruhig, aber das wird sich in der nächsten Stunde ändern. Torsten Wißmann und einige seiner Kollegen nutzen die Zeit und essen das, was sie in den Stunden zuvor selbst gekocht haben. Der 41-Jährige, der aus der Werkstatt für Menschen mit Behinderungen (WfbM) des Caritasverbandes in Nordkirchen zur Integrationsküche wechselte, gehört zu den Mitarbeiter:innen mit Behinderung und arbeitet seit Mai 2016 auf einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz.

Wenn Torsten Wißmann morgens seinen Dienst antritt, weiß er genau, was zu tun ist. Lebensmittel heranschaffen, Gemüse oder Fleisch anbraten, in großen Töpfen umrühren, später auch spülen oder mit einem der Elektro-Fahrzeuge Essen auf dem weitläufigen Gelände der Kinderheilstätte Nordkirchen, zu der die Integrationsküche gehört, ausfahren. Für ihn ist die Arbeit keine Last, ganz im Gegenteil: „Ich koche sehr gerne, deswegen finde ich meinen Job auch so gut.“ Die Kolleginnen und Kollegen sind für ihn, so sagt er, „wie eine große Familie.“

Niemand wird überfordert

So etwas hört Thomas Pliquett gerne. Er ist Kaufmännischer Direktor der zum Gesamtkomplex gehörenden Trägerschaft Vestische Caritas Kliniken Kinderheilstätte und Geschäftsführer der Integrationsküche Nordkirchen GmbH. „Wir schauen genau hin, wie belastbar der einzelne Mitarbeiter ist“, sagt Pliquett. Niemand soll überfordert werden.

Seit Anfang 2016 gibt es die Integrationsküche Nordkirchen. „Früher hatten die Einrichtungen ihre eigenen kleinen Küchen, das war alles nicht mehr kostendeckend. Man braucht heute gut 1500 Essen täglich, um wirtschaftlich zu sein. Wir hatten hier in Nordkirchen nur 500“, so Pliquett. Man habe vor der Entscheidung gestanden: „Bauen wir eine neue Großküche, die leistungsfähiger ist als die bisherigen zusammen, oder lassen wir es?“

Auf Expansionskurs

Die neue Küche wurde gebaut, auch weil sich neben der Muttergesellschaft Institutionen wie das NRW-Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales, das LWL-Inklusionsamt Arbeit, die Stiftung Wohlfahrtspflege NRW und die Aktion Mensch finanziell engagierten. Während der Planungsphase wurde Thomas Pliquett durch die Betriebswirtschaftliche Beratungsstelle für Inklusionsbetriebe bei der Handwerkskammer Münster unterstützt. Pliquett und seine Kollegen schauten sich andere Großküchen an, recherchierten die technischen Notwendigkeiten, kalkulierten das Investitionsvolumen – und machten sich dann an die Kundenakquise. Klar war, dass die neue Integrationsküche die Kinderheilstätte versorgen sollte, aber auch weitere Einrichtungen in Nordkirchen wie die Gesamtschule, Kindergärten oder die Werkstätten des Caritasverbandes für den Kreis Coesfeld in Nordkirchen.

Der Start 2016 mit 850 Essen war gut, aber noch ausbaufähig. 2019 kamen weitere Werkstätten aus dem Caritas-Verbund in Lüdinghausen und Lünen sowie die Vestische Kinder- und Jugendklinik in Datteln, die zum Trägerverbund gehört, hinzu. „Heute sind wir bei 1600 Essen täglich“, sagt Thomas Pliquett. „Das ist dann auch die Grenze für einen Ein-Schicht-Betrieb.“ Schließlich müssten sich alle Mitarbeiter:innen zurechtfinden. Auch deren Zahl ist gestiegen. Waren es vor kurzem noch 25, sind es jetzt 41, 16 von ihnen haben eine Behinderung. In der Integrationsküche arbeiten Menschen mit geistiger, psychischer und körperlicher Behinderung Seite an Seite mit Menschen ohne. Die Verantwortlichen schauen bei der Planung vor allem auf die individuelle Qualifikation, deshalb sind die jeweiligen Teams auch sehr gemischt.

Betriebswirtschaftlich organisiert

Natürlich steht die Integrationsküche Nordkirchen in einem harten Wettbewerb. Sie ist streng betriebswirtschaftlich organisiert; vom Betriebsleiter über die Produktionsleiterin, die Köche und Wirtschafterinnen bis zu den Küchenhilfen und Fahrern. Auch Diätassistentinnen sind hier beschäftigt. Und selbstverständlich bietet die moderne Großküche auch regionale, vegetarische und vegane Essensalternativen an.

Mit drei Transportern liefern Torsten Wißmanns Kollegen täglich die Mahlzeiten aus, gut verpackt in Thermoporten. „Der Preis bei uns ist etwas höher als bei den Branchenriesen, ­aber dafür ist das Essen auch regionaler“, sagt Thomas Pliquett. Und es schmecke einfach. „Wir wollen zufriedene Kunden haben, gute Qualität ist da entscheidend. Ein Mittagessen für 3,50 Euro können wir deshalb nicht bieten“, so Pliquett.

Menschliches Maß

Auch einer Expansion um jeden Preis erteilt der Kaufmännische Direktor eine Absage. „Wir wollen in unserem Kerngebiet bleiben. Ein 25-Kilometer-Radius ist in Ordnung, mehr aber nicht“, sagt Pliquett. Und fügt hinzu: „Wir sind und bleiben die regionale Großküche für Nordkirchen und Umgebung.“ Überhaupt hat in der Integrationsküche alles ein menschliches Maß. Eine Sozialpädagogin steht den Beschäftigten mit Behinderungen bei Bedarf als Ansprechpartnerin zur Verfügung, Probleme werden möglichst sofort geklärt. Auch der Krankenstand der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderungen ist nicht höher als bei der übrigen Belegschaft.

Torsten Wißmann ist ebenfalls nur sehr selten krank. Es gefällt ihm in Nordkirchen. Woanders zu arbeiten, kann er sich nicht vorstellen. Nur sein Lieblingsessen vermisst er manchmal, denn das gibt es in der Integrationsküche nicht so häufig: „Sauerbraten und Königsberger Klopse.“ —