Ein Model mit Downsyndrom erzählt von sich und ihrem Job

Langes braunes Haar, helle blaue Augen, unzählige Sommersprossen und ein strahlendes Lächeln – Tamara Röske verdient ihr Geld als Model unter anderem mit ihrem Aussehen und ihrer Ausstrahlung. In einem YouTube-Interview mit Leeroy Matata erzählt sie, wie es dazu kam und was sie in ihrem Job schon alles erlebt hat. Sie hat sie zum Beispiel schon in Paris, Rom, Wien und München gearbeitet, war also in gleich mehreren Modehauptstädten Europas unterwegs. Neben ihrer Karriere als Model schauspielert Tamara Röske auch noch, und zwar sowohl in Fernsehrollen („Die Toten vom Bodensee“, ORF/ZDF) als auch im Kino („Fack ju Göthe“, Teil 3; mit dem Hauptdarsteller Elyas M’Barek ist sie heute befreundet, verrät sie im Interview).

Tamara Röske ist oft auch Hass und Diskriminierungen ausgesetzt, vor allem im Netz. Im Interview liest Leeroy Matata als Beispiel einen Kommentar vor, den jemand unter einen Post auf Röskes Instagram-Seite gesetzt hat: „Nur normale Menschen dürfen sich so präsentieren“, schreibt eine Nutzerin dort. Mit solchen behindertenfeindlichen Ansichten anderer Menschen ist Tamara Röske häufiger konfrontiert. Sie versucht, souverän damit umzugehen: „Ich hab’s schon mal gesagt: Das geht da rein und da wieder raus.“

Leeroy Matata fragt zum Abschluss noch, was Tamara Röske anderen Menschen raten würde, wenn sie unsicher sind, wie sie sie am besten behandeln sollen. Auch darauf hat sie eine klare Antwort: „Nett, höflich und nicht anstarren.“




102 Jahre Schwerbehindertenvertretung: Interview mit zwei Vertrauenspersonen, die seit 20 Jahren dabei sind

Frau Porcher, Herr Graute, Sie blicken auf zwei Jahrzehnte Erfahrung damit zurück, Menschen mit Schwerbehinderung innerhalb Ihrer Kliniken zu unterstützen. Sie kennen den Job also sehr gut. Was sollte jemand mitbringen, die oder der sich als Vertrauensperson engagieren möchte?

Graute: Als erstes fällt mir Beharrlichkeit ein. Auch wenn ein Anliegen auf den ersten Blick gar nicht so kompliziert zu sein scheint, ist es manchmal ganz schön komplex, das zu organisieren. Ein Beispiel: Menschen mit Sehbehinderung brauchen einen Computer mit einem großen Arbeitsspeicher, das hat mit der Software zu tun, die Texte auf dem Bildschirm vorliest. Bei der Anschaffung eines solchen Geräts sind beim jeweiligen Kostenträger unter Umständen mehrere Abteilungen oder Sachbearbeiter:innen beteiligt, zwischen denen wir vermitteln müssen. Als Vertreter muss ich also bei allen immer wieder nachhaken und dranbleiben. Oft müssen wir auch erst einmal klären, welcher Kostenträger zuständig ist und ob die Beschäftigten selbst oder die Arbeitgeber ein Hilfsmittel beantragen müssen. Dann meldet sich noch die hauseigene IT-Abteilung, die Probleme mit Geräten hat, die sie nicht selbst angeschafft und zertifiziert hat. All das kann sehr kleinteilig und langwierig sein.

Porcher: Davor sollte aber niemand Angst haben. Vertrauenspersonen müssen meiner Erfahrung nach vor allem empathisch sein und Lust haben, Menschen zu helfen und zu unterstützen. Wer das mitbringt, kann sich das nötige Wissen schrittweise aneignen. Dann lässt es sich sehr zielführend einsetzen. Und das macht Spaß.

Sie beide haben sich also vor 20 Jahren noch einmal in einen ganz neuen „Job“ eingearbeitet. Hatten Sie dabei Hilfe?

Porcher: Ja, es gibt verschiedene Fortbildungen, in denen Vertrauenspersonen das nötige Handwerkszeug lernen, es wird also niemand damit allein gelassen. Wir müssen zum Beispiel über die gesetzlichen Rechte und Pflichten der Schwerbehindertenvertretung Bescheid wissen. Ich engagiere mich seit 2014 auch in der Gesamtschwerbehindertenvertretung des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe. Auch dafür habe ich mich weitergebildet. Heute bin ich außerdem Ansprechpartnerin für das Betriebliche Eingliederungsmanagement.

Ihre Aufgaben haben sich also mit der Zeit entwickelt und Sie mussten nicht von Anfang an über alles Bescheid wissen?

Porcher: Nein, das geht ja auch gar nicht, denn wir beraten ja zu ganz verschiedenen Themen. Im Laufe der Jahre haben wir nach und nach die nötige Erfahrung und das Wissen angesammelt. Ich habe zum Beispiel Kolleg:innen mit einem Rückenleiden dabei unterstützt, die nötigen Anträge zu stellen, damit eine Schwerbehinderung oder eine Gleichstellung bei ihnen anerkannt wird. Wenn Beschäftigte lange krank waren und wiederkommen möchten, helfe ich bei der Wiedereingliederung. Kolleg:innen mit Hörbehinderung brauchen oft bestimmte Hilfsmittel. Ich unterstütze sie dabei, diese auch zu bekommen.
Die eigene Gesundheit oder eben Erkrankung ist ja etwas sehr Persönliches, die Kolleg:innen bringen uns sehr viel Vertrauen entgegen. Dem möchte ich natürlich gerecht werden. Wichtig ist, ein gutes Netzwerk aufzubauen, um immer schnell die benötigte Hilfe oder einen Rat zu bekommen.

Wie ist es Ihnen im Laufe der Jahre damit ergangen, dass die Kolleg:innen sich Ihnen so anvertrauen?

Graute: Das ist ein sehr schönes Gefühl und ja auch einer der Gründe, warum ich diesen Job so gerne mache. Manchmal ist das aber nicht so leicht. Es kommt vor, dass Kolleg:innen mir von einer schweren Erkrankung erzählen, etwa von einer Krebserkrankung mit schlechter Prognose. Oft suchen sie gar keinen konkreten Rat, sondern möchten sich einfach jemandem anvertrauen. In solchen Momenten geht mir das schon sehr nahe.

Porcher: So etwas habe ich auch schon erlebt, das ist mir auch sehr nahegegangen. Aber es gehört dazu, auch dann, wenn man selbst starke Gefühle mit einer Situation hat, empathisch zu sein und zu helfen, so gut es geht.

Und was ist Ihnen aus Ihrer bisherigen Amtszeit besonders positiv in Erinnerung geblieben?

Porcher: Für mich sind es die vielen kleinen Erfolge, über die ich mich freue und die diese Aufgabe so schön machen. Ich bin immer wieder begeistert, wenn Kolleg:innen mit Hörbehinderung dank ihrer Hilfsmittel in Teambesprechungen alles mitbekommen. Das ist nicht nur für sie, sondern für das ganze Team einfacher und entspannter. Und ich freue mich, wenn erkrankte Beschäftigte gut wieder in den Job einsteigen können. Oder auch, wenn wir für jemanden eine Erwerbsminderungsrente auf Zeit erreichen, damit die- oder derjenige sich vollständig von einer Krankheit erholen kann.

Graute: Ich erinnere mich an ein Vorstellungsgespräch in unserer Küche. Der Küchenchef hatte seinen Stellvertreter geschickt. Das stellte sich als großer Glücksfall heraus. Es hatte sich nämlich ein Gehörloser beworben, und der stellvertretende Küchenchef beherrschte die Deutsche Gebärdensprache. Wir haben die Zusammenarbeit ausprobiert, und es klappte gut. Inzwischen arbeiten vier Gehörlose in der Küche. Der frühere stellvertretende Küchenchef, der innerhalb des Teams übersetzen konnte, ist zwar heute nicht mehr da. Aber es klappt im Arbeitsalltag trotzdem gut, weil alle gelernt haben, sich gegenseitig zu verstehen. Das ist für mich ein toller Erfolg.

Was geben Sie Menschen mit auf den Weg, die ganz neu dabei sind, also das erste Mal als Vertrauensperson arbeiten?

Graute: Lasst euch nicht entmutigen, sondern bleibt einfach dran! Bei mir selbst hat es damals auch lange gedauert, bis alle mich in der neuen Rolle akzeptiert und meine Vorschläge angenommen haben. Dass Bärbel Porcher und ich heute oft so gut helfen können, liegt ja auch daran, dass wir schon so lange im Amt sind. Wir haben uns ein großes Netzwerk und einen guten Ruf aufgebaut. Das braucht einfach Zeit. Wer Unterstützung sucht oder sich austauschen möchte, kann sich mit anderen Vertrauenspersonen vernetzen, hier in Nordrhein-Westfalen geht das in der Arbeitsgemeinschaft der Schwerbehindertenvertretungen.

Porcher: Ich finde es wichtig, sich bei Konflikten sofort mit allen Beteiligten zusammenzusetzen, auch mit den Vorgesetzten. Meiner Erfahrung nach ist es am besten, Lösungen aufzuzeigen. Ich versuche immer, zu erklären, wie eine solche Lösung den Arbeitsaufwand reduzieren oder dabei helfen kann, dass jemand gar nicht erst krank wird und ausfällt. Das ist ja eine Win-Win-Situation, die Arbeitgeber:innen meistens gerne unterstützen und umsetzen. —


Die Geschichte der Schwerbehindertenvertretungen

Der Grundstein für die Schwerbehindertenvertretung in Betrieben, wie wir sie heute kennen, wurde schon im Jahr 1920 gelegt. Die Zwischenstationen von damals bis heute:

6. April 1920

Das (damals noch so genannte) Schwerbeschädigtengesetz tritt in Kraft.

Betriebe mit mindestens 100 Arbeitnehmer:innen waren damit erstmals gesetzlich verpflichtet, einen Vetrauensmann einzuführen.

6. April 1920
19. April 1974

Das Schwerbehindertengesetz löst das Schwerbeschädigtengesetz ab.

Der geschützte Personenkreis erstreckt sich nun auf alle Menschen mit Schwerbehinderung, unabhängig von Art und Ursache ihrer Behinderung.

19. April 1974
1. Juli 2001

Das Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) wird eingeführt.

Der (heutige) Teil 3 des Sozialgesetzbuchs umfasst das Schwerbehindertenrecht. Es wird in den Folgejahren umfassend reformiert. Dabei werden unter anderem die Inklusionsvereinbarung und das Betriebliche Eingliederungsmanagement eingeführt.

1. Juli 2001
26. März 2009

In Deutschland tritt die UN-Behindertenrechtskonvention tritt in Kraft.

Das Ziel der Konvention ist die volle Gleichberechtigung für alle Menschen mit Behinderungen mit Blick auf sämtliche Menschenrechte und Grundfreiheiten.

26. März 2009
23. Dezember 2016

Das Bundesteilhabegesetz wird erlassen.

Es tritt in vier Reformstufen bis 2023 in Kraft und umfasst Maßnahmen, die die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen verbessern sollen. Unter anderem erhält die Schwerbehindertenvertretung in Betrieben und Unternehmen (die so genannte Vertrauensperson) mehr Rechte und wird damit gestärkt.

23. Dezember 2016
1. Juli 2022

Die Schwerbehindertenvertretung feiert ihren 102. Geburtstag!

Außerdem werden die Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber (EAA) eingeführt. Sie informieren, beraten und unterstützen Arbeitgeber:innen bei der Ausbildung, Einstellung und Beschäftigung von Menschen mit Schwerbehinderung.

1. Juli 2022



Filmtipp: Das ZDF begleitet zwei Schwestern mit und ohne Down-Syndrom

Die beiden Schwestern erzählen im Film von ihrer gemeinsamen Kindheit und Jugend und was sie sich für ihre Zukunft wünschen. Für Victoria ist der Berufseinstieg außerdem einfacher als für ihre Schwester, denn Elisabeth muss beim Jobcenter erst einmal finanzielle Unterstützung für eine Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme beantragen, um überhaupt eine Ausbildungsstelle auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bekommen zu können.

Die schöne 37-Grad-Reportage über die beiden zeigt, wie die Schwestern und ihre Eltern mit unterschiedlichen Herausforderungen umgehen, wie sie sich an einen neuen Alltag ohne die jeweils andere Schwester gewöhnen und ihren Kontakt zueinander neu gestalten müssen – und wie sie dabei neue gemeinsame Pläne schmieden.

Das Filmteam hat außerdem ein zweites, jüngeres Zwillingspaar und dessen Familie begleitet und zeigt, wie sie mit den Herausforderungen des Erwachsenwerdens umgehen.




Inklusion durch Vielfalt und Teamarbeit

Frau Schell, in welcher Werkstatt waren Sie beschäftigt, bevor sie im Hotel angefangen haben? Und wie kam es, dass Sie gewechselt haben?

Ich war in den Werkstätten der Westfalenfleiß GmbH beschäftigt. Erst in einer Wäscherei, dann in einer Küche und dann in einer Näherei. Ich habe also schon vieles ausprobiert. Bei einem Außenarbeitsplatz der Werkstatt durfte ich außerdem einen Blick in den Service werfen. Dort habe ich zum Beispiel Teller und Besteck vorbereitet. Das Team von Westfalenfleiß hat mich dann gefragt, ob ich nicht noch einmal etwas komplett Neues kennenlernen und mich weiterentwickeln möchte. Ich fand den Vorschlag super und habe mich sofort auf eine neue Arbeit in einem neuen Umfeld gefreut. Seit November 2021 arbeite ich als Reinigungskraft im Tagungshotel Dunant. Das ist meine erste feste Arbeit auf dem Arbeitsmarkt, darauf bin ich sehr stolz.

Was ist im Hotel anders als in der Werkstatt?

Am besten gefällt mir hier, dass ich immer in Aktion bin und sehr viel Spaß dabei habe. In der Werkstatt war es mir leider irgendwann zu langweilig. Ich war ja viele Jahre dort und es gab irgendwann einfach nicht mehr viel Neues zu entdecken. Die Arbeit im Hotel dagegen ist schnelllebiger und vielseitiger, außerdem sind hier überall nur nette Menschen. Der Job ist außerdem eine komplett neue Herausforderung für mich. Hier darf ich Zimmer und Büros putzen, Wäsche wegräumen und die Putzwagen vorbereiten. Was auch toll ist: In der Reinigung arbeiten wir in Zweierteams zusammen, also immer eine Person mit und eine ohne Behinderung. Das funktioniert sehr gut und ich habe so immer jemanden, den ich fragen kann, wenn ich mal nicht weiterkomme.

Was gefällt Ihnen an der Arbeit besonders gut?

Ich liebe Hygiene, Ordnung und Sauberkeit und mag es, dafür verantwortlich zu sein. Am Putzen gefällt mir außerdem, dass ich beim Saubermachen in den Zimmern und Büros immer ganz viele Menschen treffe, also nie alleine bin. Und jede Person, die ich treffe, unterhält sich dann auch mit mir. Das mag ich sehr.

Gibt es Arbeiten, die Sie nicht so gerne machen?

Eigentlich gefallen mir alle meine neuen Aufgaben. Nur das Treppenhaus wische ich nicht ganz so gerne. Da laufen nämlich immer alle direkt wieder durch und es ist alles wieder schmutzig. Deshalb habe ich dabei nicht das Gefühl, Erfolg zu haben, weil das Ergebnis nicht so richtig sichtbar wird.

Hatten Sie Wünsche oder auch Sorgen, bevor Sie Ihre neue Stelle angefangen haben?

Ich war unsicher, ob ich mich gut einleben würde. Ein komplett neues Umfeld und so viele neue Menschen sind eine große Umstellung für mich. Ich bin vorher leider schon oft enttäuscht worden, deshalb war es mir besonders wichtig, herzlich aufgenommen zu werden. Zum Glück ist genau das der Fall gewesen. Deshalb fühle ich mich hier auch sehr wohl und bin gerne hier. Ich hatte vor allem gehofft, dass ich nicht alleine gelassen, sondern unterstützt werde. Und das ist in Erfüllung gegangen.

Gibt es Kolleginnen und Kollegen, die Sie besonders oft begleiten?

Zwei meiner Kolleginnen stehen mir sehr nahe, sie zeigen mir alles und leiten mich an. Das hat mir gerade beim Einstieg in die neue Arbeit sehr geholfen. Ich finde es außerdem wichtig, dass ich immer alles fragen kann. Das darf ich bei den beiden, aber auch bei den anderen im Team. Eigentlich hilft hier jeder jedem, denn wir sind wirklich eine bunte Mischung aus vielen verschiedenen Mitarbeiter:innen mit unterschiedlichen Stärken.

Gibt es Situationen, in denen Sie nicht so zufrieden sind?

Ja, denn manches fällt mir immer noch schwer. Dann wünsche ich mir manchmal, ich wäre anders. Ohne meine Behinderung wäre ich vielleicht schon etwas weiter.

Sie haben sich also weiterentwickelt, seit Sie Ihren neuen Job haben?

Oh ja, ich habe mich persönlich sehr verändert. Durch die neuen Aufgaben bei meiner neuen Arbeit bin ich viel selbstständiger geworden. Mir wird auch gesagt, dass ich erwachsener und reifer wirke als vorher. Besonders gut gefällt mir, dass ich offener geworden bin – denn durch die vielen Menschen um mich herum habe ich gelernt, auf andere zuzugehen. —





Worauf es für Menschen mit Hörbehinderungen in Videokonferenzen ankommt: Interview mit einem Online-Absolventen

Herr Bähner, Sie arbeiten zurzeit als Altenpfleger in einer Rehaklinik, haben also schon einen Beruf gelernt und üben diesen auch aus. Was war Ihr Antrieb, sich weiterzubilden?

Ich habe eine neue Herausforderung gesucht, deshalb habe ich mich im Jahr 2020 bei der Bildungsakademie (BAK) in Siegen für eine Weiterbildung zur Pflegedienstleitung angemeldet, die ich in diesem Frühjahr abgeschlossen habe. Durch das Zertifikat habe ich jetzt gute Karrieremöglichkeiten und Chancen auch für den Fall, dass ich einmal nicht mehr in der Pflege arbeiten kann.

Sie haben die Weiterbildung wegen der Corona-Pandemie komplett online absolviert, also in Videokursen. Wie war das für Sie?

Das war oft schwierig, weil ich zum Beispiel die Lippenbewegungen der anderen in Videokonferenzen viel schlechter sehen kann, als wenn Menschen mir in einem Gespräch oder Kurs direkt gegenübersitzen. Dadurch, dass alles online stattfand, gab es auch zu wenig Austausch oder Gruppenarbeiten. Über 18 Monate und insgesamt 720 Stunden Unterricht hinweg war das schon sehr anspruchsvoll. Zum Glück hatte ich zwei Gebärdensprachdolmetscherinnen an meiner Seite, die mich sehr unterstützt haben. Sie haben mir zum Beispiel viel Organisatorisches abgenommen und waren sehr flexibel. Es war zum Beispiel laufend nicht klar, ob Teile der Weiterbildung auch in Präsenz stattfinden würden. Sie haben sich deshalb die Termine für beide Varianten freigehalten, damit ich auf jeden Fall teilnehmen konnte. Und sie haben den Dozent:innen, den anderen Kursteilnehmer:innen und auch mir sehr konstruktive Hinweise gegeben, wie die Videokonferenz-Software am besten genutzt werden kann, damit es auch für mich optimal funktioniert.

Was war bei den Videokonferenzen für Sie besonders wichtig, damit Sie gut folgen konnten?

Ich musste die Lehrperson, beide Gebärdensprachdolmetscherinnen und die Präsentationen oder Videos, die gezeigt wurden, gleichzeitig sehen können. Das technisch zu lösen, war nicht so einfach. Denn die Software ließ nicht zu, mehrere Beteiligte gleichzeitig „anzupinnen“, damit ich sie nicht immer zwischen den anderen Teilnehmer:innen suchen musste. Wir sind daher zunächst auf die Lösung ausgewichen, mehrere Videokonferenzen parallel laufen zu lassen. Das funktionierte dann aber aufgrund der Internetbandbreite irgendwann nicht mehr.
Die Dolmetscherinnen haben sich abseits der Kurse regelmäßig mit mir getroffen, um diese und andere Lösungen auszuprobieren und zu besprechen, was wir wie verbessern könnten. Bei diesen Treffen haben sie mir auch Rückmeldungen dazu gegeben, was ich selbst noch anders machen kann, damit sie mich umgekehrt während der Konferenzen besser verstehen und so besser dolmetschen können. Ich wollte mich ja nicht nur am Unterricht beteiligen, sondern auch gut präsentieren. Das war für meine Referate, Präsentationen und die Abschlussprüfung besonders wichtig.

Haben immer beide Dolmetscherinnen an den Unterrichtsstunden teilgenommen?

Ja, aber sie haben während der Kurse dann abwechselnd für mich gedolmetscht. Die Dolmetscherinnen haben außerdem vorausschauend gehandelt. So haben sie beispielsweise direkt zu Beginn meiner Ausbildung ein Vertretungsteam zusammengestellt, für den Fall, dass sie selbst erkranken oder aus anderen wichtigen Gründen einmal nicht selbst dolmetschen könnten. Es war für mich eine große Entlastung, dass ich mich nicht selbst darum kümmern musste. Sie haben mir die anderen Dolmetscherinnen vorher auch vorgestellt und sie eingearbeitet, ihnen also zum Beispiel die Ausbildungsinhalte und die vereinbarten Fachgebärden übermittelt. Denn auch das war wichtig, damit sie fachlich korrekt dolmetschen konnten. Dazu haben die beiden Stammdolmetscherinnen während meiner Weiterbildung übrigens sogar selbst Fortbildungen besucht, etwa zum Thema Pflege, aber auch zum Thema Videodolmetschen.

Haben Sie Ihre mündliche Abschlussprüfung auch online abgelegt?

Ja, und auch das war eine Herausforderung. Ich musste mich ja nicht nur inhaltlich vorbereiten. Ich habe auch mit meinen Dolmetscherinnen und den Verantwortlichen bei der Berufsakademie besprochen, wie die Online-Prüfung gestaltet sein muss, damit ich keine Nachteile habe. Dazu haben wir den Integrationsfachdienst (IFD)* mit ins Boot geholt und am Schluss eine schriftliche Vereinbarung über die Rahmenbedingungen geschlossen. Das waren rechtliche Fragen, die mit dem Dolmetschen einer Online-Prüfung zusammenhängen, zum Beispiel: Was ist, wenn die Internetleitung zusammenbricht? Wie können die Prüfer:innen sich sicher sein, dass bei der mündlichen Prüfung nicht über die Dolmetscherinnen geschummelt wird? Es ging darüber hinaus auch um Nachteilsausgleiche, die Rechte der Dolmetscherinnen oder darum, wer für den Datenschutz verantwortlich ist. Das alles mussten wir klären, weil es beim IFD dazu noch kein Vorwissen gab.

Sie haben die Prüfung inzwischen bestanden und Ihr Zertifikat in der Tasche. Bewerben Sie sich jetzt als Pflegedienstleiter?

Nicht sofort, aber das ist mein Ziel. Erst einmal möchte ich als Stationsleiter oder Wohnbereichsleiter arbeiten, falls ich eine passende Stelle finde. Ich möchte erst einmal noch mehr Berufserfahrung sammeln und später in die Pflegedienstleitung aufsteigen. —




„Viele Kinder müssen erst einmal herausfinden, was ihnen Spaß macht“

Frau Rilinger, wie können junge Menschen ihre Freizeit bei Ihnen verbringen?

Sie können bei uns jeden Nachmittag Billard spielen, kickern oder basteln. Außerdem haben wir einen Garten mit einem großen inklusiven Spielplatz, der durch seinen ebenerdigen Gummiboden für alle Kinder und Jugendlichen zugänglich ist und den alle jederzeit nutzen können. Neben diesen offenen Angeboten gibt es verschiedene Gruppen und Kurse, etwa Mädchen- und Jungengruppen, gemeinsames Kochen oder Comic-Workshops. Manchmal unternehmen wir auch Ausflüge.

Ihre Angebote sind inklusiv, richten sich also an Menschen mit und ohne Behinderung. Wie stellen Sie sicher, dass alle teilnehmen können?

Wir stellen uns zum Beispiel von Anfang an die Frage, wie wir mögliche Barrieren verhindern oder abbauen können oder ob ein Angebot wirklich für alle attraktiv ist. Dabei geht die Qualität immer vor. Im Zweifelsfall organisieren wir lieber ein tolles Angebot für 15 Jugendliche, die wir währenddessen wirklich gut betreuen können, als dass 40 Jugendliche genervt nach Hause gehen, weil wir für die Einzelnen nicht genügend Zeit hatten.

Gibt es Ausnahmen für die Teilnahme?

Grundsätzlich hat bei uns jeder junge Mensch das Recht, dabei zu sein und bei und mit uns seine Freizeit zu verbringen. Aber wenn ein Kind beispielsweise eine sehr intensive Pflege braucht oder häufig wegläuft, müssen wir schon schauen, was unser Team in welchem Zeitraum leisten kann. Wir fangen dann mit zwei Stunden pro Woche an. Und wenn wir einander besser kennengelernt haben, ist oft mehr möglich. Ich muss dazu aber auch sagen, dass Inklusion aus meiner Sicht vor allem von manchen Eltern falsch verstanden wird.

Wie meinen Sie das?

Teilhabe bedeutet für uns, dass wir es allen ermöglichen möchten, mitzumachen. Wenn wir zum Beispiel Eislaufen gehen, liegt es in unserer Verantwortung, das so zu gestalten, dass auch ein Kind mit einer Gehbehinderung mitmachen kann. Wenn ein anderes Kind nur mitkommen will, aber gar nicht auf die Eisbahn möchte, geht das auch, dann erweitern wir eben das Angebot. Das Kind kann zum Beispiel Fotos machen und einen Blogbeitrag über den Ausflug schreiben. Wir sind also sehr offen, aber das heißt nicht, dass alle zwingend auch alle Aktivitäten mitmachen müssen, damit es Inklusion ist. Das setzen wir unter Umständen auch im Interesse eines Kindes oder Jugendlichen gegen die Eltern durch.

Drängen manche Eltern ihre Kinder zum Mitmachen?

Es gibt Eltern, die unbedingt wollen, dass ihr Kind überall dabei ist – auch wenn es selbst vielleicht gar keine große Lust dazu hat. Die Eltern meinen das ja nur gut und sind meistens einfach froh, dass sie endlich ein inklusives Angebot gefunden haben. Aber weil so viele andere Einrichtungen und auch Vereine eben nicht inklusiv sind, haben viele der jungen Menschen bis zu ihrem Besuch bei uns kaum Hobbys oder Aktivitäten ausprobieren können. Wir erleben oft, dass sie anfangs mit der großen Auswahl überfordert sind und deshalb gar nicht mitmachen möchten. Sie müssen erst einmal herausfinden, was ihnen Spaß macht. Und dabei unterstützen wir sie.

Wie genau machen Sie das?

Vor unseren Ferienprogrammen vereinbaren wir mit den Familien, die neu bei uns sind, ein Treffen. So können wir uns in Ruhe kennenlernen. Die Kinder und Jugendlichen dürfen danach selbst entscheiden, ob sie hier wirklich ihre Ferientage verbringen möchten.

Und wie finanzieren Sie Ihre Arbeit?

Unsere Einrichtung ist als Träger der Jugendhilfe anerkannt und bekommt deshalb Geld von der Stadt Köln. Das reicht aber noch nicht aus, um unsere Kosten zu decken. Wir bekommen daher zusätzlich eine Förderung über die katholische Jugendagentur und beantragen auch regelmäßig Fördermittel für einzelne Projekte. Ein relativ großer Teil meiner Arbeit besteht sogar darin, Anträge zu stellen, damit wir unser komplettes Angebot finanzieren können.
Das ist etwas schade und ärgerlich, auch deshalb, weil ja eigentlich die gesamte Kinder- und Jugendarbeit in allen Einrichtungen inklusiv sein sollte. Das ist aber wohl nicht der Fall. Die Hälfte unserer Besucher:innen hat eine Behinderung, das ist viel mehr als der Anteil von Menschen mit Behinderung an der gesamten Bevölkerung. Ich kann mir das nur dadurch erklären, dass andere Einrichtungen eben nicht oder kaum inklusiv arbeiten, und deshalb so viele junge Menschen mit Behinderung zu uns kommen.

Wie viele Leuten arbeiten in Ihrem Team?

Zwei Mitarbeiter:innen sind hauptamtlich dabei und wir haben noch einige Honorarkräfte, die auf Stundenbasis in unserem Haus arbeiten. Wir organisieren uns so, dass immer drei bis vier aus dem Team da sind.

Haben Sie alle eine pädagogische Ausbildung?

Ich selbst bin Inklusionspädagogin, mein hauptamtlicher Kollege ist Sozialarbeiter. Unsere Honorarkräfte haben ganz unterschiedliche Berufsausbildungen, sie kommen zum Beispiel aus dem Management, studieren gerade Heil- und inklusive Pädagogik oder haben eine medizinische Ausbildung. Ein pädagogischer Hintergrund ist also kein Muss. Wir freuen uns aber immer, wenn jemand handwerkliches Geschick mitbringt, mit unseren Besucher:innen kreativ arbeiten oder das Programm mitgestalten kann.

Arbeiten bei Ihnen auch Menschen mit Behinderung?

Eine Honorarkraft und eine Projektmitarbeiterin bei uns haben jeweils selbst eine Behinderung. Und durch die Praktika, die wir anbieten, sind außerdem oft Schüler:innen von Förderschulen hier in Köln in unserem Team mit dabei. Oft haben diese Jugendlichen unsere Einrichtung vorher selbst besucht und möchten beim Praktikum unsere Arbeit von der anderen Seite kennenlernen. Das ermöglichen wir gerne und haben so immer mindestens fünf Praktikant:innen pro Jahr.
Manchmal absolvieren auch junge Menschen ihr Praxissemester bei uns, die Sozialpädagogik studieren. Sie gestalten und organisieren dann ein eigenes Projekt, das gehört zum Studiengang. Wir können diese Projekte zwar leider nicht vergüten, aber die Studierenden bleiben danach häufig als Honorarkräfte bei uns, verdienen etwas Geld und machen damit sozusagen nebenbei ihren Berufseinstieg.

Unterstützen Sie auch ihre Besucher:innen beim Start in den Beruf?

Ja, wir überlegen sogar meist gemeinsam mit den Familien, ob und wie die Person einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt finden könnte. Manchmal unterstützen wir auch bei der Suche und vermitteln Kontakte zu Betrieben, die wir kennen. Ein sehr schönes Beispiel: Eine ehemalige Besucherin, die eine geistige Behinderung hat, arbeitet jetzt als Betreuerin in einer inklusiven Kita.





Raus aus dem Tabu: Wie Sexualbegleiter:innen Menschen mit Behinderung sinnliche Erfahrungen ermöglichen

Berührungsängste hatte Edith Arnold nie. Der Kontakt zu Menschen mit Behinderung war für sie schon immer normal, sie besuchte als Kind einen integrativen Kindergarten und wuchs mit einer Tante auf, die das Down-Syndrom hatte.
Nach einigen beruflichen Zwischenstationen entschied sich die 34-Jährige für eine eher ungewöhnliche Arbeit: Sie wollte geistig behinderten Menschen dabei helfen, ihre eigene Sexualität kennenzulernen. Seitdem arbeitet sie als Sexualbegleiterin und hat damit ihren Traumberuf gefunden. Sie hat intimen Kontakt mit ihren Kunden, berührt, streichelt oder massiert sie. Aktiven Sex hat sie mit ihnen aber nicht. Als Sexualassistentin unterstützt sie außerdem Paare mit Behinderung dabei, ihre Bedürfnisse auszuleben. Darüber hinaus hält sie Vorträge und gibt Seminare zu diesem wichtigen Thema, das oft noch ein Tabu ist.

Hier geht es zum ZDF-Dokumentarfilm mit Einblicken in die Arbeit von Edith Arnold.




„Während der Arbeit erlebe ich mich nicht als krank, da bin ich einfach Arzt“

Dr. Hermsdorf, wann stand für Sie fest, dass Sie Arzt werden möchten?

Das fing schon als Kind an. Mit zwölf Jahren habe ich ein Schulpraktikum in einem Krankenhaus in Jülich gemacht. Ich fand diese Arbeit toll und habe mich damals schon entschlossen, nach der Schule eine Ausbildung zum Krankenpfleger zu machen. Fünf Jahre später habe ich das in die Tat umgesetzt. Im Anschluss habe ich Medizin studiert. Während dieser Zeit stellte sich heraus, dass ich Multiple Sklerose habe. Damals war die Krankheit aber noch im Anfangsstadium. Ich konnte nach dem Studium also direkt die Ausbildung zum Facharzt anschließen.

Ein Arzt, der selbst Multiple Sklerose hat und Patient:innen mit der gleichen Erkrankung behandelt – hat das Vorteile in Ihrem Beruf?

Absolut! Ich weiß ja aus eigener Erfahrung sehr genau, worum es geht, und habe zugleich das Wissen, um die Erkrankung fachgerecht zu behandeln. Dies hilft sehr bei der Vertrauensbildung und ist wichtig bei vielen Therapieentscheidungen. Außerdem ist weniger Kommunikation nötig, weil ich mich ja selbst oft so gefühlt habe wie viele meiner Patient:innen. Jeder kennt zum Beispiel diese typische Arzt-Frage, wenn man zu einem Termin kommt: „Wie geht es Ihnen denn heute?“ Wer mit Multipler Sklerose lebt, hat darauf oft gar keine Antwort oder zögert zumindest länger

Warum?

Das hat etwas mit dem Verlauf der Erkrankung während einer Schub-Phase zu tun. Oft ist es so, dass es einem morgens noch sehr gut ging, nachmittags war es aber deutlich schlechter. Was also auf die Frage antworten, wie es einem heute geht? Diesen Zwiespalt brauchen meine Patient:innen mir gar nicht zu erklären, ich verstehe das sofort. Auch auf Bedenken oder Angst vor Nebenwirkungen kann ich anders reagieren als Kolleg:innen, die MS nicht aus eigener Erfahrung kennen. Ich bin selbst ein anschauliches Beispiel, kann also sagen: „Schauen Sie mal, ich nehme auch solche Medikamente ein, damit ich keine neuen Schübe bekomme. Es klappt und ich bin dadurch sogar arbeitsfähig.“ Das macht vielen Mut, die mit ihrer Diagnose erst umgehen lernen müssen oder unsicher sind, ob der Behandlungsplan bei ihnen funktionieren wird.

In welchem Fachgebiet arbeiten Sie genau?

Ich habe mich nach der Arztausbildung erst zum Strahlentherapeuten weitergebildet, weil ich Menschen mit Krebserkrankungen helfen wollte. Dann habe ich aber noch einmal weitere fünf Jahre in die Radiologen-Ausbildung investiert, habe also zwei Fachgebiete, weil ich damals gern noch ein zweites Standbein neben der Strahlentherapie haben wollte. Heute arbeite ich ausschließlich als Radiologe.

Warum haben Sie sich auf dieses zweite Gebiet spezialisiert?

Das hat zwei Gründe. Der eine hat mit meiner heutigen Arbeit in Anholt zu tun. Die Radiologie umfasst verschiedene bildgebende Verfahren, mit denen zum Beispiel das Gehirn oder das Rückenmark von Patient:innen untersucht werden, um neurologische Erkrankungen wie Mulitple Sklerose oder Parkinson zu diagnostizieren. Das ist der Schwerpunkt der Abteilung im Augustahospital, in der ich heute arbeite. Mein anderes Fachgebiet, die Strahlentherapie, nützt bei MS oder Parkinson hingegen nichts.
Der zweite Grund für den Umschwung ist, dass sich meine eigene Krankheit in den letzten Jahren verschlimmert hat. Meine letzte Stelle in einer Klinik in Norddeutschland musste ich nach einem Schub leider beenden. Danach kam ich als Patient hier nach Anholt. Der damalige Chefarzt bot mir an, halbtags in der Radiologie des MS-Schwerpunktzentrums zu arbeiten. Das habe ich sehr gern angenommen.

Ein über die Schulter fotografierter Bildschirm mit einer MRT-Aufnahme eines menschlichen Gehirns
Dr. Hermsdorf begutachtet die Aufnahme eines menschlichen Gehirns. Foto: Augustahospital Anholt

Hat die neue Stelle etwas für Sie verändert, abgesehen vom Fachgebiet?

Ja, meine Erkrankung ist stabil, seit ich in Anholt arbeite. Ich hatte keine neuen Schübe. Das ist kein Zufall, denke ich. Positiver Stress ist für die Erkrankung gut. Während der Arbeit erlebe ich mich nicht als krank. Da bin ich einfach Arzt und gehe noch dazu einer erfüllenden, sinnvollen Aufgabe nach. Außerdem fühle ich mich immer gut aufgehoben, sollte doch mal ein Schub kommen, denn ich bin von Menschen umgeben, die sich alle mit der Erkrankung auskennen. Das gibt mir Ruhe und Sicherheit – und das wiederum hat viel mit Teilhabe zu tun. Ich kann durch diese Bedingungen meinen Beruf so ausüben, wie Menschen ohne eine solche Erkrankung es auch tun. So sollte es eigentlich immer sein.

Was finden Sie so erfüllend an Ihrer Arbeit in der Klinik?

Ich arbeite in der Kombination zweier Arbeitsbereiche, die optimal ist. In größeren Kliniken sind die Radiologie und die Patient:innenversorgung völlig getrennt voneinander. In meinem Beruf ist beides eng miteinander verbunden. Das hat viele Vorteile. Ein Beispiel: Wenn jemand mit Symptomen eines gebrochenen Knöchels zu uns in die Klinik kommt, kann ich einfach direkt zu ihr oder ihm aufs Zimmer gehen – anders als in anderen Kliniken, wo die Radiologie entweder ausgelagert oder sehr weit weg von den Stationen ist. Im Zimmer untersuche ich den Fuß und entscheide dann, welche Bilder ich machen muss: Was genau sollte ich röntgen? Nur den Fuß oder lieber auch den Unterschenkel? Die Diagnostik wird dadurch zielgerichteter. Auch MS-Patient:innen kann ich mir so direkt anschauen und mir die Symptome schildern lassen. Und dann besser abschätzen, welche Bilder für die weitere Diagnostik gemacht werden müssen.

Sie sind infolge Ihrer Erkrankung mit Rollstuhl unterwegs. Gab oder gibt es Hürden für Sie in der Klinik? 

Nein, in Anholt war schon alles rollstuhlgerecht. Vom Parkplatz bis zu meinem Büro und in die Stationen und Zimmer ist alles so gebaut, dass ich ohne Hilfe überall hinkann. Da wir eine Fachklinik für MS und Parkinson sind, muss das auch so sein. Zufällig ist die Radiologie noch dazu auf derselben Etage wie die Stationen. Das spart mir sehr viel Zeit, denn sonst müsste ich ständig mit dem Rollstuhl im Aufzug rauf- und runterfahren, um zwischen Radiologie und Patientenzimmern zu wechseln. Im Team spielt meine Erkrankung übrigens überhaupt keine Rolle, die ist bei meiner Arbeit ja wie beschrieben eher ein Vorteil.

Hat sich durch die Corona-Pandemie für Sie und Ihre Patient:innen etwas verändert?

Ja und nein. Meine Arbeit funktioniert nur vor Ort, denn es geht dabei um die direkte Kommunikation mit meinen Patient:innen. Da bei uns Menschen mit unterdrücktem Immunsystem behandelt werden, hatten wir schon vor Corona ein gutes Hygienemanagement. Unter den üblichen Sicherheitsvorkehrungen konnten wir also fast nahtlos vor Ort weiterarbeiten. Insofern hat sich nicht viel verändert. Ich habe mich zudem frühzeitig impfen lassen und teste mich bis heute regelmäßig. Bisher bin ich so gesund durch die Pandemie gekommen.

Corona hat aber auch dazu geführt, dass wir Patient:innen etwas anders behandeln müssen. Bestimmte MS-Medikamente beeinflussen das Immunsystem, eine Impfung wiederum fordert dieses aber sehr stark. Wir mussten also abwägen: Wie lange muss mit der MS-Behandlung nach einer Impfung gewartet werden? Und wie lang warten, bevor eine Booster-Impfung gegeben werden darf? Da war die Verunsicherung schon groß.

Wie sind Sie damit umgegangen?

Ich habe mich an den Leitlinien der offiziellen Stellen orientiert, zum Beispiel des Robert-Koch-Instituts – und meinen gesunden Menschenverstand eingesetzt. Pandemie hin oder her, wer einen akuten Schub hat, braucht Medikamente, da gibt es keine Alternative. Wenn eine Behandlung aber nicht unbedingt notwendig war, habe ich gemeinsam mit der Patientin oder dem Patienten die Risiken abgewägt und wir haben zusammen entschieden, was das Beste in der Situation ist.

Zum Abschluss noch ein Blick in die Zukunft zum Thema Inklusion: Was müsste sich aus Ihrer Sicht ändern, damit unsere Gesellschaft inklusiver wird?

Das, was an meinem Arbeitsplatz selbstverständlich ist, fehlt mir im öffentlichen Leben leider oft völlig: die Selbstbestimmtheit. Ich merke das überall. In der Stadt, wenn ich in ein Café möchte und der Laden hat schon am Eingang eine unnötige Stufe. Oder die Toilette ist im ersten Stock und es gibt keinen Aufzug. Oder ich möchte ins Kino und es gibt keine Plätze für Rollstuhlfahrer:innen – und ich weiß außerdem vorher nicht, ob ich überhaupt ohne Hilfe in den Saal komme. Ich brauche eigentlich immer Unterstützung, wenn ich unterwegs bin, muss alles vorplanen, selbst beim Einkaufen. Vor der Erkrankung war ich gerne spontan. Das geht heute nicht mehr, mir ist also ein Stück Unbeschwertheit verloren gegangen. Ich wünsche mir sehr, dass Barrieren im öffentlichen Raum abgebaut werden und Inklusion viel selbstverständlicher wird, als sie es bisher ist.




Inklupreneur: Ein Projekt für mehr Inklusion in der Start-up-Szene

Herr Dreyer, was ist ein „Inklupreneur“?

Inklupreneure sind Unternehmer:innen und Gründer:innen, die sich für Inklusion einsetzen und in ihrem Unternehmen inklusive Arbeitsplätze schaffen. Für den Namen unseres Projekts haben wir deshalb die Begriffe „Inklusion“ und „Entrepreneurship“ (auf Deutsch: Unternehmertum) miteinander verbunden. Inklupreneure können aber auch Menschen mit Behinderung sein, die den mutigen Schritt gehen und sich bei Unternehmen bewerben, in denen sie berufliches Neuland betreten. Unser Programm ist also für Menschen und Unternehmen gedacht, die neue Wege gehen. Wir richten uns dabei vor allem an die Start-up-Szene.

Es gibt bereits viele Anlaufstellen für Gründer:innen, Unternehmen und Arbeitnehmer:innen. Braucht die Start-up-Szene trotzdem solche Beratungsangebote wie Ihres?

Unserer Erfahrung nach: ja. Firmen und Organisationen aus der Start-up-Szene haben eine ganz eigene Unternehmenskultur mit sehr dynamischen, also sich ständig verändernden Prozessen. Sie wachsen sehr schnell und brauchen viel Personal. Viele Beratungsangebote erfüllen nicht unbedingt das, was Start-ups tatsächlich brauchen. Hier setzen wir an. Wir möchten die Unternehmer:innen dabei unterstützen, Inklusion zu einem Teil ihrer Unternehmenskultur zu machen.

Warum ist das wichtig?

Ich glaube, dass langfristig nur noch Unternehmen am Markt eine Chance haben, die auch einen gesellschaftlichen Beitrag leisten. Daher finde ich, dass sich alle Gründer:innen überlegen sollten, wie dieser Beitrag in ihrer eigenen Organisation aussehen könnte. Ich selbst habe vor 15 Jahren ein Unternehmen gegründet und sehr positive Erfahrungen mit der Arbeit in einem inklusiven Team gemacht. Als wir damals gewachsen sind und Personal brauchten, hat uns die Agentur für Arbeit die Bewerbung eines Software-Entwicklers mit Behinderung übermittelt. Seine Qualifikationen passten zu unseren Anforderungen, wir wiederum haben uns auf seine Bedürfnisse eingestellt – und er hat sich darauf eingelassen, in einem Start-up zu arbeiten. Für alle, die später in der Firma angefangen haben, war Inklusion dann ganz selbstverständlich. Mein und unser gesellschaftlicher Beitrag ist, dass wir das auch anderen Start-ups ermöglichen möchten.

Mit was für einem Programm unterstützen Sie Unternehmen dabei?

Wer mitmachen möchte, muss auf unserer Website erst einmal einen „Pledge“ unterzeichnen, also ein Formular zur Selbstverpflichtung. Das Start-up beschreibt darin das eigene Unternehmen genauer und erklärt, wo im Betrieb Stellen für Menschen mit Behinderung eingerichtet werden sollen.

Was ist der nächste Schritt?

Wir beginnen immer mit einer Auftaktveranstaltung. Das sind zwei sehr intensive Tage, an denen alle Unternehmen, die mitmachen, ihre jeweils eigene Inklusionsstrategie erarbeiten. Wir begleiten die Gründer:innen und Unternehmen anschließend noch einige Monate mit einem Coaching.

Wer coacht die Firmen?

Das Projekt „Inklupreneur“ wird von der Hilfswerft gGmbH organisiert, die ich als Geschäftsführer leite. Wir bieten dort Workshops für angehende Sozialunternehmer:innen an und haben dafür ein großes Netzwerk von Mentorinnen und Mentoren aufgebaut, auf das wir nun auch für „Inklupreneur“ zurückgreifen können. Insgesamt beraten 20 Menschen mit Behinderung die Unternehmen auf ihrem Weg und geben ihnen Rückmeldungen dazu, wie sie in der Community wahrgenommen werden: Worauf schauen Bewerber:innen mit Behinderung auf der Website als erstes? Wie barrierearm ist das Unternehmen? Wer könnte dort arbeiten – und wer nicht? Zum Beispiel kann ja auch ein Büro in einer Altbauwohnung im zweiten Stock barrierefrei sein, nur eben nicht für Menschen mit einer Mobilitätseinschränkung. Das ist den Verantwortlichen in den Firmen aber oft gar nicht klar, weil viele erst einmal nur an bauliche Barrierefreiheit denken. Deshalb ist der Austausch mit den Coaches sehr wichtig. Ich glaube, durch diesen direkten Kontakt setzen wir am meisten in Bewegung.

Müssen die Unternehmen für die Beratung etwas bezahlen?

Nein, das Programm ist kostenlos. Wir erwarten nur, dass sie hinter ihrer Selbstverpflichtung stehen und es ihnen damit ernst ist. Es ist daher auch wichtig, dass sie sich vorher gut überlegen, wie viele inklusive Stellen sie ankündigen, denn wir nehmen sie da beim Wort.

Wie finanzieren Sie das Projekt?

Wir haben Fördergelder für drei Jahre vom Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) Berlin bekommen. Das ist das gleiche wie die Inklusionsämter in Nordrhein-Westfalen und in anderen Bundesländern.

Müssen Sie bestimmte Ziele erfüllen, um diese Förderung zu bekommen?

Ja, wir haben in Rücksprache mit dem Landesamt als Ziel formuliert, dass wir durch das Projekt 60 bis 120 neue inklusive Arbeitsplätze schaffen wollen. Unsere Hauptleistung dabei ist, Kontakt zu Unternehmen aufzubauen, die bereit dazu sind, und sie dabei zu unterstützen, diese Stellen zu definieren und auszuschreiben. Das zweite Ziel ist natürlich, diese Stellen auch zu besetzen. Dabei kooperieren wir unter anderem mit der Bundesagentur für Arbeit und dem Jobcenter.

Wie läuft das bisher?

Deutschlandweit haben bisher 42 Firmen die Selbstverpflichtung unterzeichnet. Sie wollen insgesamt 139 inklusive Stellen schaffen.

Sind diese Stellen schon vergeben?

Nein, das wird noch dauern. Für die Unternehmen ist der „Pledge“ am Anfang des Prozesses ein erster, wichtiger Schritt, mit dem sie sich im positiven Sinne selbst unter Druck setzen. Danach müssen sie aber oft noch viele offene Fragen klären, bevor es wirklich losgehen kann. Dabei unterstützen wir sie. Bisher haben die Inklupreneure in unserem Programm knapp 30 konkrete Stellen ausgeschrieben. Sechs davon sind schon besetzt.

Woran liegt es, dass bisher erst so wenige Arbeitsplätze besetzt sind? Finden die Unternehmen keine passenden Bewerber:innen?

Das ist tatsächlich eine Herausforderung. Unser Projekt läuft jetzt seit einem Jahr. Eine Erkenntnis aus dieser Zeit ist, dass auf der Unternehmensseite zwar ein sehr großes Interesse besteht, inklusive Stellen zu schaffen. Oft gehen dann aber gar keine Bewerbungen für die neu geschaffenen Arbeitsplätze ein. Offenbar reichen die bisher vorhandenen Angebote zur Vermittlung dieser Stellen noch nicht aus. Wir möchten deshalb in Zukunft eine eigene Inklupreneur-Gemeinschaft aufbauen und so Arbeitsuchende mit Unternehmen verknüpfen.
Die Unternehmen können sich im Rahmen unseres Angebots schon jetzt miteinander vernetzen und Wissen austauschen. Eigentlich arbeiten wir also daran, unser Programm irgendwann überflüssig zu machen. Das wird vermutlich nicht passieren, aber mit dieser Haltung gehen wir an das Projekt heran.

Bisher gibt es das Inklupreneur-Programm nur in Berlin und Bremen. Wollen Sie es später auch in anderen Bundesländern anbieten?

Ja, das können wir uns gut vorstellen. Unternehmen aus anderen Bundesländern können schon jetzt unseren „Pledge“ unterzeichnen. Wenn sich genügend Interessierte gemeldet haben, werden wir auf die zuständigen Inklusionsämter zugehen und versuchen, unser Programm auch dort auf den Weg zu bringen. Wir würden uns freuen, wenn mit der Zeit eine Art Bewegung daraus wird und Inklusion irgendwann ganz selbstverständlich zur klassischen Gründer:innenberatung dazugehört. Wenn es in solchen Gesprächen also künftig nicht mehr nur darum geht, wie ein Unternehmen finanziell über die Runden kommen kann, sondern auch gemeinsam überlegt wird, wie es einen gesellschaftlichen Beitrag leisten kann, hätten wir unser Ziel erreicht.




„Visual Vernacular“ und „Visual Sign“: Lautlose Kunstformen für mehr Inklusion auf der Bühne

Herr Kauly, was ist „Visual Vernacular“ und wie ist diese Kunstform entstanden?

Der Ursprung von Visual Vernacular ist die Gebärdensprache, aber als diese Kunstform entstand, war den Menschen noch nicht bewusst, dass es überhaupt eine ist. Visual Vernacular funktioniert heute ganz ohne Gebärdensprache. Die Geschichten werden durch Körperbewegung, Symbole, Gesten und intensive Gesichtsausdrücke erzählt. Man kann sich das wie Musik für Gehörlose mit sehr vielen Einflüssen vorstellen, zum Beispiel aus Filmen und Computerspielen. Wie jede Kunst entwickelte sich Visual Vernacular mit der Zeit weiter und es entstanden immer wieder neue Formen davon. Diese Art, Geschichten zu erzählen, nutzen taube Menschen mittlerweile weltweit als künstlerischen Ausdruck. Die Kunstform gab es schon immer, aber bekannt wurde sie erst durch Bernard Bragg, einen tauben amerikanischen Schauspieler. Er gab ihr auch ihren Namen.

Wie sind Sie selbst zu Visual Vernacular gekommen?

Ich liebe die Kunst mit der Sprache, besonders, wenn sie visuell funktioniert. Mich fasziniert, wie man mit Gesichtsausdrücken sprechen, mit den Händen kommunizieren und sich mit Körpersprache ausdrücken kann. Meine Begeisterung dafür begann mit Musikvideos. Ich wollte die Songs, die ich dort sah, in Gebärdensprache übersetzen. Irgendwann bemerkte ich, dass die direkte Übersetzung nicht so ansprechend aussah und mit der Musik nicht mehr viel zu tun hatte. Mir fehlte das Künstlerische. Also suchte ich nach einer Alternative und entdeckte Visual Vernacular. Als ich erfuhr, dass Gehörlose davon begeistert sind, wusste ich, dass das genau das Richtige für mich ist.

Sie vergleichen Visual Vernacular mit Musik für Hörende. Wie muss man sich das vorstellen?

Bei Visual Vernacular wird wie gesagt kaum mit Gebärdensprache gearbeitet. Im visuellen Theater für gehörlose Menschen ist das anders. Dort fließen viele verschiedene Kunstformen ineinander, etwa Performance, Gebärdensprache, Körpersprache, Pantomime und noch einige andere. Dann gibt es noch die Gebärdensprachpoesie, die ist wie ein Gedicht, eine Ballade oder ein Lied mit Wörtern und Ausdrücken aus der Gebärdensprache. Bei Visual Vernacular zeigen die Künstler:innen mit ihren Händen verschiedene Formen. Das können Gegenstände sein, Personen, Tiere, Pflanzen oder Elemente. Es ist sozusagen Kunst ganz ohne Wörter. Gehörlose verstehen aber, was diese Formen bedeuten. Das Besondere ist, dass bei Aufzeichnungen auch Filmtechniken zum Einsatz kommen, beispielsweise verschiedene Kameraperspektiven, Vergrößern und Verkleinern der Szene durch Zoomen, Zeitlupe oder Zurückspulen.

Wie wichtig sind Gesichtsausdrücke bei dieser Kunstform?

Beinahe genauso wichtig wie die Hände. Und auch die Körperhaltung spielt eine große Rolle. Bei der Musik sind ja auch die Instrumente, die die Töne spielen, ebenso wichtig wie der Rhythmus, das Tempo oder bei Musik mit Gesang die Stimme. Musik ist eine Kombination aus verschiedenen künstlerischen Elementen, und so ist es auch bei Visual Vernacular. Am besten ist, sich ein Video davon anzuschauen, denn das zeigt am besten, was genau ich damit meine. Man kann den Blick kaum vom Gesicht des Künstlers nehmen, finde ich, weil dort so unglaublich viel passiert.

Ist die Kunstform auch für hörende Menschen zugänglich?

Leider nein, hörende Menschen können das nur schwer verstehen, weil sie visuelle Sprache nicht gewohnt sind oder gar nicht kennen. Natürlich können sie sich eine Aufführung anschauen und versuchen, die Gefühle nachzuempfinden, die dabei ausgedrückt werden. Aber den kompletten Inhalt werden sie nicht aufnehmen können. Das möchte ich sehr gern ändern. Ich will mit meiner Kunst erreichen, dass sie irgendwann für Gehörlose und Sprechende gleichermaßen verständlich ist. Es wäre ja schön, wenn alle gemeinsam zur gleichen Aufführung gehen könnten und nicht nach Hörenden und Gehörlosen getrennt werden müsste. Deshalb veranstalte ich Workshops für Gehörlose und Hörende zusammen und bringe ihnen „Visual Sign“ bei (auf Deutsch: „visuelles Zeichen“). Das ist eine Kunstform, die anders als Visual Vernacular auf der Pantomime beruht – und die können alle verstehen.
[Anmerkung der Redaktion: Aktuelle Workshop-Termine findet ihr zum Beispiel auf der Pinnwand unter „Veranstaltungen“ bei taubenschlag.de, einer Website mit Infos, Nachrichten und Angeboten für Taube und Schwerhörige, aber auch für Hörende].

Können Sie erklären, was genau bei Visual Sign anders ist?

Diese Kunstform ist von Visual Vernacular abgeleitet, aber stark vereinfacht. Im Mittelpunkt steht eine bewegte Körpersprache, die Menschen während der täglichen Kommunikation unbewusst sowieso schon verwenden. Diese visuellen Zeichen wandle ich in künstlerische Ausdrücke um. Ein Beispiel: Wenn ich zeigen möchte, dass ich Auto fahre, hebe ich die Arme hoch und halte ein unsichtbares Lenkrad. Das funktioniert genauso auch mit „Trinken“, „Schlafen“, „Laufen“, „Schreiben“, „Telefonieren“, „Schnarchen“, und so weiter. Dabei kommen viele Elemente aus der Pantomime zum Einsatz. Im nächsten Schritt wird es dann aber komplexer. Wie zeige ich, dass ich ein Auto fahre und keinen Bus oder Lkw? Die haben ja alle ein Lenkrad, wie verdeutliche ich also den Unterschied? Die Körperhaltung hilft nicht viel, die ist im Auto fast die gleiche wie in den anderen Fahrzeugen. Also muss ich umdenken und noch genauer beobachten, was anders ist. Ich gehe also noch weiter aus der Situation heraus und schaue beispielsweise auf die Tür des jeweiligen Fahrzeugs, denn die ist bei allen dreien unterschiedlich. In einen Lkw muss ich eher hineinklettern und der Bus hat eine viel größere Tür als das Auto. Diese Unterschiede verstehen Gehörlose ebenso wie Hörende. Der Ansatz bei „Visual Sign“ ist also immer, mit möglichst allgemeingültigen und für alle verständlichen Zeichen zu arbeiten.

Kann Visual Sign dabei helfen, Barrieren auf der Bühne abzubauen, also auch bei Theaterstücken, die sonst nur Hörende gut verstehen?

Ja, das wäre durchaus möglich. Es gibt ja noch andere Möglichkeiten wie Gebärdensprache oder Untertitel bei Aufführungen und Filmen, die auch schon verwendet werden. Aber Visual Sign könnte eine inklusive Kunst für alle sein, bei der es keine „Sonderlösung“ für die eine oder andere Gruppe braucht. Es kommt natürlich immer darauf an, was der Inhalt des Stücks ist und welche Kunstform gezeigt werden soll: Tanzen, Performance, Schauspiel, Singen? Kunst kennt keine Grenzen, die Sprache aber schon. Ich würde den Verantwortlichen daher empfehlen, kreativ zu sein und vorher die gehörlosen Zuschauer:innen zu fragen, wie gut sie eine bestimmte Kunstform inhaltlich aufnehmen und verstehen können. Vielleicht eröffnet Visual Sign dann ganz neue Möglichkeiten. —