„Unser Ziel ist mindestens eine Milliarde Euro“: Porträt auf Capital+ über die Gründer der Parkinson-Stiftung Yuvedo

Als Jens Greve die Diagnose Parkinson bekam, las er erst einmal zwei Jahre lang alles, was zu der Nervenkrankheit veröffentlicht worden war. Er machte sich so nach und nach selbst zum Experten seiner Erkrankung. Heute weiß er, dass diese irgendwann heilbar sein wird – und dazu will er einen Beitrag leisten. Er gründete gemeinsam mit dem Anwalt Jörg Karenfort und anderen die Parkinson-Stiftung Yuvedo. Die beiden Männer verbindet, dass sie die Diagnose schon mit Mitte 40 bekommen haben. Die 300.000 Erkrankten in Deutschland sind sonst vor allem ältere Menschen.

Yuvedo verfolgt drei Ziele: Mit einer App für Patient:innen, die es auch als Web-Anwendung gibt, sollen möglichst viele Daten über die Krankheit gesammelt werden. Das ist eine wichtige Grundlage für die weitere Parkinson-Forschung. Zweitens legte die Stiftung die Neuro-Initiative 4.0 auf, die die Bewegung von Erkrankten fördern sowie deren Diskriminierung und Stigmatisierung verhindern soll. Und nicht zuletzt will Yuvedo die Erforschung besserer Medikamente vorantreiben. Das ist ein besonders großes Vorhaben. Es gibt zwar bereits Arzneimittel, diese unterdrücken die Symptome aber nur zeitweise. Außerdem haben die Mittel Nebenwirkungen. Wer zum Beispiel zu lange Medikamente einnimmt, die die Ausschüttung von Dopamin im Hirn anregen, kann irgendwann bestimmte Impulse nicht mehr kontrollieren. Das kann zu Spiel-, Sex- oder Kaufsucht führen. „Es gibt etliche, die ihr Erspartes verzockt haben“, sagt Jörg Karenfort im Capital+-Artikel.

Wenn mehr Geld in die Forschung und Behandlung von Parkinson-Erkrankten fließen würde, könnten die Medikamente besser werden, davon sind Karenfort und Greve überzeugt. Sie legen deshalb gerade einen Fonds auf, um ab 2022 private Investoren mit ins Boot zu holen. „Unser Ziel ist es, mindestens eine Milliarde Euro zusammenzubekommen“, sagt Karenfort im Artikel. Dabei geht es ihm und seinen Mitstreiter:innen nicht um Spenden, sondern um Geldanlagen, die sich für die Investor:innen auszahlen sollen. Das Geld soll später in Forschung investiert werden oder an Pharmakonzerne und Start-ups gehen.

›› Den ganzen Artikel über die beiden Gründer, die Stiftung und deren Ziele lest ihr auf Capital+.




„Ich war immer der komische Kauz“

Erst seit 2016 weiß Freimut Kahr, dass er autistisch ist. Davor wusste er lange Zeit nicht, warum er sich so oft als Außenseiter fühlte. In der Schule war er „immer der komische Kauz“, sagt er, soziale Kontakte fielen und fallen ihm schwer. Auch die vielen Reize in seiner Umwelt sind für ihn anstrengend: Gespräche im Hintergrund, klingelnde Telefone, raschelndes Papier.

Sein Einstieg ins Berufsleben war deshalb nicht so einfach. Vor seinem aktuellen Job arbeitete er eine Zeit lang als Korrektor, verlor die Stelle aber wieder. Die Agentur für Arbeit vermittelte ihm immer wieder neue Arbeitsplätze, doch die Bewerbungsgespräche und der Kontakt mit Kund:innen stressten ihn einfach zu sehr.

Schließlich stellte sich heraus, dass er Asperger-Autist ist, und durch die Diagnose tat sich eine neue Chance für den 47-Jährigen auf. Der Integrationsfachdienst Bremen (IFD) vermittelte Freimut Kahrs gezielt an seinen heutigen Arbeitgeber, ein kleines IT-Unternehmen in Bremen. Dort kann er so arbeiten, wie es für ihn gut passt. Er kann zum Beispiel Ruhepausen einlegen und dafür einen Rückzugsraum nutzen, wenn die Reize zu viel werden. In den ersten Tagen begleitete ihn außerdem eine Betreuerin des IFD Bremen. Dadurch zerstreuten sich die anfänglichen Ängste recht schnell – und Freimut Kahrs und sein Arbeitgeber sind miteinander sehr zufrieden.




„Frauen mit Behinderung müssen ermutigt werden, für ihre Rechte einzustehen“

Frau Abdulhameed, Sie studieren an der TH Köln soziale Arbeit. Warum haben Sie dieses Fach gewählt?

Ich hatte mit fünfzehn Jahren einen lebensverändernden Unfall und kämpfe als körperlich beeinträchtigte Frau mit Migrationsgeschichte im Alltag ständig mit Hindernissen. Neben meiner Familie haben mich dabei immer auch Sozialarbeiter:innen unterstützt, zum Beispiel bei Behördengängen. So konnte ich vieles erreichen, was sonst schwierig gewesen wäre. Durch den direkten Kontakt mit Mitarbeiter:innen dieser wichtigen Berufsgruppe wuchs auch mein eigenes Interesse daran, denn sie leisten enorm wichtige Arbeit: Sozialarbeiter:innen helfen ihren Klient:innen nicht nur in verschiedenen Problemlagen weiter, sondern fördern und emanzipieren sie auch. Mit dem Wissen aus meinem Studium möchte auch ich mich irgendwann für die Rechte anderer einsetzen und sie dazu befähigen, das ebenfalls zu tun.

Wegen Ihrer Querschnittslähmung studieren Sie in Teilzeit. Stellt Sie das in Ihrem Studienalltag vor Herausforderungen?

Ja, absolut. Ich kann durch den hohen Grad meiner Lähmung beispielsweise meine Hände nicht benutzen. Deswegen benötige ich nicht nur im Alltag Hilfe, sondern auch im Studium. Ich brauche außerdem für alles mehr Zeit, weil ich für jede Tätigkeit meine Assistentinnen anweisen muss. Dazu kommen viele bürokratische Aufgaben in meinem Alltag: Ich muss beispielsweise ständig Hilfsmittel beantragen oder Arzttermine und Aufenthalte im Krankenhaus koordinieren. Das nimmt ebenfalls viel Zeit in Anspruch.

Hat sich die Situation an der Uni für Sie durch die Corona-Pandemie verändert?

Vor der Pandemie war es auf jeden Fall bereichernd, auf dem Campus anwesend zu sein, vor allem, weil ich mich so ja auch persönlich mit meinen Kommiliton:innen austauschen konnte. Allerdings habe ich auch oft gefehlt, weil ich häufig chronische Schmerzen habe. Das war sehr schade. Das Online-Studium hat also auch Vorteile gebracht, denn mit Schmerzen ist es viel leichter für mich, die Vorlesungen einfach von Zuhause aus zu besuchen. Ich fehle dadurch nicht mehr so oft.

Was macht für Sie eine barrierefreie Hochschule aus und was läuft an Ihrer Uni diesbezüglich schon gut?

Eine Hochschule ist dann barrierefrei, wenn sie Nachteilsausgleiche für Studierende mit Beeinträchtigung sicherstellt. Das bedeutet, dass sie Hilfen anbietet, die sich an den Bedürfnissen der jeweiligen Personen orientieren. Die Uni kann Studierenden mit Behinderung zum Beispiel bei Klausuren mehr Zeit für die Bearbeitung der Aufgaben geben. Darüber hinaus sollten aber auch baulich-technische Barrieren und Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung im Blick behalten und gegebenenfalls beseitigt werden. Ich kann natürlich nicht für alle Arten von Beeinträchtigung sprechen, aber baulich gesehen ist meine Hochschule überwiegend barrierefrei. Außerdem läuft die Kommunikation mit meinen Dozent:innen gut, zum Beispiel, wenn ich mal mehr Zeit für Abgaben oder mehrere Kopien für die Texte brauche.

Zu einem Studium gehört meistens auch ein Pflichtpraktikum. Wo absolvieren Sie Ihres und was sind dort Ihre Aufgaben?

Ich arbeite in einer Einrichtung für Kinder und Jugendliche in Köln und unterstütze die jungen Menschen dort dabei, ihre künstlerischen, kreativen oder sportlichen Talente und Fähigkeiten zu entfalten. Zum Beispiel durch Malen, Basteln, Tanzen, Backen, gemeinsames Spielen, Spaziergänge, Ausflüge, Sport – oder, indem wir einfach nur zusammen Zeit verbringen. Ich begleite die Kinder und Jugendlichen dabei und sammle ihre Ideen für neue Aktivitäten. Wir schauen dann gemeinsam, was sich wie umsetzen lässt. So komme ich mit ihnen ins Gespräch, verstehe ihre Gefühlslage besser und kann sie motivieren. Manchmal geht es aber auch einfach nur darum, gemeinsam Spaß zu haben und den stressigen Schulalltag hinter sich zu lassen.

Welche Erfahrungen haben Sie dort bisher gemacht und welche Rückmeldungen kommen von den Jugendlichen?

Ich empfinde das Praktikum als sehr positiv und bereichernd. Auch die Zusammenarbeit mit meinen Kolleg:innen ist lehrreich und harmonisch. Zu Beginn waren vor allem die jüngeren Kinder eher zurückhaltend mir gegenüber. Sie haben mir aber auch viele Fragen gestellt, zum Beispiel, warum ich im Rollstuhl sitze oder wieso ich nicht immer die gleiche Assistentin dabei habe. Inzwischen beachten sie den Rollstuhl aber schon viel weniger und sehen einfach nur mich als Person.

Laut einer Studie der Aktion Mensch und dem SINUS-Institut aus dem Jahr 2021 sind Frauen mit Behinderung im Studium und auf dem Arbeitsmarkt doppelt benachteiligt: Sie verdienen weniger, werden seltener in Vollzeit beschäftigt und übernehmen seltener Führungspositionen. Was könnte Ihrer Ansicht nach dazu beitragen, dieses Ungleichgewicht zu korrigieren?

Da gibt es einiges zu tun. Grundsätzlich ist es so, dass sich das Rollenbild von Frauen in der Gesellschaft verändern muss. Ihre beruflichen Chancen sollten ebenso wie bei Männern von ihren Fähigkeiten und Leistungen abhängig sein, nicht vom Geschlecht. Dazu sind auch strukturelle Veränderungen nötig. Die Arbeitszeiten müssten flexibler sein, es müssten mehr Kitaplätze geschaffen werden und eine vom Geschlecht unabhängige Bezahlung sollte sowieso selbstverständlich sein. Darüber hinaus müssen vor allem Frauen mit Behinderung ermutigt werden, für sich und ihre Rechte einzutreten und selbstbewusster zu handeln, damit sie ihre Talente und Fähigkeiten entfalten können. Denn eigentlich ist ja niemand behindert, sondern sie oder er wird behindert – durch die Umwelt, die Gesellschaft, die daraus entstehenden Barrieren in Ausbildung oder Beruf. Genau daran müssen wir alle arbeiten. Dazu muss sich auch das Bild von Behinderung grundlegend verändern: Wir müssen als Gesellschaft weg davon, eine Beeinträchtigung vor allem als Mangel oder Schwäche zu sehen.

Welchen Beruf wollen Sie nach Ihrem Studium ergreifen?

Das ist eine gute Frage! Soziale Arbeit umfasst ja viele Bereiche. Ich habe viele Ideen und bin mir noch nicht sicher, welchen Weg ich gehen möchte. Ich kann mir aber nach den Erfahrungen in meinem Praktikum gut vorstellen, junge Menschen – vor allem solche mit Beeinträchtigung – in den Übergangsphasen zwischen Schule, Ausbildung oder Studium und Beruf zu beraten. Ich könnte mir aber auch vorstellen, politisch zu arbeiten und die Inklusion damit weltweit voranzubringen.

Haben Sie zum Schluss noch einen praktischen Tipp für studierende Frauen mit Behinderung?

Ich kann nur allen empfehlen, sich auf Stipendien bewerben. Ich bin selbst Stipendiatin des Avicenna-Studienwerks. Das ist eine der schönsten Erfahrungen in meinem Studium, denn das Engagement des Studienwerks ist nicht nur persönlich bereichernd, sondern wird sich später auch positiv auf meine Chancen auf dem Arbeitsmarkt auswirken. Leider erlebe ich bisher nur wenige Frauen mit Behinderung in solchen Stipendien. Daher möchte ich hiermit noch einmal jede zu einer Bewerbung ermutigen!




Neue Geschichten erzählen: Das journalistische Projekt „andererseits“

Frau Kreutzer, warum heißt Ihr Projekt „andererseits“?

Die Redaktionen großer Medien, die öffentliche Debatten prägen und abbilden, arbeiten meistens noch nicht inklusiv. Im Journalismus fehlen deshalb viele Perspektiven, zum Beispiel die von Menschen mit Behinderung. Meine Kolleginnen Katharina Brunner, Katharina Kropshofer und Clara Porak haben im Frühjahr 2020 „andererseits“ gegründet, um diesen Perspektiven Raum zu geben. Wir möchten Sichtweisen abbilden und Geschichten erzählen, die bisher kaum oder gar nicht vorkommen – die andere Seite eben.

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass so viele Redaktionen noch nicht inklusiv arbeiten?

Ja, wir sehen zwei große Hürden für inklusive Arbeit. Eine davon ist der hohe Zeitdruck, der in vielen Redaktionen herrscht. Oft müssen Texte wenige Tage nach einem Interview fertig sein, und gleichzeitig sind noch andere Aufgaben zu erledigen. Das kann für manche Menschen mit Behinderung schwierig sein. Und die zweite Hürde sind die recht strengen Vorgaben für journalistische Texte, mit denen nicht alle zurechtkommen.

Und wie könnte sich das ändern?

Wir wünschen uns, dass Redaktionen und natürlich auch die Leser:innen offener werden für Texte, die anders sind als das bisher Gewohnte. So etwas ist spannend zu lesen und macht auch einfach Spaß. Und gerade diese Vielfalt ist aus unserer Sicht etwas, das Journalismus ausmacht, auszeichnet und stark macht.

Wie arbeiten Sie bei „andererseits“?

Wir nehmen uns Zeit für unsere Texte, Grafiken und Bilder. Normalerweise arbeiten an allen Aufgaben jeweils inklusive Teams, die aus zwei Journalistinnen oder Grafikdesignern mit und ohne Behinderung bestehen. Je nachdem, um welches Thema es geht und wie viel Erfahrung die Beteiligten haben, tauschen wir uns während der Recherchen und der Arbeit an den Texten viel miteinander aus.

Sie haben bestimmte sprachliche Vorgaben erwähnt, die es bei traditionellen Medien gibt. Klingen Ihre Texte anders als die in großen Zeitungen oder Magazinen?

Ja, bei uns sind ungewöhnliche und überraschende Formulierungen nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Wir weisen in unserem Newsletter mit einer eigenen Rubrik sogar besonders darauf hin. Dort stellen wir Worte oder Formulierungen vor, die Autor:innen aus unserem Team erfunden haben. „Ich kriege einen Zuckaus“, sagt unserem Redakteurin Hanna beispielsweise, wenn sie aus der Haut fährt.

Um welche Themen geht es in Ihren Artikeln und Podcasts?

Zuletzt haben wir zu zwei sehr unterschiedlichen Schwerpunkten gearbeitet: Mut und Handysucht. Zu solchen Themen entstehen jeweils mehrere Beiträge, die informativ, aber auch sehr persönlich sein können. Tatsächlich stehen oft Gefühle im Mittelpunkt, auch das ist etwas Besonderes bei uns. Der Grund ist, dass Emotionen sich oft auf politische Umstände zurückführen lassen und damit im Grunde selbst auch politisch sind. Je nachdem, in welcher Rolle eine Person ist und wie viel gesellschaftlichen Einfluss sie hat, wird diese politische Dimension aber nicht unbedingt wahrgenommen. Das möchten wir ändern.

Welche Leser:innen oder Hörer:innen erreichen Sie mit Ihren Beiträgen?

Bisher bekommen wir vor allem Nachrichten und Rückmeldungen von Menschen, die selbst Berührungspunkte mit dem Thema Behinderung haben. Und von Journalist:innen, die sich dafür interessieren, was sich in der Branche gerade so tut. Wir hoffen, dass sich unser Projekt mit der Zeit weiter herumspricht und auch Menschen ohne Behinderung oder ohne Bezug dazu unsere inklusiven Texte lesen möchten. Um eine größere Zielgruppe zu erreichen, kooperieren wir übrigens auch mit anderen Medien, etwa der Monatszeitschrift Datum, dem SZ-Magazin, dem Magazin period. oder Ö1.

Wie finanzieren Sie das Projekt?

Bisher arbeiten wir ehrenamtlich. Wir haben alle einen Hauptberuf, mit dem wir unseren Lebensunterhalt verdienen, oder wir studieren noch. Für die Anfangszeit ist dieses Modell in Ordnung, denn die Arbeit für „andererseits“ macht Spaß und ich sehe darin sehr viel Sinn. Unser Ziel ist es natürlich, dass auf lange Sicht alle ein faires Gehalt oder Honorar für ihre Arbeit bekommen.

Werden die Inhalte von „andererseits“ demnächst kostenpflichtig?

Nein, unsere Beiträge sollen gratis bleiben. Wir planen stattdessen ein Abo-Modell, bei dem unsere zahlenden Abonnent:innen mit ihrem Beitrag unseren redaktionellen Betrieb finanzieren und dafür beispielsweise exklusiv an Veranstaltungen teilnehmen können, die wir organisieren werden. Wir werden außerdem Workshops für Unternehmer:innen und Teams anbieten, die lernen möchten, inklusiv zu arbeiten und zu denken. Daran besteht großes Interesse, nicht nur im Journalismus. All das müssen wir aber noch konkreter ausarbeiten. Wir haben gerade ein Finanzierungsteam aufgestellt, das in den nächsten Monaten ein Modell entwickeln wird, mit dem wir hoffentlich erfolgreich sein werden.

Was war bisher Ihr größter Erfolg?

Wir haben gezeigt, dass inklusiver Journalismus von der Grundidee her funktioniert. Es ist möglich, so zu arbeiten, es macht Spaß und es kommen gute Texte dabei heraus. —




„Menschen mit Behinderung müssen die Chance bekommen, mitzuentscheiden“

Herr Bollenbach, Sie waren bei der Bundestagswahl Direktkandidat der Grünen. Leider hat es für Sie nicht gereicht. Ihre Partei hat trotzdem 13,7 Prozent der Erststimmen bekommen. Wie geht es jetzt für Sie weiter?

Ich mache mich weiterhin für meine Themen stark und gehe dabei alle Wege, bei denen meine Partei mich unterstützt. Der nächste Wahlkampf steht auch schon vor der Tür, im kommenden Jahr sind ja Landtagswahlen in Schleswig-Holstein. Vielleicht komme ich dort als Abgeordneter in den Landtag. Bei den Bundestagswahlen habe ich jedenfalls über 27.000 Erststimmen aus meinem Wahlkreis eingesammelt. Das zeigt, dass ich mich auf dem richtigen Weg befinde, finde ich.

Als Sie sich für die Landesliste beworben haben, haben Sie außerdem öffentlich gemacht, dass Sie Autist sind. Welche Reaktionen kamen darauf – und inwiefern stellt Sie das bei ihrer Arbeit als Politiker vor neue Herausforderungen?

Tatsächlich haben die meisten vorher nicht gedacht, dass ich Autist sein könnte. Für mein Umfeld war das also eher überraschend. Für mich selbst ist seitdem Vieles einfacher geworden. Vor allem, weil es mir jetzt deutlich leichter fällt, um Hilfe zu bitten, wenn ich sie brauche. Davor konnte ich das oft nicht, weil es dabei meistens um Sachen ging, die für Menschen ohne Autismus selbstverständlich sind. Zum Beispiel habe ich Schwierigkeiten damit, auf fremde Menschen zuzugehen. Auch Telefonieren fällt mir oft schwer. Das geht auch vielen Menschen ohne Autismus so. Aber der Unterschied liegt darin, dass solche Aufgaben in mir großen Stress auslösen können: Es kann regelrecht zu einer Reizüberflutung kommen. Da bin ich nach einem halben Tag Wahlkampf schon ziemlich geschafft. Aber jetzt kann ich es mir erlauben, darin nicht so gut zu sein, auch, weil meine Kolleg:innen davon wissen und ich sie um Hilfe bitten kann.
Zugleich bin ich aber auch angreifbarer geworden, muss mich also leider stärker mit Hass und Hetze im Netz auseinandersetzen als vorher. Das war mir aber von Anfang an bewusst. Persönlich lässt mich das zum Glück völlig kalt. Ich stelle mich dem aber trotzdem bewusst entgegen, denn solche vermeintlichen Auseinandersetzungen, die eigentlich nur blanke Ausgrenzung sind, haben für mich in einer Demokratie nichts verloren.

Was ist Ihr eigentlicher Beruf neben der Politik?

Ich bin Filmschaffender und Künstler, arbeite aber auch manchmal vor der Kamera als Komparse und war zuletzt Social-Media-Referent. Ich kann mich also sowohl im Beruf als auch in der Politik kreativ ausleben. Daraus ist unter anderem ein Dokumentarfilm entstanden, „Die Ehe meiner Großeltern“. Dafür habe ich meine Oma und meinen Opa in ihrem Alltag begleitet, beim Mittagsschlaf, beim Abendessen, bei kleinen Zankereien. Für mich war dabei vor allem der Spagat sehr spannend zwischen der sympathischen Darstellung dieser beiden Menschen, die mir sehr viel bedeuten, und der professionellen Distanz als Filmemacher. Das Ergebnis hat anscheinend auch anderen gefallen, denn mein Film wurde Anfang des Jahres mit dem Deutschen Generationenfilmpreis ausgezeichnet.

Ihr Slogan für die Kandidatur in Ihrer Partei war „Jung, schwul, behindert – Im Parlament nicht repräsentiert”. Was für Reaktionen gab es darauf aus Ihrer Partei?

Die Grünen haben sich vor einiger Zeit auf ein so genanntes „Vielfalt-Statut“ geeinigt. Damit stellen wir also den Anspruch an uns selbst, alle Personengruppen innerhalb unserer Partei so zu repräsentieren, wie sie auch in der Bevölkerung verteilt sind. Da ich gleich drei im Bundestag unterrepräsentierte Minderheiten vertrete – junge Menschen, homosexuelle Menschen und Menschen mit Behinderung – habe ich den besagten Slogan gewählt, um mich innerhalb der Partei für das Direktmandat zu bewerben. Und weil das ja ohnehin dem Statut der Grünen entsprach, gab es keine besonderen Reaktionen darauf. Für alle waren ja die damit verbundenen Themen wichtig. Und letzten Endes haben mich die Kolleg:innen genau deswegen als Kandidat der Landesliste und als Direktkandidat ins Rennen geschickt.

Haben Sie den Slogan auch nach außen in Ihrem Wahlkampf benutzt?

Nein. Trotzdem wurde ich auf Wahlveranstaltungen oft auf meine Homosexualität angesprochen. Manche Wähler:innen waren der Meinung, ich müsste das nicht so herausstellen. Sie meinten, ich würde mich damit selbst stigmatisieren. Ich sehe das aber anders. Für Vielfalt muss immer noch geworben werden, und da möchte ich ein Vorbild sein.

Welchen Stellenwert hatten Inklusionsthemen in Ihrem Wahlkampf? 

Einen sehr hohen – und dabei geht es für mich nicht nur um Menschen mit Behinderung. Wir haben in meiner Heimatstadt Bargteheide zum Beispiel extra ein Seniorencafé organisiert, weil ich alle Personengruppen der Gesellschaft möglichst gut verstehen und vertreten möchte. Dazu zählen auch ältere Menschen, die teilweise ja die gleichen Benachteiligungen erfahren wie Menschen mit körperlichen oder auch geistigen Behinderungen. Ich stand und stehe außerdem mit verschiedenen Behindertenverbänden in Kontakt und habe mich laufend mit ihnen ausgetauscht. Ich werde beispielsweise auch jetzt, nach dem Wahlkampf, zu Diskussionsrunden eingeladen. Viele Menschen haben mich vor allem deshalb kontaktiert, weil ich das Thema Inklusion für mich als Schwerpunkt gesetzt habe – und ich glaube, dass sie mich deswegen auch gewählt haben.

Wie müsste sich die Politik verändern, damit sie die Sichtweisen und Interessen von Menschen mit Behinderungen besser vertreten kann?

Das ist ganz einfach: Menschen mit Behinderung müssen die Chance bekommen, mitzuentscheiden! Ich persönlich glaube, dass der Weg zu politischer Teilhabe aktuell am ehesten über eine Parteimitgliedschaft führt. Die Parteimitglieder vertreten ja letztlich ihre Wähler:innen. Auch deswegen sollte eigentlich jede Partei den Anspruch an sich selbst stellen, auch Menschen mit Behinderung als Mitglieder dabei zu haben. Auch da gibt es aber Hürden. Meine Erfahrung hat gezeigt: Erst dann, wenn man bei den Parteien direkt auf der Matte steht und sie auf Herausforderungen aufmerksam macht, tut sich etwas. Es geht ja auch darum, voneinander zu lernen.

Welche Regierungskoalition wäre ihnen am liebsten und warum?

Ich selbst bin immer noch wehmütig, dass die Grünen es nicht geschafft haben, die nächste Regierung anzuführen. Klimaschutz und Inklusion müssen in der neuen Regierung aber auf jeden Fall eine hohe Priorität haben.
Die meisten Schnittmengen sehe ich da schon bei der SPD. Ich bin ich mir aber relativ sicher, dass speziell bei den Themen Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Behinderung auch mit der FDP einiges umgesetzt werden kann. Beim Klimaschutz bin ich da schon skeptischer, aber es muss ein Kompromiss gefunden werden. Ich hoffe trotzdem, dass bei den wirklich wichtigen Themen meiner Partei möglichst wenig Abstriche gemacht werden müssen.

Wenn Sie drei Wünsche an die neue Regierung hätten, welche wären das?

Ich wünsche mir auf jeden Fall, dass die Regierung sich klar für Klimaschutz und Inklusion positioniert. Beides muss einen höheren Stellenwert in der Gesellschaft bekommen. Dazu wäre es wichtig, dass mindestens eine Person mit Behinderung Teil der neuen Regierung wird. Und mein dritter Wunsch ist ein neues Ministerium, das sich um die Belange von Menschen mit Behinderung und um die von anderen diskriminierten Minderheiten kümmert.




„Irgendwann möchte ich unabhängig von meinen Eltern leben“

Melanie Strasser lebt mit Rollstuhl, sie spricht langsamer und undeutlicher als andere und kommuniziert deswegen lieber schriftlich. Die Agentur für Arbeit riet ihr deshalb, in einer Werkstatt für behinderte Menschen anzufangen oder sich gleich arbeitslos zu melden.

Melanie Strasser befolgte diesen „Rat“ aber nicht. Gemeinsam mit ihrer Mutter fand sie selbst einen Ausbildungsplatz und ließ sich zur Kauffrau für Büromanagement weiterbilden. Sie zog in ein Internat, sammelte erste praktische Erfahrungen und fand schließlich einen passenden Job. Nach einem dreimonatigen Praktikum bei einer Bildungs- und Begegnungsstätte bekam sie dort eine feste Stelle. Ihr nächster Wunsch steht auch schon fest: So viel zu verdienen, dass nicht mehr bei ihren Eltern wohnen muss.




Vier Fragen an… Frank Albin vom Deutschen Olympischen Sportbund

Herr Albin, was ist der Job von Event-Inklusionsmanager:innen, kurz „EVI“s?

Die Aufgabe von „EVI“s ist es, Sport-Events und -Großveranstaltungen inklusiv und barrierefrei zu gestalten. Das beginnt mit der inklusiven Anmeldung zum Event, etwa über eine barrierefreie Website des Veranstalters, auf der alle Informationen auch für Menschen mit Sehbehinderung zugänglich sein sollten. Das Gebäude oder Gelände, auf dem die Veranstaltung stattfindet, sollte außerdem nicht nur für Menschen mit Gehbehinderungen barrierefrei sein, sondern zum Beispiel auch für blinde Menschen, die sich mit einem Taststock oder über Schilder mit Brailleschrift orientieren. Und die Moderation und Kommentare sollten für gehörlose Zuschauer:innen und Athlet:innen zugänglich gemacht werden, also von Gebärdensprachdolmetscher:innen übersetzt werden. Die Event-Inklusionsmanager:innen sorgen in ihren Sportorganisationen dafür, dass all das bei der Planung mit bedacht und gut umgesetzt wird.

In welchen Organisationen arbeiten die „EVI“s?

Ende Mai wurden von einer Jury die ersten zwölf Organisationen ausgewählt, die eine Förderung für solch eine EVI-Stelle bekommen. Darunter sind zum Beispiel der Deutsche Rollstuhl-Sportverband in Kooperation mit dem Deutschen Behinderten-Sportverband, Special Olympics Deutschland, die Sepp-Herberger-Stiftung des Deutschen Fußball-Bunds, der Deutsche Motor Sport Bund und der Deutsche Ruderverband. Die Verbände schaffen jeweils einen Arbeitsplatz für einen Menschen mit Schwerbehinderung, der für zwei Jahre aus Mitteln des Ausgleichsfonds des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales finanziert wird. Von 2023 bis 2025 läuft eine zweite Projektphase, dafür wählt die Jury wieder zwölf Organisationen aus, die erneut „EVI“s einstellen können.
Die Finanzierung ist übrigens als Anschubfinanzierung gedacht. Wir hoffen natürlich, dass wir diese Stellen erhalten können und durch das Projekt auch langfristig mehr Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung im Sport schaffen. Ich bin da zuversichtlich, denn die ersten Organisationen haben jetzt schon signalisiert, dass sie weitermachen möchten. Und sie werden sicher ein Vorbild für viele Vereine sein, die in den nationalen Sportverbänden organisiert sind.

Sie nennen mehrere Behindertensportverbände in Ihrer Aufzählung. Warum stellen sie überhaupt „EVI“s ein – sind ihre Veranstaltungen nicht sowieso schon barrierefrei?

Jein. Die Behindertensportverbände haben eine Vorbildfunktion. Allerdings sind sie in der Regel auf ihre Zielgruppe fokussiert, also auf Menschen mit bestimmten Behinderungen, was ja auch verständlich ist. Die Verantwortlichen in diesen Organisationen merken aber inzwischen, dass sie sich öffnen und auch für andere Behinderungsarten inklusiver aufstellen müssen. Der Rollstuhl-Sportverband etwa hat bisher kaum inklusive Angebote für Menschen mit Sehbehinderung. Und der Deutsche Gehörlosen-Sportverband kann sicher noch einiges tun, damit nicht nur gehörlose Menschen zu seinen Veranstaltungen kommen.

Wie unterstützt der DOSB die „EVI“s und deren Arbeitgeber:innen?

Wir bieten unter anderem eine neue Qualifizierung namens „Eventmanagement im Sport“ an. Die Kurse sind nicht nur für die „EVI“s gedacht, sondern stehen allen Menschen mit und ohne Behinderung offen, die ihre Organisation und ihre Angebote inklusiver gestalten wollen. Zusätzlich können die „EVI“s ein Jobcoaching in Anspruch nehmen, wenn sie das möchten. Wir besuchen außerdem sämtliche Sportorganisationen und stellen bei Bedarf Kontakte zu Beratungsstellen und anderen Expert:innen her, die dabei helfen, Arbeitsplätze barrierefrei zu gestalten.
Langfristig sollen die Event-Inklusionsmanager:innen und die Sportverbände von dem Netzwerk profitieren, das wir durch das Projekt gemeinsam Stück für Stück aufbauen. Die „EVI“s vernetzen sich bei regelmäßigen Treffen untereinander und tauschen ihr Wissen und ihre Erfahrungen aus. Wir organisieren darüber hinaus auch Treffen für die Arbeitgeber:innen – und wir möchten die Sportverbände mit Behinderten- und Selbsthilfeorganisationen zusammenbringen, die bisher noch keinen oder kaum Kontakt zum Sportbereich haben. In den nächsten Jahren wollen wir einen digitalen Informationspool aufbauen, in dem wir das Wissen, die Ideen und Lösungen aller Beteiligten zur Umsetzung inklusiver Sportveranstaltungen sammeln. Denn so können bald auch andere Organisationen darauf zugreifen und damit arbeiten.




Expert:innen in eigener Sache: Dozierende mit Behinderung als Inklusionstrainer:innen

Am Annelie-Wellensiek-Zentrum für inklusive Bildung an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg lehren und forschen Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam. Anna Neff, Helmuth Pflantzer und Thorsten Lihl sind drei der sechs neuen Dozent:innen mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung.
Vor ihrer Anstellung an der Hochschule haben sie alle in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet. Sie qualifizierten sich dann im Rahmen des Projektes „Inklusive Bildung Baden-Württemberg“ innerhalb von drei Jahren zur Bildungsfachkraft weiter und wechselten im November 2020 an das Annelie-Wellensiek-Zentrum.

Jetzt haben sie ein eigenes Büro, werden nach Tarif bezahlt und sind gleichwertige Mitarbeitende. Das ist bisher einmalig an deutschen Hochschulen.

In ihren Seminaren erzählen die Dozent:innen ihren Studierenden von ihrem Leben mit Behinderung. Wie es dazu gekommen ist, welchen Vorurteilen sie dadurch ausgesetzt werden und was sie sich von einer guten Inklusion wünschen. So soll die Inklusionskompetenz der angehenden Pädagog:innen gestärkt werden. Und das zeigt Wirkung. Viele Studierende haben vorher noch nie mit einem Menschen mit Behinderung gesprochen. Sie erkennen durch die Gespräche an der Uni, dass viele Menschen mit Behinderung oft eine komplexe Vorgeschichte haben, die nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist.

Dieser ZEIT-CAMPUS-Artikel (mit Abo lesbar) zeigt am Beispiel der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, wie alle von Inklusion profitieren können und erklärt, welche Anreize dazu führen könnten, dass mehr Hochschulen Bildungsfachkräfte einstellen.




Ein alter Beruf und ein modernes Hilfsmittel: Wie ein Scherenmonteur mit bionischer Unterstützung arbeitet

Herr Schrage, in welchem Beruf arbeiten Sie und wann haben Sie damit begonnen?

Ich habe 1978 mit meiner Ausbildung zum Scherenmonteur angefangen. In diesem Beruf habe ich 21 Jahre lang gearbeitet. Im Jahr 1999 habe ich ins LVR-Industriemuseum Gesenkschmiede Hendrichs gewechselt. Dort habe ich von Solinger Handwerksmeistern auch noch das Schleifen von Messern gelernt.

Bei so viel Erfahrung passt es sehr gut, dass Sie im LVR-Industriemuseum Gesenkschmiede Hendrichs heute den Schleif- und Reparaturservice betreuen. Warum hat das Museum so einen Service und was ist Ihr Job dort?

Der damalige Museumsleiter wusste um meine langjährige Berufserfahrung und hatte deshalb die Idee, in der Gesenkschmiede nicht nur Führungen anzubieten, sondern zusätzlich auch noch einen Besucherservice, zu dem die Leute ihre Scheren und Messer mitbringen und bei uns schärfen lassen können. Wir haben seinerzeit sogar eine eigene Schere für das Museum entwickelt. Meine Hauptaufgabe ist aber eigentlich nicht das Schleifen, vor allem betreue, begleite und führe ich die Besucherinnen und Besucher der Gesenkschmiede.  

Sie arbeiten also nicht nur handwerklich, sondern vermitteln auch Wissen?

Genau, ich arbeite sehr viel museumspädagogisch. Zum Beispiel, wenn Kindergärten, Schulklassen und Erwachsenengruppen zu Besuch kommen, oder an Aktionstagen wie dem „Girlsday“ oder dem „Boysday“. Dann zeige ich jungen Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen die Ausstellung, damit sie einen Eindruck der jeweils vielleicht eher geschlechteruntypischen Berufe in der Schmiede bekommen können. Ich führe auch Jugendliche im Rahmen des „MINT-Mädchen“-Projekts des Bundesministeriums für Bildung und Forschung durch die Gesenkschmiede, also junge Frauen, die sich für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften oder Technik interessieren. Und ich gebe Workshops zu verschiedenen Themen, beispielsweise zum Bau von Taschenmessern.

Wenn Sie wieder am Schleifstein sitzen, benutzen Sie ein Hilfsmittel, einen bionischen Handschuh. Wie funktioniert diese Technik und wofür nutzen Sie sie?

Ich kann meine rechte Schulter und den Daumen der rechten Hand nur sehr eingeschränkt benutzen. Der Handschuh unterstützt mich und gleicht die fehlende Kraft aus. Er hat Sensoren, die die Bewegung meiner Finger erkennen. Und die Elektronik im dazugehörigen Rucksack verstärkt mit einem Motor die Kraft der Finger. Dadurch kann ich Messergriffe und die Scheren beim Schleifen sicher halten, Scherenklingen mit einem Hammer abrichten und Scheren montieren. Ohne den Handschuh könnte ich diese Arbeiten nicht präzise ausführen.

Wie sind Sie auf diesen Handschuh gekommen?

Das war nicht ich, sondern Norbert Poqué vom technischen Beratungsdienst des LVR-Inklusionsamtes. Er kannte meinen Fall und hat mir den Handschuh empfohlen. Finanziert wurde das Hilfsmittel dann über die Fachstelle für Menschen mit Behinderung im Arbeitsleben in Solingen.

Kommen Sie gut damit klar oder würden Sie gern etwas daran verbessern?

Der Handschuh unterstützt mich sehr gut in der täglichen Arbeit. Die Sensorik reagiert aber natürlich schon ein wenig träger als der Körper selbst. Ich spüre durchaus einen Unterschied zwischen der linken und der rechten Hand. Wenn es künftig möglich wäre, das zu verfeinern, fände ich das toll. Aber der Handschuh ist wie gesagt auch so ein tolles Hilfsmittel. Ich benutze ihn auch zu Hause bei vielen alltäglichen Arbeiten, bei denen ich Kraft zum Greifen brauche. Zum Beispiel im Garten, wenn ich Pflanzen ins Beet setzen will.

Bei der A+A-Messe führen Sie am gemeinsamen Infostand des LVR und LWL Ihre Fähigkeiten an einem alten Schleifstein vor. Unterscheidet sich diese alte Schleiftechnik von der heutigen Art, Messer und Scheren zu schärfen?

Ein Reparaturservice funktioniert sowieso nur von Hand, daher gibt es hier kein Alt und Neu. Das LVR-Industriemuseum will ja außerdem die Arbeitsbedingungen in der Solinger Schneidwarenindustrie aus dem vergangenen Jahrhundert zeigen. Ich arbeite also auch noch mit der Technik von früher, die heutige Art des Schärfens kann ich daher nicht direkt beurteilen. Ich weiß, dass die Solinger Schneidwarenindustrie inzwischen oft mit computergesteuerten Schleifmaschinen arbeitet. Es gibt aber auch weiterhin einige Betriebe, die besonders hochwertige Schneidwaren herstellen und auch heute noch von Hand schleifen – genauso wie vor 100 Jahren.






Aus Angst vor Nachteilen

Fatma Ismail aus Wuppertal, die mit Business Insider über das Thema ausführlich gesprochen hat, gehört zu den Menschen, die ihre Behinderung in ihrem beruflichen Umfeld lange verschwiegen haben. Aus gutem Grund: Bei ihrem ersten Vorstellungsgespräch bekam sie unverblümt zu hören, dass sie nur befristet eingestellt werden würde, weil sie einen Schwerbehindertenausweis hatte.

Der Hintergrund solcher harschen Aussagen ist meist, dass viele Arbeitgeber die Auflagen scheuen, die sie für Mitarbeitende mit Behinderung einhalten müssen: den besonderen Kündigungsschutz zum Beispiel oder den Anspruch auf einen behindertengerechten Arbeitsplatz. Die junge Frau ließ sich aber nicht entmutigen. Trotz frustrierender Erfahrungen setzte sie sich in ihrem Job durch. Die dreifache Mutter ist heute selbstständige Karriereberaterin und arbeitet als Produktmanagerin in Teilzeit bei ihrem ersten Arbeitgeber.

Der Beitrag erzählt ihre Geschichte, gibt Einblicke in die Studie – und liefert Impulse für Unternehmen, die Menschen mit Behinderung beschäftigen.