Podcast-Tipp: „Kleinwüchsige schenken Kurze aus“

Wer in den vergangenen Jahren gerne Festivals besucht hat, kennt vielleicht die „MiniBar“: An einer 80 Zentimeter hohen Theke servieren die drei kleinwüchsigen Männer Peter Brownbill, Peter Gatzweiler und Frank Ramirez Schnäpse – also „Kurze“. Unter ihrem Künstlernamen „TimeBandits“ bieten sie außerdem für Veranstaltungen eine „MiniSecurity“ und Comedy-Auftritte an.
Die Idee der Bar finden viele lustig und gut aber nicht alle. Der Bundesverband Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien (BKMF) kritisiert, das Geschäftsmodell der „TimeBandits“ bediene ein veraltetes Bild von Menschen mit Behinderung und diskrimiere andere Kleinwüchsige.

Die Autorin Anke van de Weyer hat die drei Künstler und Michel Arriens vom BKMF dazu interviewt. Daraus ist eine tolle Audio-Reportage für den Deutschlandfunknova-Podcast „Einhundert“ entstanden über berufliche Selbstbestimmung, Provokation, Diskriminierung, den schmalen Grat dazwischen und die damit verbundenen Grundsatzfragen. Unser Fundstück der Woche!




Vom privaten Nähprojekt zum inklusiven Modelabel

Sandra und Christian Brunner, was ist das Besondere an Ihrem Label „einzigNaht“?

Sandra Brunner (SB): Wir verkaufen handgemachte, maßgeschneiderte Kleidung für Kinder mit körperlichen Behinderungen oder chronischen Erkrankungen. Manche dieser Babys und Kinder können Bodys oder Pullis von der Stange nämlich nicht tragen, weil sie besondere Körpermaße haben, ein stabilisierendes Hilfsmittel wie eine Orthese brauchen oder über eine Magensonde ernährt werden. Für viele Eltern ist es eine sehr große zusätzliche Herausforderung, passende Kleidungsstücke für ihre Kinder zu finden. Das möchten wir ändern.

Christian Brunner (CB): Wir nähen deshalb Kleidung, die ganz individuell an die Bedürfnisse des einzelnen Kindes angepasst und dabei so gestaltet wird, dass Schläuche oder andere Hilfsmittel nicht zu sehen sind. Wir möchten die Funktion eines Kleidungsstücks nämlich auch immer mit einem schönen Design verbinden, denn auch für Kinder stiftet die Kleidung Identität. Die klassische Reha-Kleidung sieht oft sehr funktional und medizinisch aus. Das strahlt nicht sonderlich viel Lebensfreude aus. Für unsere einzigNaht-Kleidung haben wir daher ganz bewusst fröhliche und kindgerechte Stoffe ausgesucht.

Wie kam Ihnen die Idee zu Ihrem Start-up?

SB: Das Projekt ist eigentlich aus der Not heraus entstanden. Wir brauchten selbst individuelle Kleidung für unsere heute vierjährige Tochter Laura. Sie hat das seltene Williams-Beuren-Syndrom und ist dadurch so zierlich, dass wir nichts Passendes für sie finden konnten. Alles schlackerte an ihr herum und Laura hat sich sehr unwohl gefühlt. Vor gut drei Jahren habe ich mir eine Nähmaschine gekauft und angefangen, selbst Bodys, Hosen und Pullis für sie zu nähen. Die Stücke sprangen auch anderen Eltern ins Auge, wir wurden oft darauf angesprochen. Eine Mutter hat mich dann darum gebeten, Klamotten für ihre Tochter anzupassen, die eine Magensonde hat. So hat alles angefangen.

CB: Auch über Facebook haben wir viel Lob und Anfragen von Familien bekommen, die ähnliche Probleme hatten wie wir. Dadurch haben wir erst gemerkt, wie groß der Bedarf an individueller Kleidung für Kinder offenbar ist. Ich habe verschiedene Statistiken recherchiert: Schätzungen zufolge gibt es allein in Deutschland etwa 250.000 Kinder, die wegen einer Behinderung oder chronischen Erkrankung Maßanfertigungen brauchen – genau wie unsere Tochter. Also haben wir im Sommer 2018 einzigNaht gegründet.

Ist das Ihr erstes Unternehmen?

CB: Ja, deshalb hatten wir in einigen Punkten kaum Erfahrung mit der Gründung eines Startups. Wir haben uns Schritt für Schritt in viele Details eingearbeitet, gerade am Anfang war die Lernkurve sehr steil (lacht). Wir haben aber von Erfahrungen aus unseren früheren Manager-Jobs profitiert: Ich komme aus dem Marketing und Sandra hat in der Textilbranche gearbeitet.

SB: Sechs Monate nach der Gründung wurden unsere Mühen belohnt: Wir haben 2019 den Hamburger „Gründergeist“-Award gewonnen. Das hat unser Start-up sehr vorangebracht. Neben dem Preisgeld von 5.000 Euro haben wir vor allem von der Beratung profitiert, die wir bekommen haben. Mit unseren Coaches haben wir zum Beispiel besprochen, welche Rechtsform zu uns passt und wie wir das Unternehmen finanzieren können. Die Beraterinnen und Berater haben uns aber natürlich immer nur Empfehlungen gegeben. Danach mussten wir selbst mutig sein, Entscheidungen fällen und handeln. Das ist der Hauptunterschied zum Angestelltendasein.

Wie haben Sie den Start des Labels finanziert?

CB: Wir haben einen privaten Kredit im mittleren fünfstelligen Bereich aufgenommen sowie eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, bei der 12.000 Euro zusammengekommen sind. Durch das Crowdfunding haben wir die ersten vier Kollektionen finanziert. Wir haben einige Grundmodelle entworfen, die später individuell für jedes Kind angepasst werden. Das Modegeschäft ist ja sehr schnelllebig und es gibt oft neue Designs, deshalb haben wir die Stoffe, die wir derzeit verarbeiten, gleich in größeren Mengen angeschafft.

SB: Das war eine große Investition, weil wir mit fair produzierten Bio-Stoffen arbeiten, die natürlich etwas teurer sind. Parallel haben wir einen größeren Betrag ins Marketing gesteckt und uns bei der grafischen Umsetzung – zum Beispiel unseres Logos und der Website – Unterstützung geholt. Außerdem haben wir 5.000 Euro in eine Software investiert, mit der ich Schnittmuster erstellen kann. Vorher habe ich sie mit Bleistift auf Papier entworfen. Am Computer geht das viel schneller.

Für so ein Schnittmuster brauchen Sie ja die genauen Maße des Kindes. Wie nehmen Sie die? Müssen die Familien einen Termin bei Ihnen vereinbaren?

SB: Nein, die Familien können selbst ganz in Ruhe zuhause messen. Das ist für alle angenehmer, denn pflegende Eltern haben wenig Zeit und Kinder lassen sich nicht gerne von fremden Personen vermessen. Als Vorlage und Anleitung zum Maßnehmen dient unser Vermessungsmännchen „Friis“, das auf unserer Website abgebildet ist. Die Maße können die Eltern anschließend in ein Formular eintragen und mir schicken. Dazu schreiben sie mir zumeist noch weitere Infos, zum Beispiel wie alt ihr Kind ist und welche besonderen funktionalen Anforderungen die Kleidung erfüllen soll.
Wenn ich diese Infos habe, telefonieren wir zu den Details. Wie bewegt sich das Kind, kann es schon krabbeln? Mag es lieber lockere Abschlüsse oder sind Bündchen besser? An welchen Stellen sollte sich das Kleidungsstück schnell öffnen und schließen lassen, damit die Pflege einfacher wird? Wir klären also viele praktische Fragen. Die Gespräche sind dabei oft sehr emotional, es fließen auch nicht selten Tränen, weil die Eltern sich das erste Mal verstanden fühlen. Wer selbst kein Kind mit Behinderung hat, kann sich einfach nicht vorstellen, welche Herausforderungen das im Alltag mit sich bringt.

In jedem Kleidungsstück stecken also nicht nur viele Emotionen, sondern auch eine Menge Vorbereitung und Arbeit. Wie wirkt sich das auf die Preise aus? Können sich alle Familien Ihre Produkte leisten?

SB: Individuell gefertigte Einzelstücke sind natürlich teurer als Kleidung von der Stange. Es ist aber schwierig, diese Preise pauschal zu benennen, weil jedes Kind und jeder Auftrag anders sind. Im Schnitt kostet ein Set aus Hose, Body und Pullover etwa 180 Euro. Die Mehrkosten im Vergleich zu Standardkleidung relativieren sich aber schnell, weil unsere Stoffe sehr hochwertig und zugleich nachhaltig sind. Ich verarbeite ein pflegeleichtes Gemisch aus Wolle und Seide, das einfach ausgelüftet werden kann und an dem Flüssigkeiten fast vollständig abperlen. Die Stücke halten also lange, weil die Qualität sehr gut ist, und die Eltern müssen sie viel seltener waschen. Deshalb braucht ein Kind im Vergleich zu gewöhnlicher Kleidung nur etwa ein Drittel so viele Kleidungsstücke.

CB: Wir wissen, dass diese Kosten für viele Familien trotzdem kaum zu stemmen sind. Deshalb haben wir gerade den Verein „einzigArtige Inklusion“ gegründet, um ihnen durch Spenden dennoch individuelle Kleidung für ihre Kinder zu ermöglichen. Dieser Verein hat eine sehr schöne Entstehungsgeschichte: Wir wurden schon oft von Menschen angesprochen, die unser Projekt toll finden und als „Näh-Paten“ die Kosten für einzelne Kleidungsstücke übernommen haben. Über „einzigArtige Inklusion“ wird das sowohl für die Spenderinnen und Spender als auch für uns noch einfacher.
Diese Form der Unterstützung ist für uns allerdings nur ein erster Schritt. Als nächstes werden wir mit Gesetzlichen Krankenkassen sprechen, um mit unserer Kleidung in ihre Hilfsmittelkataloge aufgenommen zu werden. Wenn wir damit Erfolg haben, können Kinder mit Behinderung ihre Kleidung auf Rezept erhalten.

Welche Pläne haben Sie für die Zukunft von einzigNaht?

SB: Wir möchten noch in diesem Jahr einen Online-Shop aufbauen, in dem Eltern, Großeltern und Verwandte die benötigten Maße eingeben und Kleidungsstücke direkt bestellen können. Individuelle, persönliche Bestellungen nehmen wir natürlich auch weiterhin an. Außerdem möchten wir Musterstücke in Physiotherapie-Praxen oder Krankenhäusern auslegen, damit die Kundinnen und Kunden sich unsere Kleidung aus der Nähe anschauen und anfassen können. In einigen Krankenhäusern liegen bereits unsere Flyer, das wollen wir ausweiten.

CB: Langfristig möchten wir in Hamburg ein inklusives Näh-Atelier aufbauen, in dem wir Menschen mit Behinderung anstellen. Wir sind bereits mit mehreren Interessenten im Gespräch. Je nach ihren individuellen Fähigkeiten und Wünschen können sie demnächst Kleidungsstücke nähen, im Marketing oder Social-Media-Management mitarbeiten oder mit speziellen Grafikprogrammen Schnittmuster entwerfen. Ihre Berufserfahrungen oder Vorbildung sind dabei nicht so wichtig – für uns zählt, dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hinter unserem Konzept stehen.


Über unsere Interviewpartner:innen




„Jeder Olympia-Stützpunkt sollte zugleich auch paralympisch sein“

Frau Knoblauch, Sie und Ihr Team steckten gerade mitten im Training für die Para-Weltmeisterschaften in Tokio, als die Corona-Pandemie alles durcheinanderbrachte. Wie hat sich dadurch Ihr Alltag verändert?

Die größte Veränderung ist, dass ich viel weniger trainiere als vorher. Normalerweise mache ich pro Woche sechs Stunden Krafttraining, 13 Stunden Badminton auf dem Feld und drei Stunden Ausdauer-Training. Hinzu kommen noch Physiotherapie, Ernährungsberatung und Termine bei Sportpsychologen. Anfang März war das schlagartig vorbei. Zwei Tage vor dem Abflug zum letzten Qualifikationsturnier in Spanien kam die Absage – rückblickend war das gerade noch rechtzeitig, denn kurz darauf wurde Spanien zum Risikogebiet erklärt. Es ist also sehr gut, dass das Turnier verschoben wurde, auch wenn das für uns alle großes Chaos bedeutet. So ist es ja auch in vielen anderen Bereichen, die ich übrigens viel wichtiger finde als den Sport.

Das Training einfach abzubrechen, ist für Leistungssportlerinnen und -sportler mitten in der Qualifikation wahrscheinlich keine gute Idee. Wie halten Sie und Ihr Team sich zu Hause fit?

Wir wissen leider noch nicht, wann wir wieder in die Hallen und die Krafträume können, und versuchen deshalb, in der Zwischenzeit irgendwie anders am Ball zu bleiben. Wir trainieren mit dem Team täglich eine Stunde über Skype, also per Videokonferenz. Für das Cardio-Training sind wir jeweils alleine mehrmals pro Woche mit dem Handbike draußen unterwegs – aber das war es auch schon. Eigentlich reicht das nicht.

Bis wann gelten die Trainingsverbote in Deutschland?

Vorerst sind bis zum 31. Mai alle Trainingslehrgänge und Turniere ausgesetzt. Durch die Absage des letzten Turniers ist auch noch nicht klar, wer sich für die Paralympics qualifiziert hat. Normalerweise hätten wir das im April erfahren. Die Organisatoren können derzeit auch noch nicht sagen, ob die Qualifikation vorzeitig abgeschlossen ist, ob sie verlängert wird oder ob es eine ganz neue geben wird. Keiner weiß, wie es weitergeht.

Womit beschäftigen Sie sich in der Zwischenzeit? 

Soweit das unter den aktuellen Umständen möglich ist, wende ich mich jetzt wieder mehr meinem Psychologie-Studium zu, das durch das viele Training in letzter Zeit zu kurz gekommen ist. Allerdings geht das Semester ja auch erst Anfang April wieder los – und die Uni Köln hat, wie alle Hochschulen, derzeit noch Probleme damit, von heute auf morgen flächendeckende Video-Seminare anzubieten. Schauen wir mal, was die nächsten Wochen bringen werden.

Valeska Knoblauch beim Para-Badminton in einer Sporthalle.
Foto: Mark Phelan/Badminton Europe

Mal ganz abseits der Corona-Pandemie und ihren Folgen: Wie inkludiert fühlen Sie sich als Rollstuhlfahrerin in Ihrem Studium und in der Berufswelt?

Im Studium habe ich meine Behinderung noch nie als Barriere empfunden. Auch in den Praktika, die ich während des Studiums absolvieren musste, habe ich durchweg nur positive Erfahrungen gemacht. Vielleicht lag das aber auch daran, dass ich dort immer in Krankenhäusern gearbeitet habe. Wie es in Arztpraxen oder in Unternehmen mit der Inklusion aussieht, kann ich nicht beurteilen.

Im Sport können Sie das sicher sehr gut einschätzen. Wie steht es aus Ihrer Sicht dort um die Inklusion?

Dazu möchte ich ein schönes Beispiel aus dem letzten Jahr nennen. Im August 2019 wurden die Parabadminton- und die Badminton-WM erstmals gleichzeitig und in einem Gebäude-Komplex ausgetragen. Das war für uns Para-Sportlerinnen und -Sportler ganz neu, weil plötzlich eine größere Aufmerksamkeit für uns da war. Es waren viel mehr Zuschauer auf den Rängen – und dadurch kam so richtig Stimmung auf. Wir haben außerdem viel Anerkennung der nicht-behinderten Athleten erfahren und die deutschen Teams haben sich untereinander sehr unterstützt. Das war ein tolles Gefühl. Ich fände es deshalb super, wenn das ab sofort immer so wäre, also wenn sich das Konzept etablieren würde, die Wettkämpfe grundsätzlich gleichzeitig auszutragen.

Warum, glauben Sie, ist das im Moment noch nicht so?

An den sportlichen Leistungen, der Stimmung und dem Unterhaltungsfaktor kann es nicht liegen, das bieten beide Wettkämpfe. Ich weiß aber, dass Events in dieser Größe mit großen logistischen und organisatorischen Herausforderungen verbunden sind. Die Wettkampfstätten müssen ja auch die Bedürfnisse aller Teilnehmenden erfüllen. Diese hohen Anforderungen sprechen derzeit wahrscheinlich gegen eine regelmäßige gleichzeitige Austragung der Meisterschaften.
Wenn die mediale Aufmerksamkeit jeweils gleich groß wäre, fände ich es in Ordnung, wenn sie weiterhin nacheinander stattfinden – aber das ist eben oft nicht der Fall. Dabei trainieren und kämpfen wir Para-Athletinnen und -Athleten ja im Vorfeld mindestens genauso hart für die Teilnahme am Wettkampf wie die Olympioniken und hätten die Aufmerksamkeit ebenso verdient.

Wie beurteilen Sie die Inklusion im Sport insgesamt?

Das ist ein ziemlich weites Feld mit sehr vielen Disziplinen, dazu kann ich also kein allgemeingültiges Urteil abgeben. Ich glaube aber, dass das stark von den einzelnen Sportarten abhängt. Auch die Aufgeschlossenheit der Menschen spielt eine große Rolle – die der Sportlerinnen und Sportler mit und ohne Behinderung, aber auch derer, die rundherum mitwirken oder organisieren. Meine Erfahrung ist, dass sich immer etwas Neues, Gutes entwickelt, von dem alle profitieren können, wenn die Türen für Inklusion erst einmal geöffnet sind und dadurch auch die Berührungsängste abnehmen.

Können Sie Beispiele nennen?

Die schon genannte Para-Badminton-WM im August 2019 etwa, bei der man sehen konnte, dass das Interesse auf beiden „Seiten“ offenbar groß ist. Oder die Trainings mit unserem Bundestrainer an der Sporthochschule: Die „Fußgänger“, also die Studentinnen und Studenten ohne Gehbehinderung sehen mich dort häufig. Die finden das sehr spannend, weil meine s­­portliche Disziplin ganz auf den Rollstuhl ausgelegt ist. Ich mache auch anderes Krafttraining und das Para-Badminton selbst folgt etwas anderen Regeln. Es hat eine andere Dynamik.

Welche strukturellen Veränderungen wünschen Sie sich, damit sich noch mehr Menschen für die Paralympics begeistern?

Ich fände es zum Beispiel sehr gut, wenn jeder Olympia-Stützpunkt zugleich immer auch ein Paralympics-Stützpunkt wäre. Das wäre ein wichtiger erster Schritt, um einen regen Austausch zwischen den Trainingslagern zu etablieren, denn so könnten sich die Athletinnen und Athleten gemeinsam beziehungsweise nebeneinander auf die Wettkämpfe vorbereiten. Sie wären gleichwertig und würden untereinander mehr über die Sportart, das Training und die Erfolge des jeweils anderen Teams erfahren. Das könnte viel zur Inklusion beitragen – nicht nur im Sport.

Was wünschen Sie sich für Ihre berufliche Zukunft?

Als allererstes hoffe ich auf eine erfolgreiche Teilnahme bei den nächsten Paralympics und in diesem Zusammenhang auf baldige Klarheit für uns alle, wann sie stattfinden werden. Danach möchte ich allmählich wieder in mein Studium zurück finden.
Auf lange Sicht würde ich sehr gern weiterhin den Sport und den Beruf miteinander verbinden. Ich weiß von anderen Sportlern, dass das häufig sehr schwierig ist. Einige andere haben den Sport zugunsten des Berufs sogar ganz aufgegeben. Das fände ziemlich frustrierend und hoffe sehr, dass mir das nicht passiert. Bei manchen funktioniert es aber auch gut, vor allem bei Athletinnen und Athleten aus anderen Nationen, die ich bei Wettkämpfen kennengelernt habe. Das macht mir Mut.





Corona-Risikogruppen schützen: Rücksicht, bitte!

Noch immer haben offenbar nicht alle Menschen in der Bevölkerung verstanden, worum es bei den aktuellen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus in erster Linie geht: diejenigen zu schützen, für die eine Infektion besonders gefährlich werden könnte. Menschen aus Risikogruppen also – und die müssen nicht unbedingt über 75 Jahre alt sein, auch wenn in der Presse von ihnen am häufigsten die Rede ist. Auch für eine ganze Reihe jüngerer Menschen, die Vorerkrankungen oder bestimmte Behinderungen haben, kann die Infektion mit dem Corona-Virus lebensgefährlich sein. Sie sind deshalb besonders auf die Solidarität der übrigen Bevölkerung angewiesen.
Drei dieser jungen Menschen erzählen in einem Artikel auf jetzt.de, wie sie die Corona-Krise gerade erleben – und appellieren an all diejenigen, die sich immer noch zu wenig Gedanken machen. Diesen Aufruf möchten wir nachdrücklich unterstützen. Unser Fundstück der Woche!




Nachlese zum Weltfrauentag: Berühmte und engagierte Frauen mit Behinderung

„Die Neue Norm“ ist ein Projekt des Vereins Sozialhelden. Das Redaktionsteam schreibt in dem Online-Magazin über gesellschaftspolitische Fragen und führt Interviews mit Menschen mit Behinderung. Einmal im Monat erscheint ein Podcast, den die Journalistinnen und Journalisten Judyta Smykowski, Jonas Karpa und Raul Krauthausen zusammen mit dem Bayerischen Rundfunk produzieren.

Zum Internationalen Frauentag stellten die Redakteurinnen und Redakteure des Magazins in Kurzporträts zehn berühmte sowie weniger bekannte Frauen mit Behinderung vor zum Beispiel engagierte Aktivistinnen und Juristinnen, Schauspielerinnen und Journalistinnen. Zu jeder von ihnen haben die Autorinnen und Autoren in den Kurzporträts interessante Artikel, Webseiten oder Youtube-Videos verlinkt.




Mit Unterstützung zurück in den Beruf: Jobcoaching hautnah

Wenn ein Mensch eine schwere Behinderung hat oder im Laufe seiner Karriere erkrankt, können am Arbeitsplatz manchmal Schwierigkeiten entstehen. So genannte Jobcoaches helfen dabei, solche Probleme aufzulösen oder unterstützen Menschen nach längerer Krankheit beim Wiedereinstieg in den Job. Diese geschulten „Arbeitstrainer“ besuchen die Mitarbeiterin oder den Mitarbeiter über einen längeren Zeitraum am Arbeitsplatz, unterstützen sie oder ihn gemeinsam mit der Arbeitgeberin/dem Arbeitgeber oder helfen dabei, eine schwierige Situation wieder zu verbessern. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) bietet diese Form der Eins-zu-Eins-Betreuung schon seit rund 30 Jahren an.

Marie-Theres Hübner ist eine solche Arbeitstrainerin. Sie arbeitet als ausgebildete Ergotherapeutin in diesem Job und unterstützt seit Mai 2019 Menschen mit schweren Erkrankungen und Behinderungen an ihrem Arbeitsplatz – zum Beispiel auch den Krankenpfleger Marc Prosser. Der folgende Film erzählt die Geschichte des 46-Jährigen, der nach einer psychischen Erkrankung mit der Unterstützung der Jobcoachin wieder in seinen Beruf eingestiegen ist:

Ihr könnt euch den Film übrigens auch im Videoportal des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe herunterladen mit Untertiteln oder ohne.




Selbstbestimmt leben mit persönlicher Assistenz

Duschen, anziehen, die Haare zurechtmachen: All das kann Andrea Sahlmen wegen einer angeborenen Muskelerkrankung nicht allein tun. Rund um die Uhr sind deshalb persönliche Assistenten für sie da, die sie pflegen, für sie kochen und in ihrer Freizeit Ausflüge mit ihr unternehmen. Seit sie bei der Bielefelder Tageszeitung „Neue Westfälische“ arbeitet, begleiten und unterstützen die Assistenten sie auch in der Redaktion.

Für die Zeitung Neue Westfälische hat die Journalistin schon 2017 in diesem sehr zeitlosen Artikel aufgeschrieben, was es bedeutet, als junger Mensch gepflegt zu werden, und wie sie ihr Leben mit der Assistenz selbstbestimmt gestaltet.

Unser Fundstück der Woche!




„Wir sind alle ein Team!“

Tobias Rottmann schnappt sich seine Motorsäge. Er braucht sie an diesem nasskalten Vormittag in der abschüssigen Grünanlage eines großen Münsteraner Speditionsunternehmens. Um ihn herum sprießen üppige Feuerdornbüsche, manche Bäume sind bereits zugewuchert. „Feuerdorn wächst schnell, man muss ihn regelmäßig verjüngen und auf den Stock setzen“, sagt Rottmann. Dann wirft er die Motorsäge an und schneidet die Pflanzen bis auf den Stamm zurück. Der 36-Jährige rückt dem Feuerdorn aber nicht allein zu Leibe. Thomas Kramer und Frank Blümer sägen mit, Frederik Mauel schiebt die dornigen Äste in den Häcksler. Die Motorsägen und der Häcksler, der das Häckselholz zurück in die Büsche ausspuckt, dröhnen um die Wette. Mit sogenannten Earbags an ihren Helmen schützen sich die Männer gegen den Krach.

Tobias Rottmann ist der Vorarbeiter. In seinem Gartenbau-Trupp arbeiten Menschen mit Behinderungen, angestellt sind sie bei der Gemeinnützigen Umweltwerkstatt GmbH, kurz GUW. Der Garten- und Landschaftsbaubetrieb aus Münster kümmert sich um die Pflege öffentlicher und privater Garten- und Außenanlagen. Das Inklusionsunternehmen hat in den vergangenen Jahren kontinuierlich seine Marktanteile ausgebaut.

Über Bedenken hinweg

Diese Erfolgsgeschichte hängt ganz maßgeblich mit einem Mann zusammen: Thomas Pahls. 2015 verkaufte er sein florierendes Gartenbau-Unternehmen und übernahm die bis dato zur Caritas Münster gehörende GUW. Er übernahm auch die sechs GUW-Mitarbeiter, nutzte seine vielen beruflichen Kontakte, krempelte die Ärmel hoch und setzte sich über viele Bedenken in seinem Umfeld hinweg. „Weißt du, was du da tust?“, fragte ihn seine Frau anfangs.

Er wusste es. Und vor allem: Er wollte etwas vollkommen Neues, etwas Mutiges machen. Pahls sprach mit der Handwerkskammer Münster, mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) und mit vielen anderen: „Ich musste erst einmal lernen, was ein Inklusionsunternehmen überhaupt ist.“ Er investierte außerdem in einen modernen Maschinenpark und schaffte Bagger, Radlader, Häcksler an. „Das ist die Grundvoraussetzung, um überhaupt entsprechende Aufträge zu bekommen“, erklärt er.

Drei GUW-Mitarbeiter bei der Arbeit
Der Münstersche Garten- und Landschaftbaubetrieb kümmert sich um die Pflege öffentlicher und privater Garten- und Außenanlagen. Foto: LWL/Kopfkunst

Frühere Verbindungen

Und die Aufträge kamen tatsächlich. „Da haben mir meine früheren Verbindungen sicherlich geholfen“, sagt Thomas Pahls. In den ersten zwei Jahren verdreifachte er den Personalbestand. Heute arbeiten 35 Menschen bei der GUW, 45 Prozent davon sind Menschen mit Behinderungen.
Alle sind stolz darauf, dass die Kunden des Betriebs so gut wie immer sehr zufrieden sind und es kaum Reklamationen gibt. Was Thomas Pahls besonders freut: „Unsere Leute werden kaum noch krank, der Krankenstand ist extrem gesunken.“ Für ihn ein Beweis dafür, dass das Betriebsklima gut ist.

Dazu tragen auch eingespielte Arbeitsabläufe bei. Es gibt ein Vorladeteam, das ab 6:30 Uhr alle elf Fahrzeuge nebst Anhänger belädt, es folgt eine Morgenbesprechung mit klaren Ansagen und transparenten Teamstrukturen. „Wir haben die Teams so aufgestellt, dass sie menschlich gut zusammenpassen“, erklärt Pahls. Das Ergebnis: Die Mannschaften sind gut eingespielt, alle Arbeitsabläufe klappen reibungslos.

Rüschoff steigt ein

2018 holte Pahls Christian Rüschoff als neuen Co-Geschäftsführer zur GUW. Rüschoff führte bis dato einen gut gehenden Gartenbaubetrieb mit sechs Mitarbeitern, den er sich über elf Jahre hinweg aufgebaut hatte. Pahls warb beharrlich um ihn und bot ihm den Geschäftsführer-Posten bei der expandierenden GUW an. Rüschoff sagte schließlich zu und stieg bei der GUW ein. „Ich habe es nicht bereut“, sagt er rückblickend. Klar, zunächst musste er ein Gespür dafür entwickeln, wie er die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderung optimal ins Team integrieren konnte, „aber da bin ich schnell reingewachsen. Es macht Spaß, mit diesem Team zu arbeiten.“ Auch GUW-Chef Thomas Pahls ist überzeugt von seinem neuen Partner: „Christian wird die Zukunft der GUW gut gestalten!“

Das wird unter anderem mit Menschen wie Tobias Rottmann möglich, der sich vom Praktikanten zum Vorarbeiter hochgearbeitet hat. Vor gut drei Jahren kam er zur GUW. Wegen einer Luftröhrenverengung bekam er immer schlechter Luft, konnte in seinem vorherigen Beruf als Schweißer nicht weiterarbeiten und wurde arbeitslos. Er hat heute einen anerkannten Grad der Behinderung von 50. Weil er als Praktikant von Anfang an engagiert mit anpackte, bot GUW-Chef Thomas Pahls ihm eine feste Stelle an. „Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen, das hat mir sicher geholfen“, sagt Rottmann. Schnell machte er sich unentbehrlich. „Vor drei Jahren kam Thomas Pahls zu mir und meinte, ich hätte Führungsqualitäten. Er fragte mich, ob ich nicht Vorarbeiter werden wollte“, erinnert sich Rottmann. Seitdem führt er ein vierköpfiges Team, „und das ganz souverän“, wie Thomas Pahls findet. Tobias Rottmann selbst ist froh, bei der GUW angefangen zu haben: „Vom Praktikanten zum Vorarbeiter – das ist doch toll!“  

Thomas Pahls und Christian Rüschoff in einer großen Halle
Thomas Pahls (links) und Christian Rüschoff leiten die GUW. Die beiden Gartenbau-Profis haben das Unternehmen sowohl menschlich als auch wirtschaftlich nach vorne gebracht. Foto: LWL/Kopfkunst

Auf Augenhöhe

Dass Mitarbeiter wie Tobias Rottmann bei der GUW ihre Chancen so gut entfalten können, liegt auch am Führungsstil von Thomas Pahls und Christian Rüschoff. „Wir sind alle ein Team und begegnen unseren Leuten auf Augenhöhe“, sagt Pahls. Morgens begrüßt er jeden einzelnen Mitarbeiter per Handschlag. Und: „Hier duzt jeder jeden.“ Die beiden Chefs packen selbst mit an, und wenn etwas nicht klappt, wird das sofort besprochen. Denn die Motivation der Mitarbeiter ist für Pahls und Rüschoff das A und O eines erfolgreichen Unternehmens.

Zurück in der Grünanlage des Speditionsunternehmens: Vom Feuerdorn-Wildwuchs sind nur noch Häckselspäne übriggeblieben. Tobias Rottmann blickt zufrieden auf den Rückschnitt. Morgen wird er mit seinem Team zur nächsten Baustelle fahren. Er freut sich schon darauf.





„Blind ist nur eine von vielen Eigenschaften“

Lydia Zoubek ist unentschlossen: U-Bahn oder S-Bahn? Sie überlegt einen Moment. Während sie so dasteht und abwägt, packt sie plötzlich jemand am Arm. Sie ist erschrocken: Wer ist das und was will diese Person von mir? Sie befreit sich aus dem Griff und sagt, dass sie das nicht möchte. Die alte Dame, die ihr „nur helfen“ wollte, wie sich später herausstellt, hatte es offenbar gut gemeint – doch sie konnte gar nicht wissen, ob die Lydia Zoubek überhaupt Hilfe wollte. Sie hatte auch nicht gefragt, ob es in Ordnung ist, wenn sie sie anfasst.

Die Szene stammt aus einem Artikel im Blog lydiaswelt.com, auf dem die blinde Autorin solche und andere Situationen beschreibt. Als Antwort auf eine Frage, die die Bloggerin von sehenden Menschen regelmäßig hört, hat sie schon im Jahr 2017 einen zeitlosen Beitrag geschrieben: „Wie kann man blinden Menschen helfen?“

Der Artikel ist keine Gebrauchsanweisung, sondern beschreibt Beispiele aus Lydia Zoubeks Alltag. Dazu formuliert die Bloggerin noch ein paar Ratschläge, an denen sich sehende Menschen im Zweifel orientieren können.

Am wichtigsten ist für Lydia Zoubek ein respektvoller Umgang miteinander. Denn wer Blinde als grundsätzlich hilfsbedürftige Menschen wahrnimmt, ist auf dem Holzweg.
Die Bloggerin wünscht sich, dass andere je nach Situation einfach Unterstützung anbieten und abwarten, ob sie diese Hilfe annehmen möchte oder nicht – zum Beispiel in unübersichtlichen Momenten im Straßenverkehr. Manchmal entsteht daraus ein nettes Gespräch, manchmal nicht. Das sehende Gegenüber darf sich also auch einfach wieder verabschieden. Ganz so, wie es mit fremden Menschen ohne Sehbehinderung auch ist, wenn eine Situation wieder vorbei ist.




Den Traumjob gefunden

Frau Jordan, das PROMI-Projekt unterstützt Menschen wie Sie, die mit einer Schwerbehinderung leben, bei der Promotion. Wie sind Sie auf die Initiative aufmerksam geworden?

Ich habe einen Aushang im Flur des Instituts gesehen und eine Professorin darauf angesprochen. Für mich passten Zeitpunkt und Aufgabenbereich optimal zusammen. Es war schon immer ein Traum von mir, selbst an der Uni zu unterrichten und zu forschen.

Hätten Sie auch ohne PROMI promoviert?

Höchstwahrscheinlich nicht. Ich habe durch einen Zeckenbiss eine Borreliose bekommen, das hat damals zu einer inkompletten Querschnittlähmung geführt. Seither lebe ich mit Rollstuhl. Bis zum damaligen Zeitpunkt hatte ich im Uni-Umfeld noch nie eine Dozentin oder einen Dozenten mit einer Behinderung gesehen. Deshalb hätte mir das selbst auch erst einmal nicht zugetraut.

Warum haben Sie gezweifelt, dass Sie mit einer Behinderung eine Karriere als Forscherin einschlagen können?

Weil in den Köpfen vieler Menschen immer noch sehr viele Vorurteile vorhanden sind. Es geht nicht einfach an einem vorüber, wenn man plötzlich selbst in diese „Schublade“ fällt – und dadurch zweifelt man schneller. Heute kenne ich mehrere „rollende“ Professorinnen und Professoren, die sind für mich wichtige Vorbilder. Die Qualität, die sie in der Forschung und der Lehre bringen, ist durch ihre (Geh-)Behinderung nicht eingeschränkt. Wieso sollte das auch so sein? Es macht keinen Unterschied, ob lehrende oder forschende Menschen eine Seh- oder Hörbehinderung, eine chronische Erkrankung oder eben eine andere körperliche Behinderung haben. Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen und die Antidiskriminierungsgesetze in Deutschland haben in den letzten Jahren auch dazu geführt, dass Universitäten in der Regel gut mit dem Rollstuhl befahrbar sind. Dadurch hat sich für Menschen wie mich, die rollend unterwegs sind, vieles verbessert und vereinfacht.

Wie kam es dazu, dass Sie sich für das PROMI-Projekt beworben haben?

Als ich vor zehn Jahren plötzlich auf einen Rollstuhl angewiesen war, hat sich mein Leben um 180 Grad gedreht. Ich hatte damals gerade mein Diplom-Studium in Sozialarbeit und -pädagogik erfolgreich abgeschlossen. Wenige Monate später bekam ich einen neuen Borreliose-Schub. Danach spürte ich meine Beine nicht mehr. Fast alle Stellenanzeigen für Berufsanfänger setzten damals aber „Mobilität“ voraus, viele waren im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe ausgeschrieben. Eine Sozialarbeiterin, die nicht stehen oder umherlaufen kann – das schien kaum denkbar. So bin ich mit ausgezeichnetem Diplom erst einmal in Hartz IV gelandet.

Ich musste damals also gleich mit mehreren Herausforderungen zurechtkommen. Während der Zeit, in der ich vieles neu lernen und an meine Behinderung anpassen musste, habe ich ein Masterstudium angefangen und „Soziale Arbeit und Lebenslauf“ studiert. Ich habe damals nebenher in der wissenschaftlichen Begleitforschung gearbeitet und bin dort auf eine pädagogische Methode gestoßen, die mich sofort begeistert hat: Das Peer Counseling. Der Ansatz dieses Konzeptes ist die professionelle Beratung von und für Menschen mit Behinderung. Ich habe mich daher studienbegleitend zur Peer-Beraterin ausbilden lassen. Anschließend eröffnete mir das PROMI-Projekt die ganz neue Möglichkeit, direkt eine Promotion anzuschließen und damit eine akademische Karriere einzuschlagen. Das hätte ich ohne dieses Förderprogramm wahrscheinlich nicht gemacht.

Wie sieht Ihr Alltag als Promovierende und wissenschaftliche Mitarbeiterin aus?

Der ist oft relativ unspektakulär: Ich unterrichte, korrigiere und bewerte Hausarbeiten, schreibe Gutachten zu Bachelor- und Masterarbeiten oder gestalte auch mal spontan eine Seminareinheit, wenn sich Studierende kurz vorher krankgemeldet haben, die eigentlich ein Referat halten sollten. Höhepunkte sind es, wenn ich Studentinnen oder Studenten bei der Themenfindung und dem Schreiben ihrer Abschlussarbeiten begleiten oder wenn ich in meinen Veranstaltungen auf aktuelle sozialpolitische Entwicklungen wie die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes Bezug nehmen kann. Manchmal lade ich auch Menschen aus der Praxis der Sozialen Arbeit in meine Seminare ein. Dann entsteht oft ein lebendiger Austausch zwischen den Studierenden und den „Professionellen“ – das sind begeisternde Momente.

Welche Vorteile hat PROMI Ihnen gebracht?

Sehr viele. Zuallererst arbeite ich jetzt auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in meinem Traumjob und verdiene Geld. Ich forsche zu einem Thema, bei dem es noch viel zu entdecken gibt und bei dem ich sämtliche Perspektiven selbst sehr gut kenne: als Ratsuchende, als Beraterin, als Mensch mit und ohne Behinderung. Außerdem habe ich auf Fachtagungen und Konferenzen andere Akademikerinnen und Akademiker mit Behinderung kennengelernt.
Auch dadurch habe ich gelernt, meine Behinderung als einen Teilaspekt meines Lebens zu sehen und nicht mehr als Hauptthema. Ich nehme zugleich nichts mehr als selbstverständlich hin. Was auch ein großer Vorteil ist: Die PROMI-Organisatorinnen und -Organisatoren bieten regelmäßig Netzwerktreffen an, bei denen sich alle Doktorandinnen und Doktoranden des Programms kennenlernen und ihre Forschungsprojekte vorstellen können. Auch hier habe ich vom informellen Austausch mit anderen Leuten in ähnlichen Situationen profitiert. Es entstanden sogar Freundschaften und Kooperationen für andere Projekte.

Gibt es auch negative Seiten?

Wie in allen Jobs, ja. Belastend ist zum Beispiel, dass die Arbeitsverhältnisse für die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler befristet sind. Außerdem arbeite ich in meinem Job sehr viel – mitunter deutlich über den vertraglich bestimmten und bezahlten Stundenumfang hinaus, weil ich neben der Begleitung der Studierenden bei ihren Arbeiten und Prüfungen auch viele Verwaltungsaufgaben übernehmen muss. Trotzdem arbeite ich sehr gerne in der Lehre. Ich reise auch gern zu Tagungen und Kongressen und tausche mich mit Kolleginnen und Kollegen aus. Andersherum schätze ich auch sehr die ruhigen Momente, wenn ich zwischen Büchern an meinem Schreibtisch sitzen kann.

Was möchten Sie nach der Promotion machen?

Ich möchte gerne in der Forschung und der Wissenschaft bleiben. Ich arbeite seit zwei Jahren nebenher in der Fort- und Weiterbildung für (Peer-)Beraterinnen und -Berater. Wir diskutieren dort unter anderem, wie Seminareinheiten so gestaltet werden können, dass die Teilnehmenden neue Impulse und Denkweisen für sich mitnehmen können. Die Studierenden lernen zum Beispiel, dass es nicht „die Behinderten“ gibt und dass die Arbeit mit Menschen immer sehr vielfältig und komplex ist. Wir untersuchen außerdem gemeinsam, welche Faktoren offen oder versteckt bestimmte Denkmuster auslösen oder verstärken – und überlegen, wie wir das verändern können.