Computerschrift zeigt Gefühle

Herr Schlippe, Sie haben 2015 Ihr Startup Silicon Surfer gegründet und es zuerst in Teilzeit betrieben, ab Anfang 2018 dann in Vollzeit. Kurz danach haben Sie „WaveFont“ entwickelt. Was ist das für eine Software und was hat sie mit Inklusion zu tun?

WaveFont ist eine Technologie, mit der es zum ersten Mal möglich ist, Informationen in Filmen einzubinden, von denen Menschen mit einer Hörbehinderung bisher oft ausgeschlossen waren. Diese Infos können nämlich nur hörende Menschen entschlüsseln – zum Beispiel die Betonung und die Geschwindigkeit, mit der Menschen in einem Film sprechen oder die Pausen, die sie einlegen. Mit meiner Software werden solche Emotionen in der Sprecherstimme automatisch analysiert und können dann in den Untertiteln eines Videos dargestellt werden.

Wie genau funktioniert die Software?

Der Ausgangspunkt ist die gesprochene Sprache. Sie ist entweder in der Audiospur eines Videos vorhanden oder sie wird über ein Mikrofon aufgenommen. WaveFont analysiert die Aussprache der Sätze, Wörter und einzelnen Buchstaben. Aktuell werden die Geschwindigkeit und Lautstärke des Gesprochenen ausgewertet und anschließend in Zahlen umgewandelt. Dafür setzen wir Künstliche Intelligenz und Machine-Learning-Technologien ein.
Im nächsten Schritt werden diese Zahlenwerte in Schrift umgewandelt. Ein laut gesprochenes Wort wird zum Beispiel in fetter Schrift dargestellt, die beim Lesen automatisch mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ein sehr langsam gesprochenes Wort erzeugt dagegen breite Buchstaben. Daraus entstehen breitere Wörter, für die man automatisch mehr Zeit zum Lesen braucht – und damit verlangsamt sich der Lesefluss. Das sind nur zwei Beispiele. WaveFont kann auch noch weitere, individuelle Merkmale in Untertiteln umsetzen, die ganz auf die Bedürfnisse der jeweiligen Zielgruppe zugeschnitten werden können.

Das sind ja vor allem gehörlose Menschen. Woher wussten Sie, dass eine solche Technologie gebraucht wird?

Weil ich bei deutschen Gehörlosenvereinen und -verbänden genau dazu Umfragen durchgeführt habe. Die Antworten zeigten, dass es einen deutlichen Bedarf für emotionalere Untertitel gibt. 98% der Befragten finden, dass so eine Technologie einen Mehrwert für sie hätte und würden WaveFont-Untertitel auch gern nutzen. Übrigens profitieren auch hörende Menschen von dieser emotionalen Darstellung von Schrift, zum Beispiel, wenn sie auf ihren Smartphones Videos ohne Ton schauen möchten. Oder Menschen, die gerade eine fremde Sprache lernen: Sie werden durch die visuellen Informationen in den Untertiteln zusätzlich beim Lernen unterstützt.


WaveFont in Aktion

Fußball ist ein sehr emotionaler Sport – für die Spieler auf dem Platz, für die Zuschauer, aber auch für die Sportjournalisten, die das Spiel aus dem Off beobachten und kommentieren. Der folgende Ausschnitt aus einem Spiel der Fußball-WM zeigt, wie mit WaveFont die Betonungen in der Stimme des Kommentators über die Untertitel transportiert werden (Video unten).

An die Hörenden unter euch: Schaltet doch mal den Ton aus und lest nur mit, während das Video läuft. Ihr werdet merken, dass es etwas Übung braucht, um die Betonungen richtig zu lesen – aber auch, dass die WaveFont-Untertitel wirklich mehr als nur inhaltliche Informationen transportieren können.
Wenn ihr noch mehr Video-Beispiele sehen wollt, schaut doch einfach auf der WaveFont-Facebookseite vorbei oder besucht den Instagram-Account von Silicon Surfer.

Warum reicht die bisherige Darstellung von Untertiteln für gehörlose Menschen nicht aus?

Weil menschliche Sprache ja nicht nur aus neutralen Informationen besteht. Der Tonfall und viele andere kleine Merkmale lassen Rückschlüsse auf den Charakter oder die Stimmung eines Menschen zu. Ist der Sprecher vielleicht gerade traurig und spricht deshalb sehr leise und langsam? Oder macht er gerade einen Witz und spricht dadurch eher laut und schnell? Vor allem dann, wenn jemand in einem Video aus dem „Off“ spricht, seine Mimik also nicht zu sehen ist, können Menschen mit einer Hörbehinderung solche Botschaften gar nicht entschlüsseln. Sie sind von diesen wichtigen Zusatzinformationen also komplett ausgeschlossen, und da helfen „normale“ Untertitel eben auch nicht weiter. Mit WaveFont will ich das ändern – und so langfristig zu mehr Barrierefreiheit und Inklusion im öffentlichen Raum beitragen.

Und wie finanzieren Sie Ihr Projekt?

Am Anfang durch eine erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne bei Startnext. Damit hatte ich die finanziellen Mittel, um die Technologie von Grund auf zu entwickeln und weiterzudenken. Die Kampagne ist Ende August 2018 ausgelaufen, seither habe ich mein Angebot sogar noch erweitern können.

Ihre Technologie ist also schon im Einsatz?

Ja! Jeder, der gerade einen Film produziert, kann uns einfach ansprechen und uns um ein Angebot bitten (Kontaktdaten siehe unten). Unsere Kunden senden uns dafür zuerst ihr Video zu. Wir machen dann anhand der Länge und Komplexität des Filmmaterials ein Angebot. Wenn der Kunde damit einverstanden ist, beginnen wir mit der Arbeit. Zum Schluss liefern wir den Film mit den schon eingebundenen WaveFont-Untertiteln zurück. Interessant ist so etwas zum Beispiel für Unternehmen, die inklusive Imagefilme produzieren wollen, aber auch für Fernsehsender, Filmproduzenten, Video-On-Demand-Anbieter, Mediathek-Betreiber oder Werbeagenturen. Im Prinzip können uns aber auch Privatpersonen ihre Filme zuschicken.


Gibt es WaveFont auch in anderen Sprachen?

Ja, neben Deutsch setze ich Video-Untertitel in englischer und in spanischer Sprache um. Dieses Angebot möchte ich jetzt schrittweise noch weiter ausbauen. Mein Ziel ist es, diesen Service eines Tages in sehr vielen anderen Sprachen anzubieten, damit weltweit Menschen davon profitieren können.

Was ist Ihr Plan für die Zukunft?

Ich will WaveFont eines Tages als Standardtechnologie etablieren. Dafür mache ich jetzt schon Kampagnen, weil diese Art von Untertiteln ja doch eine sehr neue Art ist, einen Film oder ein Video zu erleben. Außerdem will ich Gehörlose und Menschen mit Hörbehinderung weiterhin in den Prozess einbinden, um die Technologie für sie optimal weiterzuentwickeln. Dafür könnte ich mir zum Beispiel auch weitere Studien mit den Gehörlosen-Verbänden gut vorstellen.




„Eine vermeintliche Einschränkung kann eine Bereicherung für alle sein“

Frau Roye, die Initiative Discovering Hands ist noch vergleichsweise jung, viele Frauen kennen die Tastuntersuchung durch eine Medizinisch-Taktile Untersucherin wie Sie noch nicht. Wie läuft so ein Termin bei Ihnen ab?

Für eine gründliche Tastuntersuchung nehme ich mir – abhängig von der Größe der Brust – 30 bis 50 Minuten Zeit. Ich beginne immer mit einer Anamnese, also einem Vorgespräch mit der Patientin. Das ist sehr wichtig, um mir einen Überblick über mögliche Risikofaktoren zu verschaffen. Ich frage die Patientin beispielsweise, ob sie sich einer längeren Hormontherapie unterzogen hat, ob Familienangehörige Brustkrebs haben oder hatten oder ob sie selbst schon einmal erkrankt war.
Während sie sitzt, führe ich schon eine erste Untersuchung durch, taste die Brust ab und untersuche die Lymphbahnen in den Achseln, am Schlüsselbein und am Hals. Anschließend legt sich die Patientin hin. Ich klebe dann fünf Spezialklebestreifen auf ihren Oberkörper, die eine Art Raster bilden. Daran orientiere ich mich bei der Untersuchung und kann die Brust damit zentimetergenau, in ganzer Breite und in allen Gewebetiefen abtasten.

Wie geht es danach weiter?

Ich arbeite in meinem Beruf sehr eng mit den Gynäkologinnen und Gynäkologen der jeweiligen Praxen zusammen und dokumentiere für sie meinen Befund ganz genau. Die Ärztinnen und Ärzte besprechen das Ergebnis dann mit der Patientin.
Wenn ich eine Veränderung oder einen Knoten im Drüsengewebe ertastet habe, teile ich das der Patientin schon während der Untersuchung behutsam mit. Wichtig ist aber, dass natürlich nicht jede Veränderung sofort bedeutet, dass sie an Brustkrebs erkrankt ist. Es gibt auch viele harmlose Befunde. Um das abzuklären, übernimmt der behandelnde Arzt oder die Ärztin die weitere Diagnostik und führt zum Beispiel eine Ultraschalluntersuchung der Brust durch. Wenn die Gewebeveränderungen dann immer noch unklar sind, werden der Patientin Gewebeproben entnommen.
Übrigens sprechen wir immer automatisch von „der Patientin“ – dabei können auch Männer an Brustkrebs erkranken. Sie dürfen die spezielle Früherkennungsuntersuchung durch eine MTU ebenfalls in Anspruch nehmen, denn unter den rund 70.000 neuerkrankten Menschen in Deutschland sind zwar nur ein Prozent Männer, aber bei ihnen wird ein Tumor in der Brust oft erst sehr spät entdeckt.

Wie haben Sie sich während der Ausbildung auf Ihren Berufsalltag vorbereitet? Sie mussten diese Untersuchungen ja bestimmt auch praktisch üben.

Ja, praktischer Unterricht gehörte natürlich auch dazu. Unsere Ausbilderin hat uns in den Übungen unter anderem gezeigt, wo und wie wir die Orientierungsstreifen anbringen und wie genau wir die Untersuchung durchführen müssen. Wir Kursteilnehmerinnen haben uns dafür im Unterricht gegenseitig untersucht, außerdem hatten wir Testpatientinnen, die sich zu Lernzwecken für die Untersuchung zur Verfügung gestellt haben.
Ein ebenso wichtiger Teil der Ausbildung ist natürlich auch das medizinische Fachwissen, das im theoretischen Unterricht vermittelt wird. Ich kenne beispielsweise die Anatomie der weiblichen Brust sehr genau, genauso wie die gut- und bösartigen Erkrankungen, die in diesem Gewebe auftreten können. Die medizinische Ausbildung dauert insgesamt neun Monate, danach absolviert jede MTU ein dreimonatiges Praktikum in einer gynäkologischen Praxis oder Klinik, um erste Erfahrungen zu sammeln.

Was ist für Ihren Beruf – außer eines ausgeprägten Tastsinns – noch wichtig?

Großes Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit, ruhig und gut mit Menschen zu kommunizieren. Viele Patientinnen sind vor der Untersuchung aufgeregt und hoffen natürlich darauf, dass ich nichts finde und Entwarnung geben kann. Manche haben richtig Angst und brechen in Tränen aus. Ihnen muss ich dann ganz besonders zur Seite stehen. Aber auch für diejenigen, die sich keine so großen Sorgen machen, ist das eine sehr intime und oft ungewohnte Situation. Als MTU muss ich eine vertrauensvolle Atmosphäre schaffen, damit jede Patientin und jeder Patient sich nicht nur fachlich, sondern auch zwischenmenschlich gut aufgehoben fühlt.

Was mögen Sie besonders an Ihrer Arbeit?

Ich gehe gern mit Menschen um und freue mich, wenn ich ihnen helfen kann. In diesem Beruf kann ich die Arbeit von Ärztinnen und Ärzten sinnvoll ergänzen, indem ich meinen ausgeprägten Tastsinn einsetze. Das ist schon toll, weil ich so einen wichtigen Beitrag zur Krebsprävention leisten kann. Die Mediziner schätzen das sehr, und auch von den Patientinnen und Patienten bekomme ich viele positive Rückmeldungen. Ich freue mich einfach, die Dankbarkeit dafür mitzuerleben, dass es meinen Beruf gibt und ich damit etwas Gutes leisten kann.

Hat sich durch Ihre Arbeit als MTU ihre Einstellung dazu verändert, blind zu sein?

Ich finde, dass jeder Mensch auf seine Stärken setzen sollte. Eine vermeintliche Einschränkung wie meine Sehbehinderung kann eine Bereicherung für alle sein. Mein Beruf ist ein ganz besonders schönes Beispiel dafür und hat mich so immer mehr in meiner Haltung bestärkt. Ich pflege mit meinen Kolleginnen und Kollegen, egal, ob sehend oder blind, einen lockeren und tollen Umgang auf Augenhöhe. So sollte es ja eigentlich auch in allen Bereichen des Lebens sein: Man sollte eine Einschränkung gar nicht erst zu einer Behinderung machen oder werden lassen.




„Ich sehe mich als gleichwertig mit meinen Kollegen, wir unterstützen uns gegenseitig“

Herr Weinmann, viele Menschen können sich nicht vorstellen, wie Sie mit einer so starken Sehbehinderung im Berufsalltag zurechtkommen. Wie machen Sie das genau?

Da ich nicht blind bin, kann ich mir mit meiner Restsehkraft in vielen Situationen gut allein weiterhelfen. Und wenn es doch mal schwieriger wird, kann ich ganz auf die Unterstützung meiner sehr hilfsbereiten Kollegen zählen. Die stehen mir immer zur Seite, damit habe ich bisher also wirklich keine negativen Erfahrungen gemacht. Als Hilfsmittel nutze ich Taschenlupen und für die Arbeit am Computer stellt mir mein Arbeitgeber einen speziellen PC mit einem Lupenprogramm zur Verfügung. Das geht also alles ziemlich gut.

Es heißt, dass blinde oder fast blinde Menschen – also auch Sie – einen besonders ausgeprägten Tastsinn haben. Stimmt das oder ist das ein Klischee?

Ich glaube nicht, dass das ein Klischee ist. Wenn eine Sinneswahrnehmung ausfällt, kann der Körper dieses Defizit ja bekanntlich mit anderen Funktionen kompensieren. Nehmen Sie das Beispiel der Blindenschrift: Wenn ein Sehender versucht, die einzelnen Punkte der Schrift zu ertasten, ist das für ihn sehr schwer und dauert sehr lange. Schaut man dagegen einem blinden Menschen beim Lesen der Schrift zu, kann man nur staunen, mit welcher Geschwindigkeit er einen Text bewältigt und versteht. Das ist bei mir nicht anders, Tasten ist auf jeden Fall meine Stärke.

Setzen Sie das auch in Ihrem Beruf ein?

Ja, natürlich! Als Physiotherapeut muss ich ja mit den Händen und Fingern Veränderungen im Gewebe erspüren. Da sehe ich mich durch meinen ausgeprägteren Tastsinn im Vorteil gegenüber Kollegen, die keine Sehbehinderung haben. Das haben die mir auch schon oft bestätigt.

Sie konkurrieren also mit Ihren Kollegen ohne Sehbehinderung?

Nein, in meinem Beruf im Krankenhaus nicht direkt. Ich sehe mich als gleichwertig mit meinen Kollegen, wir unterstützen uns gegenseitig. Wo ich besser tasten kann, können sie besser sehen und damit andere Anforderungen des Berufs einfacher bewältigen – und mich wiederum dabei unterstützen. Das ist ein sehr harmonisches Miteinander.

Ihre Sehbehinderung bringt in Ihrem Beruf also sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich. Wie äußert sich das im Alltag?

Zum Beispiel an meinem Einsatzgebiet im Krankenhaus. Das ist aktuell auf eine Station reduziert, weil mir in anderen Gebäudeteilen die Orientierung schwerfällt und diese dort erst noch trainieren muss. Ein großer Vorteil ist wiederum, dass mir wegen meiner Behinderung finanzielle Förderungen des für meinen Wohnort zuständigen Inklusionsamtes zustehen. Dadurch konnte ich schon einige Fortbildungen besuchen, die sonst viel Geld kosten und eher schwer zu finanzieren sind. Diese Möglichkeit haben viele Kollegen so nicht.

Auf der RehaCare-Messe im Jahr 2010 haben Sie unter anderem eine Massage-Station aufgestellt und den vorbeilaufenden Besucherinnen und Besuchern Nackenmassagen angeboten. Abgesehen davon, dass Sie damit eine Kostprobe Ihrer beruflichen Fähigkeiten gegeben haben: Welche Botschaft wollten Sie mit dieser Aktion vermitteln?

Ich wollte allen Besuchern der Messe zeigen, dass ein Mensch mit Behinderung ein genauso leistungsfähiger Mitarbeiter oder Kollege sein kann wie jemand ohne Handicap, wenn nur die Voraussetzungen stimmen. Und ich wollte anderen Menschen mit Behinderung Mut machen, ihren beruflichen Weg zu gehen und sich nicht von ihrer Behinderung davon abhalten zu lassen. Dafür habe ich auch gutes Feedback bekommen. Neben der Massagestation habe ich auf einer der Messe-Bühnen zusammen mit den Besucherinnen und Besuchern ein kleines Übungsprogramm für den Rücken durchgeführt – auch das kam sehr gut bei den Teilnehmern an. Viele hätten mir das vorher nicht zugetraut.

Sie sind jetzt im September auf einer weiteren Veranstaltung mit dabei, der Fachmesse ZukunftPersonal dabei. Was dürfen die Besucherinnen und Besucher dieses Mal von Ihnen erwarten – und was erhoffen Sie selbst sich von der Messe?

Ich habe dort wieder meinen Stand mit der Massagestation, da muss ich den Vorgaben folgen. So komme ich aber auch am allerbesten mit Besucherinnen und Besuchern ins Gespräch. Das ist einer der Hauptgründe, warum ich das mache: Ich möchte mit den Leuten über das Thema Inklusion und Menschen mit Behinderung reden und dabei aus der Sicht eines Betroffenen sprechen – auch, um Vorurteile auszuräumen.






„Changemaker“ gesucht: Ashoka fördert soziale Innovationen

Frau Haverkamp, was sind soziale Entrepreneure und was macht sie aus?

Das sind Frauen und Männer, die sich mit innovativen, übertragbaren Ansätzen und mit unternehmerischem Geist dafür einsetzen, gesellschaftliche Probleme zu lösen – und dafür meist eine Organisation gründen. Auch wenn der Begriff vergleichsweise neu ist: „Social Entrepreneurs“, also soziale Gründerinnen und Gründer, hat es eigentlich schon immer gegeben. Berühmte Beispiele sind Maria Montessori, die Begründerin der Reformpädagogik, oder Henry Dunant, Mitgründer des Roten Kreuzes. Innovative Ansätze gehen oft von engagierten Einzelpersonen aus, die sich kreativ für einen neuen Zustand unserer Gesellschaft einsetzen. Das gilt für alle Bereiche: Die Themen unserer Fellows reichen von Umweltschutz über Bildung bis hin zur ökonomischen Teilhabe oder der Unterstützung von Familien.

Was ist denn das Besondere an diesem Engagement? Solche Impulse für gesellschaftliche Veränderungen könnten ja zum Beispiel auch aus der Politik kommen.

Wir glauben, dass es kaum etwas Kraftvolleres gibt als eine soziale Innovation, die von einer unternehmerischen Persönlichkeit geführt wird – und daran, dass vielversprechende Ansätze möglichst früh aufgespürt und gefördert werden müssen, anstatt sie erst nach ihrem Durchbruch zu feiern. Dann sind nämlich die anfänglichen, oft sehr hohen Hürden schon längst überwunden, zum Beispiel solche geistigen Haltungen wie „Das haben wir doch noch nie so gemacht!“ und „Dafür sind doch andere zuständig!“. Die Fellows in unserem Netzwerk nehmen sich oftmals Themen vor, die sich über mehrere Generationen hinweg entwickeln – das sind also keine Konzepte und Unternehmen, die übermorgen fertig sind.

Nach welchen Kriterien wählen Sie aus, wer gefördert wird, und wie spüren Sie entsprechende Persönlichkeiten und Ansätze auf?

Ob eine Person Ashoka-Fellow werden kann, entscheiden wir nach weltweit gültigen Kriterien: Unsere Gründerinnen und Gründer müssen kreativ sein, ethisch denken und handeln und Unternehmergeist mitbringen. Das Ziel ihres Ansatzes, den sie mindestens in einem Pilotvorhaben erfolgreich umsetzt haben, sollte es sein, grundlegende gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Um solche Menschen und Projekte zu finden, recherchieren wir selbst aktiv und nutzen dabei unsere mehr als 35 Jahre globale Erfahrung, Weltveränderer zu erkennen und zu begleiten. Im Laufe dieser langen Zeit haben wir ein sehr engagiertes Netzwerk aufgebaut, das immer wieder sehr hilfreich ist und aus dem viele Ideen an uns herangetragen werden. Außerdem gibt es auf unserer Website die Möglichkeit, Kandidatinnen und Kandidaten zu nominieren. Auf diesem Weg erreichen uns pro Jahr etwa 200 Hinweise auf Persönlichkeiten, die für die Ashoka Fellowship vorgeschlagen werden – und wir freuen uns über jeden einzelnen davon!

Fördert Ashoka auch Persönlichkeiten und Projekte, die sich mit Inklusion beschäftigen?

Natürlich, das ist ein sehr wichtiges gesellschaftliches Feld. Vielen unserer Gründerinnen und Gründern gelingt es, den Blick der Gesellschaft auf vermeintliche „Behinderungen“ zu verändern, indem sie zeigen, dass darin auch ein besonderes Talent schlummern kann. Zu unseren Fellows gehört zum Beispiel Andreas Heinecke, der mit den Ausstellungen „Dialog im Dunkeln“ und „Dialog mit der Zeit“ unseren Blick auf Blindheit oder das Altern verändert. Manuela Richter-Werling hat das Präventions-Programm „Verrückt? Na und!“ gegründet und setzt sich damit dafür ein, Tabus rund um das Thema der psychischen Gesundheit abzubauen. Der Clou: Sie setzt Betroffene aktiv als Botschafterinnen und Botschafter ein, die authentisch von ihren Erfahrungen berichten. Jan Wulf-Schnabel wiederum hat das Institut für inklusive Bildung gegründet und bildet dort Menschen mit (geistiger) Behinderung zu Bildungsfachkräften aus. Diese lehren dann in Fachhochschulen und Universitäten, um die inklusive Lehrkompetenz von Studierenden zu stärken (Anm. d. Red.: In unserem Blog-Interview mit einer Mitarbeiterin des Instituts erfahrt ihr genauer, wie dieses Konzept funktioniert). Diese Liste ließe sich noch um viele Beispiele erweitern.

Wie unterstützt Ashoka die Unternehmen?

Wir begleiten unsere Ashoka-Fellows, sofern sie möchten, ein Leben lang auf ihrer Mission, indem wir Impulse geben, Beratungsangebote vermitteln, einen Dialog zwischen ganz unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft aufbauen und Brücken schlagen. Und: Bei Bedarf können wir bis zu drei Jahre lang ein Lebenshaltungsstipendium zahlen, mit dem die geförderten Unternehmerinnen und Unternehmer ihre Alltagsausgaben decken und sich damit gerade in der Anfangs- und Aufbauphase ganz auf ihr unternehmerisches Engagement konzentrieren können.

Wie finanzieren Sie dieses Modell?

Ashoka ist weltanschaulich und politisch unabhängig und nimmt deshalb keine staatlichen Gelder an. Die Finanzierung der Organisation kommt ausschließlich durch die Unterstützung einer Gruppe engagierter Unternehmerinnen und Unternehmer sowie einiger Stiftungen und Unternehmen zustande.

Und wie finanzieren die Gründerinnen und Gründer sich und ihre Start-ups?

Soziale Gründerinnen und Gründer brennen dafür, ihre Ideen und Ansätze in die Welt hinaus zu tragen – und genau dabei gibt es oft Hürden zu überwinden, gerade, weil sie oft unkonventionell vorgehen. Ein Beispiel ist die Finanzierung sozialer Innovationen und deren Verbreitung. Das Komplexe beim Thema Finanzierung ist, dass wir das oft noch sehr verbreitete Denken in den Schubladen ‚Spenden‘ und ‚Investieren‘ überwinden und erst einmal fragen müssen: Welche Finanzierung braucht eine soziale Innovation zu welchem Zeitpunkt, damit sie die bestmögliche Wirkung entfalten kann? In den vergangenen Jahren haben wir uns daher viel mit der Frage auseinandergesetzt, welche Finanzierungsmodelle soziale Innovationen wirklich voranbringen. Aus diesen Überlegungen ist unter anderem die „Finanzierungsagentur für Social Entrepreneurship (FASE)“ hervorgegangen, die wir mit einigen Partnern zusammen aufgebaut haben. Jetzt können wir auf eine Reihe oft unkonventioneller – und ebenso spannender – Finanzierungsmodelle zurückgreifen. Viele soziale Innovationen brauchen nämlich eine ganz andere und oft längere Anfangsinvestition, bei der es erst einmal nicht um Geld, sondern um die gute Sache geht. Andere Start-ups richten sich schneller an finanzieller Rendite aus – das funktioniert bei sozialen Gründungen vor allem am Anfang oft noch nicht.

Welche neuen Aufgaben wollen Sie in Zukunft angehen?

Ganz wichtig ist für uns die Frage, wie gute Ideen den Weg überall dorthin finden, wo sie hilfreich und wirkungsvoll sein können – auch (zurück) in große Institutionen und Strukturen hinein, also in Wohlfahrtsorganisationen, Kommunen und Unternehmen. Hier müssen wir noch viel dafür tun, einen Dialog zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren herzustellen, und Allianzen schmieden, die eine Verbreitung wirkungsvoller Ideen und Ansätze ermöglichen. Wir müssen den Blick zu erweitern: Wer müsste eigentlich wie zusammenarbeiten, damit eine soziale Innovation sich in der Breite durchsetzen kann? Der nächste Schritt wäre die Suche nach Modellen, damit eine entsprechende Kooperation zustande kommen kann.





„Wir sind eine unfassbar laute Band“

Experimentierfreudig, verspielt, laut: So ist die Musik der Hamburger Krautrock-Band Station 17. In wechselnder Besetzung proben unter diesem Namen seit 30 Jahren Musiker mit und ohne Behinderung, spielen Konzerte und veröffentlichen Alben.
Die Aufschrift „Stop – Hier wird gearbeitet“ an der Tür des Probenraums ist dabei wörtlich zu nehmen, denn die Band ist viel mehr als ein Hobby. Die Musiker sind beim inklusiven Netzwerk Barner 16 fest angestellt und erwirtschaften ihr Einkommen durch ihre Kunst. Wie das klingt und aussieht, erzählt die taz in dieser Reportage.




Wahl der Schwerbehindertenvertretungen 2018: Infos und Beratung

Herr Vedder, Herr Römer, die gemeinsame Website der Inklusionsämter in Deutschland ist eine gute erste Anlaufstelle für alle, die sich zum Thema Behinderung und Beruf informieren wollen – also auch zum Thema Schwerbehindertenvertretung. Was genau bieten Sie dort an?

Vedder: Wir haben im Laufe der Jahre eine Art Lexikon zu verschiedenen Themen aufgebaut. Dort gibt es Informationsbroschüren, Vordrucke und anderes Material zum Download. Außerdem weisen wir unsere Besucher immer wieder auf nützliche Arbeitsmittel hin und zeigen gute Beispiele aus der Praxis.

Römer: Wir hatten im Jahr 2017 fast 20 Millionen Zugriffe auf unsere Seite, das Interesse ist also offenbar sehr groß. Dieses Jahr dürften es sogar noch mehr werden, denn allein bis Mai 2018 hatten wir schon rund 10 Millionen Aufrufe. Das hängt dieses Jahr vermutlich stark mit den Wahlen der Schwerbehindertenvertretungen zusammen, die im Oktober anstehen. Darum geht es aktuell auch oft in unserem Forum.

Vedder:  Auch dieses ist sehr beliebt: Wir haben über 9.000 angemeldete Nutzer, die sich dort regelmäßig austauschen, und mehr als zwei Millionen Zugriffe.

Der Informationsbedarf scheint also sehr groß zu sein. An wen richtet sich Ihr Angebot?

Vedder: Das kommt ganz auf das Thema an. Wir bieten viele allgemeine Infos an, vor allem mit unseren Broschüren. Die sind für Laien genauso gut verständlich wie für Fachleute. Wir befassen uns aber auch mit Detailfragen, für die man als Leser schon etwas im Thema sein muss. Vor allem im Forum werden oft solche komplexen Sachverhalte diskutiert.

Römer: Es kann sich aber jeder im Forum anmelden, der das gern möchte, Vorwissen ist keine Voraussetzung. Die meisten unserer Nutzer arbeiten in Schwerbehindertenvertretungen, Betriebsräten oder Personalräten in Betrieben und Dienststellen in ganz Deutschland. Wir fragen das bei der Registrierung ab, damit wir einen besseren Überblick über die Tätigkeitsfelder unserer Nutzer bekommen. Fachlich bringen sich auch viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Inklusionsämter in die laufenden Diskussionen ein.

Welche Themen tauchen im Forum besonders oft auf?

Vedder: Es geht oft um rechtliche Fragen rund um das Thema Beruf und Behinderung. Zum Beispiel können sich Vertreterinnen und Vertreter von Angestellten mit Behinderung – also die Schwerbehindertenvertretungen – unter bestimmten Umständen von der Arbeit freistellen lassen. Viele sind hier aber unsicher, wie die Rechtslage ist, und suchen im Forum Antworten.

Römer: Ein anderes Thema sind die Pflichten der Arbeitgeber. Beispielsweise müssen sie die Schwerbehindertenvertretungen an bestimmten Entscheidungsprozessen, Abläufen und Gesprächen beteiligen, wenn es Konflikte am Arbeitsplatz gibt oder wenn jemand mit Behinderung neu eingestellt werden soll. Auch dazu tauchen oft Fragen im Forum auf, weil das ein sehr komplexes Thema ist. Genauso ist es mit Einstellungs- und Bewerbungsverfahren: Hier wollen Arbeitnehmer wie Arbeitgeber wissen, was sie erwartet, was sie beachten müssen, welche Rechte sie haben und was sie bei der Ausschreibung eines Arbeitsplatzes oder der Bewerbung auf einen neuen Job beachten müssen oder sollten. Auch die Frage nach den Möglichkeiten finanzieller Förderung wird häufig gestellt.

Und was ist, wenn jemand mal eine ganz individuelle Frage hat, auf die sie oder er im Forum keine Antwort findet?

Römer: Dafür ist unsere Onlineberatung da, die unsere registrierten Nutzer in Anspruch nehmen können. Wir beiden werden dabei von drei Kollegen unterstützt: Albin Göbel, ehemaliger Mitarbeiter aus dem Inklusionsamt München, Matthias Günther vom Inklusionsamt Sachsen und Marco Hirsch vom Inklusionsamt Baden-Württemberg. Außerdem haben wir sehr aktive Mitglieder im Forum, die uns mit fundiertem Fachwissen in guten Beiträgen helfen – und so für große Kompetenz und Leben im Forum sorgen. Die Anmeldung im Forum ist übrigens kostenlos, es kann sich also jeder beraten lassen, der Hilfe braucht.

Kommen wir noch einmal zu den anstehenden Wahlen der Schwerbehindertenvertretungen zurück. Wer sich zum ersten Mal mit dem Thema beschäftigt, fühlt sich schnell überfordert. Wie fangen Sie das auf?

Vedder: Die Broschüren auf unserer Seite bieten einen guten Einstieg ins Thema, auch für Fachfremde. In unserem Forum führen wir diesen Ansatz fort, indem wir Spezialfragen beantworten, die im Zusammenhang mit der Wahl immer wieder auftauchen. Das ist nämlich ein Knackpunkt: Es gibt viele gute allgemeine Infos, die aber nicht jedem Betrieb gleich die nötige Klarheit bringen. Fast alle, die sich damit beschäftigen (müssen), haben nach dem ersten Einlesen ins Thema individuellen Informationsbedarf.

Welche Fragen kommen besonders oft?

Vedder: Zum Beispiel möchten viele gern wissen, wie die Wahlen korrekt vorbereitet und durchgeführt werden müssen, damit sie später nicht angefochten werden können. Wir empfehlen hier immer als Erstes, beim Erstellen der Wahlunterlagen und der nötigen Beschlussfassungen sauber und sorgfältig zu arbeiten. Wir bieten hierfür auch Textvorlagen an, die konsequent unverändert eingesetzt werden sollten – dann ist man auf der sicheren Seite.

Römer: Auch das Einleiten der Wahlen ist immer wieder ein Thema. Hier helfen wir dabei, das richtige Verfahren zu wählen, denn es gibt zwei verschiedene. Die Wahl rechtzeitig einzuleiten und Kandidaten zu suchen, ist ebenfalls sehr wichtig, damit alles reibungslos funktioniert.

Vedder: Manchmal müssen auch mehrere Betriebe für die Wahl einer gemeinsamen Schwerbehindertenvertretung zusammengefasst werden. Das kann zum Beispiel dann sinnvoll sein, wenn die Betriebe sehr klein sind und nah beieinander liegen.

Römer: Zwei weitere Themen, die im Forum häufig angesprochen werden: „Aktives und passives Wahlrecht“ und „Befangenheit/Wahlwerbung“. Zum ersten Thema finden Interessierte nicht nur im Forum Antworten, sondern auch in unserer Broschüre zur Wahl der Schwerbehindertenvertretung. Beim Thema Befangenheit und Wahlwerbung geht es darum, dass Kandidaten zwar am Wahlverfahren als Wahlvorstand oder Wahlleiter mitwirken, aber nur eingeschränkt Werbung für sich machen dürfen. Im Forum informieren wir, wann und in welchem Umfang das noch in Ordnung ist. –


Über unsere Interviewpartner





„Für mich war klar: Ein Bürojob ist nichts für mich“

Egal, ob auf dem Platz oder im Stadion, in der Halle oder im Tanz- und Fitnessstudio, in der freien Natur oder rund ums Wasser: Sport bringt Menschen zusammen, ist halb Spiel, halb Arbeit, und löst Glücksgefühle aus, sobald sich die ersten kleinen und großen Erfolge einstellen.

Für Alexander Donner ist der Sport zur Berufung geworden. Der 30-Jährige ist seit seiner Jugend querschnittsgelähmt und arbeitet heute als Ruder-Trainer beim Hochschulsport an der Uni Hamburg. In diesem Interview erzählt er, wie es dazu kam – unser Fundstück der Woche!




„Wir möchten mit gutem Beispiel vorangehen“

Ihr beiden, wie kamt ihr auf die Idee, aus „Zurück zu den Wurzeln“ ein inklusives Festival zu machen?

Christian: Das war im Grunde ein großer Zufall. Wir haben schon früher Open-Airs im Wald oder in Berliner Industrieruinen organisiert. Bei einer Veranstaltung trafen wir einen Gast mitten im Wald, der mit Rollstuhl unterwegs war. Aus Interesse fragten wir ihn, wie er es bis zur Bühne geschafft hatte. Die Antwort: Seine Freunde hatten ihn geschoben und getragen. Er war also komplett auf andere angewiesen, um an so einer Kulturveranstaltung überhaupt teilnehmen zu können – das hat uns sehr beschäftigt. Nach dieser Begegnung haben wir angefangen, uns mit der Frage zu befassen, wie Menschen mit Behinderung eigentlich Festivals erleben und wie wir als Veranstalter darauf reagieren sollten.

Björn: Wir stellten dann schnell fest, dass das Thema Inklusion für die meisten anderen Festival-Verantwortlichen völlig uninteressant ist. Das finden wir überhaupt nicht gut, aber aus wirtschaftlicher Sicht können wir es auch irgendwie verstehen. Um ein Festivalgelände behindertengerecht umzubauen, muss man einfach enorm viel investieren. Es klingt hart, aber wenn am Ende nur 150 bis 200 zahlende Gäste mit Behinderung zur Veranstaltung kommen, ist das rein finanziell betrachtet ein Verlustgeschäft. Wir selbst haben uns trotzdem dazu entschieden – wir machen das für‘s Karma! (lacht) Nein, wir finden das Thema einfach sehr wichtig und möchten mit gutem Beispiel vorangehen. Und wir hoffen, dass wir so auch anderen Menschen aus der Musikszene, die Veranstaltungen organisieren, die Augen für inklusive Fragen öffnen können.

Barrierefreie gestalteter Weg auf dem Wurzelfestival.
Foto: Höme – Magazin für Festivalkultur/Sascha Krautz

Euer Festivalgelände ist also seit dem vergangenen Jahr für Menschen, die mit Rollstuhl oder mit Gehhilfen unterwegs sind, komplett barrierefrei gestaltet. Was bedeutet das genau?

Björn: Unser Anspruch ist, dass Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer jede Bühne selbstständig erreichen können sollen. Für uns heißt das in der Vorbereitung: Wir ebnen den Waldboden, damit richtige Wege entstehen, und legen Schwerlastplatten aus, wie sie auch auf Baustellen verwendet werden. Diese Platten sind geriffelt, so dass die Reifen eines Rollstuhls guten Halt darauf haben und nicht wegrutschen. Nach dem Festival bauen wir alles wieder zurück und lockern auch den Boden wieder auf. Das ist viel Arbeit, aber sehr wichtig für die Umwelt.

Christian: Zur Barrierefreiheit gehören natürlich auch rollstuhlgerechte Duschen und Toiletten, die es bei uns ebenfalls gibt. Wir richten außerdem ein so genanntes „Inklusionscamp“ auf unserem Gelände ein, wo große Zelte mit Betten, einer Küche und Kühlschränken für Medikamente stehen. Wenn jemand Unterstützung braucht, kann sie oder er sich an unsere Heilerziehungspflegerinnen und -pfleger im Camp wenden, die ständig dort sind. Auf dem gesamten Gelände sind auch Inklusionslotsen unterwegs, die wir liebevoll „Buddys“ nennen. Sie begleiten unsere Gäste mit Behinderung während der ganzen Festivalzeit, wenn diese das möchten. Bei uns soll niemand allein gelassen werden.

Das klingt wirklich nach großem Aufwand. Wie hoch sind die Kosten für diese Maßnahmen?

Christian: Da kommen schon so rund 80.000 Euro zusammen. Die Inklusionslotsen arbeiten zwar ehrenamtlich für uns, und beim Aufbau helfen uns 400 Freiwillige. Aber die müssen ja auch was essen und trinken in der ganzen Zeit, was wir natürlich zahlen – und zwar drei Wochen lang. Dazu kommen die Kosten für den Bagger, der den Boden ebnen muss, und die Miete für die Schwerlastplatten. Die allein kosten schon 22.000 Euro.

Blick auf einen Rollstuhl in einem Übernachtungszelt.
Blick in eines der großen Zelte, die im Inklusionscamp des Festivals jedes Jahr aufgestellt werden. Foto: Höme – Magazin für Festivalkultur/Sascha Krautz

Diese Ausgaben lassen sich ja wahrscheinlich nicht komplett über Eintrittsgelder wieder reinholen. Wie finanziert ihr das?

Björn: Wir setzen zumindest für einen Teil der Kosten auf das Engagement und die Zuwendung von Menschen, die unser Konzept gut finden und unterstützen wollen. Für die Miete der Platten zum Beispiel haben wir eine Crowdfunding-Kampagne gestartet und konnten so mehr als 11.000 Euro einsammeln, hatten damit also schon mal die Hälfte gedeckt. Außerdem haben wir einen Zuschuss von 25.000 Euro für die Errichtung des Inklusionscamps vom Berliner Musicboard bekommen – das ist eine GmbH des Landes, die im Auftrag des Senats Musikprojekte fördert. Den Rest, also immer noch mehr als die Hälfte der Gesamtkosten, müssen wir aus den Eintrittsgeldern stemmen. Deshalb haben wir die Preise entsprechend angepasst. Wir betrachten das als eine Art Solidarbeitrag: Wenn es in unserer Gesellschaft schon überhaupt Geld kosten muss, dass Menschen mit Behinderung mitmachen können und nicht ausgegrenzt werden, dann müssen das alle gemeinsam stemmen, finden wir. Das sehen unsere Festivalgäste zum Glück ganz genauso.

Christian: Ja, und das haben wir auch schon bei der Crowdfunding-Kampagne beobachtet: Selbst Menschen, die sowieso sehr wenig haben – wie Hartz-IV-Empfängerinnen und -empfänger – haben sich daran beteiligt und ein paar Euro gespendet. Aber das ist auch das Besondere an unserem Festival. Alle helfen sich gegenseitig, packen beim Zeltaufbau mit an, laden ihre Nachbarinnen und Nachbarn zum Essen ein. Und sie sind auch finanziell sehr solidarisch, was nicht weniger wichtig ist, damit jede und jeder dabei sein kann.

Wie sieht es mit der Crew und den Künstlerinnen und Künstlern aus? Beschäftigt und bucht ihr auch Menschen mit Behinderung?

Björn: Natürlich. Unsere Kollegin Julie Rabong – wir sind im Büro-Team zu viert – hat zum Beispiel eine Gehbehinderung. Und im vergangenen Jahr hat zum ersten Mal Jan Haufe aka DJ Eltron bei uns aufgelegt – er lebt seit einigen Jahren mit Rollstuhl. Beide haben uns viele wichtige Tipps gegeben, wie wir die Barrierefreiheit auf unserem Festival weiter verbessern können. Ob unter unseren vielen freiwilligen Helfern auch Menschen mit Behinderung sind oder nicht, darüber habe ich ehrlich gesagt gar keinen Überblick. Im Grunde spielt das für uns auch gar keine Rolle, denn genau das bedeutet ja für uns Gleichberechtigung. Über eine Behinderung sprechen wir erst dann, wenn es irgendwo Schwierigkeiten gibt.

Festivalbesucher spielen auf dem Gelände des Festivals.
Foto: Höme – Magazin für Festivalkultur/Sascha Krautz

Welche Hinweise haben Julie und Jan euch gegeben – und was habt ihr daraufhin verändert?

Christian: Jan hat im vergangenen Jahr mit seinem Rollstuhl unsere Wege getestet und festgestellt, dass die Platten verrutscht und dadurch Lücken entstanden sind. Das wird für Rollstuhlfahrer natürlich schnell zum Problem. Deshalb haben wir in diesem Jahr andere Platten gemietet. Sie sind größer als die bisherigen und werden jetzt fest im Boden verankert.

Björn: Was wir auch nicht bedacht hatten: Die Tresen an den Bars waren im vergangenen Jahr zu hoch für Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer. Sie mussten sich ihre Getränke deshalb von anderen Gästen holen lassen. Darauf hat Julie uns aufmerksam gemacht, das war ein sehr wertvoller Hinweis, weil wir selbst darüber einfach noch gar nicht nachgedacht hatten. In diesem Jahr haben wir anders geplant und bauen die Bars jetzt so auf, dass alle Gäste selbstständig ordern können. An diesem Beispiel sieht man sehr gut, dass das ein Prozess für uns ist. Wir lernen immer mehr dazu und müssen manchmal damit leben, dass wir nicht alles perfekt machen können – und oft improvisieren wir auch einfach. Was uns sehr dabei hilft, ist die gemeinnützige Gesellschaft ‚Inklusion muss laut sein‘, die sich für die Barrierefreiheit von Kulturveranstaltungen engagiert und uns super bei der Festivalplanung berät. Wir sind ja selbst keine Experten für das Thema, sondern hatten einfach Bock auf das Projekt.

Welche Pläne habt ihr für die Zukunft?

Christian: Wir möchten unser Festival irgendwann auch für Menschen mit Sehbehinderung barrierefrei gestalten, dafür fehlt uns im Moment aber leider noch das Geld. Die erste große Barriere für die Gäste ist unsere Website, die ganz neu aufgebaut werden muss. Das wird 3.000 bis 4.000 Euro kosten. Auch unser Festivalgelände müssen wir anders gestalten, wir brauchen ein taktiles Leitsystem mit genoppten Bodenplatten, wie man sie von Bahnhöfen oder modernen Straßenbahnhaltestellen kennt. Dafür müssen wir mit 50.000 bis 80.000 Euro rechnen. Was auch toll wäre: akustische Signale, die den Gästen den Weg zur Bühne oder zu den sanitären Anlagen weisen. Die Kosten dafür wissen wir aber noch nicht.

Björn: Menschen mit Sehbehinderung sind natürlich trotzdem schon jetzt herzlich willkommen bei uns, auch wenn wir die barrierefreie Ausstattung für sie noch nicht finanzieren können. Wenn sie allein zum Festival kommen möchten, sind unsere Inklusionslotsen gern für sie da und begleiten sie. Wir wissen, dass das noch nicht optimal ist – wie gesagt, das Ganze ist ein Prozess, der oft leider nicht so schnell geht, wie wir es uns wünschen würden. Aber wir machen jedes Jahr einen weiteren Schritt nach vorn.






„Man kann auch wunderbar hinter den Plattentellern SITZEN“

Jan, was hat sich seit 2012 für dich verändert?

Alles (grinst). Zuallererst musste ich lernen, zu akzeptieren, dass ich ab sofort auf Hilfe angewiesen sein würde. Und ich musste alles neu organisieren. Meine Frau und ich mussten uns zum Beispiel eine neue Wohnung suchen, weil ich ja eine barrierefreie Umgebung brauchte. Das ist aber gar nicht so einfach in Berlin, da hat man die Qual der Wahl zwischen unbezahlbaren Angeboten oder Wohnungen in Gegenden, in denen die Infrastruktur schlecht ist. Die Suche dauerte fast drei Jahre. In der Zwischenzeit hat uns zum Glück meine Schwester herzlich in ihren Haushalt aufgenommen.

Welche Schwierigkeiten begegnen euch sonst im Alltag?

Zunächst mal ist viel Spontaneität verloren gegangen, es muss nämlich immer alles umfangreich und langfristig organisiert und geplant werden, egal ob es Ausflüge, Treffen mit Freunden, Urlaube oder andere Aktivitäten sind. Dazu kommt, dass zum Beispiel viele Orte nicht allzu verlässliche Infos zur Barrierefreiheit auf ihren Websites zur Verfügung stellen, so dass ich damit nicht gut planen kann. Wenn wir dann da ankommen, sind die Bedingungen oft nicht so optimal. Da kriegt man manchmal sowas zu hören wie „Ist doch nur eine Stufe!“ oder „Vier Man, vier Ecken – da tragen wir dich einfach rüber!“. So entsteht unnötiger Stress für mich.

Hat sich bei all diesen Veränderungen für dich auch etwas zum Positiven verändert?

Ja. Die Beziehungen zu Familie und Freunden sind enger geworden, weil sie von Anfang an zu mir und meiner Frau gehalten und uns unterstützt haben. Darüber bin ich sehr glücklich. Außerdem bin ich dankbar dafür, überlebt zu haben – und durch diese Sicht auf die Dinge hat sich für mich vieles relativiert. Früher stand beruflicher Erfolg für mich zum Beispiel sehr weit oben auf der Liste. Das ist jetzt nicht mehr so. Es gibt sehr viel wichtigere Dinge im Leben, und das habe ich durch die Erkrankung und das, was danach passiert ist, für mich erkannt.

Und wie stand es damals um deinen Beruf? Du konntest ja durch deine Behinderung nicht so weiterarbeiten wie vorher.

Für mich brach von heute auf morgen meine gesamte Existenzgrundlage zusammen. Ich konnte nicht mehr durch die Gegend reisen wie früher, außerdem brauchte ich ab sofort ganz andere Bedingungen bei Veranstaltungen. Das ging erstmal nicht so ohne weiteres. Statt meines Einkommens bekomme ich eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Meine Frau kümmert sich als Pflegerin um mich und arbeitet in ihrem bisherigen Job weiter, jetzt aber am Telearbeitsplatz von Zuhause aus.

Inzwischen arbeitest du aber wieder als DJ. Was war der Anlass für dich, wieder einzusteigen?

Ich hatte nach den Erlebnissen 2012 eigentlich komplett mit dem Auflegen abgeschlossen und konnte mir nicht vorstellen, jemals wieder hinter Plattentellern zu stehen. Aber dann brachte mich ein Freund von mir, Hannes Teichmann, zum Nachdenken. Er sagte, man könnte doch wunderbar auch hinter den Plattentellern sitzen! Er und sein Bruder sind in der Szene bekannt als die „Gebrüder Teichmann“. Im Jahr 2015 lud das Museum Hamburger Bahnhof Berlin die beiden ein, bei der internationalen Tagung „Inklusion ist schön“ aufzulegen, und sie holten mich kurzerhand mit ins Boot. In diesem geschützten Rahmen schufen sie ein perfektes Setting für mich, wieder in den Job einzusteigen: ein DJ-Pult auf Rolli-Höhe, Bewegungsfreiheit in alle Richtungen. Außerdem waren die beiden die ganze Zeit in Reichweite und standen mir zur Seite. Das war super. Ich selbst hatte mich wochenlang auf diesen ersten Gig vorbereitet. Durch all das war der Wiedereinstieg wirklich sehr angenehm.

Hat das deine Meinung zum Thema Auflegen geändert?

Ich habe dadurch auf jeden Fall wieder Selbstvertrauen in mich und meine Fähigkeiten gewonnen. Das Event und die Resonanz waren toll und das Erlebnis, wieder aufzulegen, auch. Die nächste Gelegenheit ließ dann auch gar nicht lange auf sich warten: Beim Festival „Zurück zu den Wurzeln“ hatte ich 2017 die Chance, das erste Mal wieder vor einem richtig großen Publikum aufzutreten. Da habe ich natürlich Ja gesagt.

Was ist das für ein Festival?

„Zurück zu den Wurzeln“ hat sich die Inklusion auf die Fahnen geschrieben, das heißt, alle Menschen sollen mitmachen und das Festival-Erlebnis genießen können. Das gesamte Gelände wird jedes Jahr barrierefrei auf- und ausgebaut, es gibt Inklusionslotsen und behindertengerechte Toiletten. Das sind ideale Voraussetzungen für Gäste mit Behinderung, und entsprechend viele sind dort auch vertreten. Dem Veranstalter ist es außerdem wichtig, nicht nur Gäste, sondern auch Künstler mit Behinderung dabeizuhaben. Er kannte mich noch aus meiner früheren, aktiven Zeit als DJ, daher fragte er mich, ob ich mitmachen wollte.

Wie war dieser erste große Gig nach der langen Pause für dich?

Vor meinem Auftritt war ich sehr aufgeregt, obwohl ich mich intensiv vorbereitet hatte. Ich hatte vorher ja schon oft die Erfahrung gemacht, dass es nicht unbedingt etwas heißt, wenn ein Ort oder eine Veranstaltung sich ‚barrierefrei‘ nennt – in der Wirklichkeit sah das für mich leider oft ganz anders aus. Dadurch entstand eine Doppelbelastung: Zum einen wollte und will ich als Künstler einen perfekten Auftritt abliefern und hoffe dafür natürlich immer auf ideale Bedingungen. Die Technik, der Sound müssen stimmen, damit es richtig gut wird. Zum anderen bin ich als Rollifahrer auch auf gute Voraussetzungen in Sachen Barrierefreiheit angewiesen. Das DJ-Pult muss auf der richtigen Höhe und mit dem Rollstuhl unterfahrbar sein, damit ich die Technik gut erreichen kann. Außerdem muss ich ohne Hilfe an meinen Arbeitsplatz gelangen können, der Zuweg vom Auto bis zum DJ-Pult muss also ebenfalls barrierefrei sein. Zum Glück waren bei „Zurück zu den Wurzeln“ all diese Bedingungen optimal erfüllt. Als ich dann meine ersten Platten auflegte und das Publikum begeistert feierte, verfolg meine Aufregung ganz schnell.

Was empfindest du als größtes Hindernis für deine Arbeit als DJ?

In erster Linie meine eigene Einschränkung, also die Tatsache, dass ich nicht mehr zu jeder Tages- oder Nachtzeit auftreten und nach meinen Ansprüchen abliefern kann.

Was planst du für die Zukunft?

Im letzten Jahr habe ich zwei Remixe produziert und rausgebracht. Im Moment bin ich dabei, meine Vinyl-Plattensammlung für zukünftige Auftritte zu digitalisieren. Vor meiner Erkrankung habe ich fast ausschließlich mit Platten aufgelegt und das mit CDs ergänzt. Durch die motorischen Störungen zittern aber jetzt meine Hände, daher ist Auflegen mit Vinyl leider nicht mehr möglich.
Ganz unabhängig von der Musik versuche ich außerdem, mich für Barrierefreiheit im öffentlichen Raum zu engagieren – zum Beispiel, indem ich Tipps für Verbesserungen gebe, wenn ich irgendwo unterwegs bin und mir etwas auffällt. Das finde ich nicht nur für mich selbst wichtig.





Die Millionenidee

Schwarze, weiße oder graue Socken? Langweilig, fand John Cronin. Der junge Mann hatte sich schon sich als Kind gerne über besonders farbenfrohe Kleidung ausgedrückt. Diese Leidenschaft wollte der 21-Jährige mit anderen Menschen teilen und gründete gemeinsam mit seinem Vater Mark das Start-up John’s Crazy Socks. Auf der Website verkaufen die beiden seit Ende 2016 die von John entworfenen knallig-bunten Produkte. Inzwischen arbeiten sie zusammen mit 15 Mitarbeitern, zehn davon haben wie der junge Chef eine Behinderung. Und der Erfolg ist riesig: Im ersten Jahr verkaufte die Firma mehr als 42.000 Paare und nahm mehr als 1,7 Millionen Dollar ein. Unser Linktipp der Woche!