Forschung und praktisches Wissen rund um Inklusion: Der Masterstudiengang ‚Rehabilitationswissenschaften‘ an der Uni Köln

Frau Niehaus, welche Inhalte lehren Sie in Ihrem Fach „Inklusionsmanagement und Rehabilitation in der Arbeitswelt“?

Niehaus: Wir vermitteln neben Theorien und Konzepten auch viel praktisches Wissen über das System der beruflichen Rehabilitation und über Inklusion im Beruf. Dazu laden wir beispielsweise Expert:innen von Inklusionsämtern, Integrationsfachdiensten und Sozialversicherungsträgern wie der Deutschen Rentenversicherung oder einer Unfallversicherung ein. Sie erklären, welche Aufgaben ihre jeweilige Institution hat und was sie für die Inklusion im Arbeitsleben tut. Unsere Studierenden lernen außerdem die rechtlichen Grundlagen kennen, nach denen alle diese Akteure arbeiten.
Der zweite große Themenblock sind wichtige Begriffe und andere Grundlagen, auf dem das berufliche Reha-System aufbaut: Was ist der Unterschied zwischen Behinderung und Krankheit? Wann ist eine Person beschäftigungsfähig, kann also auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Stelle finden und dauerhaft arbeiten? Und was ist eigentlich das Ziel von beruflicher Rehabilitation?
In einem dritten Block vermitteln wir die Methoden, mit denen wir in unserem Fachbereich forschen. Die Studierenden lernen auch, wie sie Erfahrungen mit inklusivem Arbeiten aus anderen Ländern einbeziehen und welche gesellschaftlichen Veränderungen und technischen Innovationen künftig eine Rolle spielen können.

Welche Vorkenntnisse oder welchen Abschluss sollten Studierende haben, damit sie sich für diesen Masterstudiengang einschreiben können?

Niehaus: Unsere Master-Studierenden kommen aus verschiedensten Bachelor-Studiengängen zusammen. Einige haben zuvor Sonder- oder Heilpädagogik studiert, andere kommen eher aus dem Bereich der Psychologie sowie den Erziehungs- und Gesundheitswissenschaften. Manchmal schreiben sich auch Studierende aus dem Lehramt-Studiengang Sonderpädagogik ein, die sich nach dem Bachelor doch für eine Laufbahn außerhalb der Schule entschieden haben.

Und welche Berufe stehen ihnen mit dem Masterabschluss offen?

Niehaus: Viele ehemalige Studierende arbeiten bei Integrationsfachdiensten oder anderen Rehabilitationsträgern. Manche bekommen schon während des Studiums Jobangebote, wenn die Reha-Träger sich und ihre Arbeit in unseren Seminaren vorstellen. Die Verantwortlichen bei den Trägern schätzen das Wissen, das wir im Studiengang vermitteln, und möchten bei uns gerne künftige Fachkräfte für sich gewinnen. Andere ehemalige Studierende sind jetzt als Referent:innen oder in der Projektentwicklung bei Sozialversicherungsträgern oder in Unternehmen tätig. Und einige unterstützen im Programm KAoA-STAR (Anm.: Abkürzung für „Kein Abschluss ohne Anschluss – Schule trifft Arbeitswelt“) Jugendliche im Übergang zwischen Schule und Arbeitsleben.

Frau Groß, Sie haben den Masterstudiengang „Rehabilitationswissenschaften“ absolviert und sind als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Mathilde Niehaus geblieben. Warum haben Sie sich für diese Fachrichtung entschieden?

Groß: Ich habe meinen Bachelor in Psychologie gemacht und während des Studiums auch schon Praktika absolviert. Dabei habe ich aber gemerkt, dass mir das Fach inhaltlich zu eng war. Der Masterstudiengang „Rehabilitationswissenschaften“ ist dagegen sehr praxisnah und interdisziplinär aufgebaut. Dadurch gibt es auch viele Möglichkeiten, sich weiter zu spezialisieren. Das gefiel mir.

In welchem Bereich forschen Sie jetzt?

Groß: Ich habe meine Masterarbeit über Inklusionsbeauftragte in Unternehmen geschrieben. Sie achten als Vertreter:innen der Arbeitgebenden darauf, dass diese ihre gesetzlichen Pflichten gegenüber Menschen mit (Schwer-)Behinderung im Unternehmen einhalten. Inklusionsbeauftragte sind also sozusagen das Gegenstück zu den Schwerbehindertenvertretungen. Es hat sich aber noch kaum jemand wissenschaftlich damit beschäftigt, wie die Arbeit dieser Menschen in der Praxis genau aussieht. Das ist bis heute eines meiner Schwerpunktthemen.
Außerdem arbeite ich im Projekt Role Models mit, das die Uni Köln gemeinsam mit der Fortbildungsakademie der Wirtschaft umsetzt. Wir möchten darin erarbeiten, ob und wie Menschen mit Schwerbehinderung in Führungspositionen zu Vorbildern für betriebliche Inklusion werden können, also zu „Role Models“.

Frau Niehaus, Sie haben den Masterstudiengang vor zehn Jahren entwickelt. Wie sind Sie selbst zum Thema der beruflichen Inklusion gekommen?

Niehaus: Ich habe nach meinem Studium an einem wirtschaftswissenschaftlichen Projekt mitgearbeitet, in dem wir Arbeitsmarktdaten ausgewertet haben. Eine Datengruppe in dieser Auswertung hieß „Menschen mit Schwerbehinderung“. Es hat mich gewundert, dass damals innerhalb dieser Gruppe nicht nach Geschlecht differenziert wurde. Ich habe mich gefragt: Wie ist eigentlich die Situation von Frauen mit Behinderung? Ich habe diese Frage weiterverfolgt und meine Doktorarbeit über die soziale Lage von Frauen mit Behinderung geschrieben.
Ein Ergebnis meiner Forschungsarbeit war: Frauen mit Behinderung hatten es auf dem Arbeitsmarkt besonders schwer. Ich bin also über diese Datenanalyse zum Thema gekommen und dabei geblieben. Deshalb war es für mich auch ein Herzensanliegen, den Studiengang hier in Köln aufzubauen. Viele Professor:innen der Sonderpädagogik beschäftigen sich mit Inklusion in der Schule und mit Förderschulen. Aber kaum jemand denkt an die Zeit nach der Schule. Da habe ich eine Lücke und einen großen gesellschaftlichen Bedarf gesehen, gerade mit Blick auf den demografischen Wandel. Wenn Menschen in Zukunft länger arbeiten müssen, werden immer mehr von ihnen eine Behinderung oder gesundheitliche Beeinträchtigung haben und nicht mehr der scheinbaren „Normalität“ im Erwerbsleben entsprechen. Damit müssen wir uns beschäftigen.

Zu welchen Themen oder Projekten möchten Sie beide in Zukunft gerne noch forschen?

Niehaus: Eine wichtige Frage wird sicher sein, welchen Einfluss der Klimawandel auf die Arbeitswelt und speziell auf Menschen mit Behinderung hat. Auch die Themen Digitalisierung, künstliche Intelligenz und mobiles Arbeiten haben natürlich einen großen Stellenwert. Dabei geht es nicht zuletzt um die Gesundheit der Beschäftigten. Was bedeutet eigentlich menschengerechte Arbeit? Was ist eine gute Arbeit? Wenn wir von Inklusion als Ziel sprechen, kommt es auch auf solche Fragen an. Zu Hause haben Menschen zum Beispiel oft keinen gut angepassten Arbeitsplatz oder Hilfsmittel. Menschen mit Behinderung brauchen diese Ausstattung dann eigentlich doppelt, damit sie nicht unter schädlichen Bedingungen arbeiten müssen. Gleichzeitig kann das Home Office auch entlasten und dazu beitragen, dass Menschen besser arbeiten können, weil sie nicht so oft zum Unternehmen fahren müssen.

Groß: Ich beobachte, dass sich der Fokus erweitert. Früher ging es bei Inklusion vor allem um Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Inzwischen erkranken immer mehr Menschen auch psychisch, und zwar oft schon in jungen Jahren. Solche Erkrankungen werden heute auch viel früher thematisiert. Gleichzeitig gibt es bei Verantwortlichen in Unternehmen und auch bei Arbeitnehmer:innen noch viele Unsicherheiten, außerdem trauen sich viele Menschen mit unsichtbaren Beeinträchtigungen nicht, diese offenzulegen, weil sie Angst vor Stigmatisierung haben. Ich denke, das wird in Zukunft auch für die Forschung ein wichtiges Thema sein.

Über unsere Interviewpartnerinnen




Wie die Bundesagentur für Arbeit schwerbehinderte Akademiker:innen unterstützt (Interview)

Herr Jüdes, Sie und Ihr Team unterstützen Akademiker:innen mit Schwerbehinderung bei der Jobsuche. Wie stehen zurzeit deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt?

In vielen Unternehmen fehlen Fach- und auch Führungskräfte. Unser Team bekommt Anfragen und Stellenausschreibungen von Unternehmen zugesandt. In manchen Berufen sind es mehr Stellen als passende Bewerber:innen, die wir betreuen und vermitteln könnten. Die Chancen stehen insgesamt also recht gut. Wie in allen Gruppen wird es allerdings auch für Arbeitssuchende mit Uni-Abschluss schwieriger, je älter sie sind.

Wie helfen Sie Arbeitssuchenden dabei, eine neue Stelle zu finden?

Wir beginnen mit einem klassischen Erstgespräch: Welchen Studienabschluss hat die Person? Hat sie auch promoviert? Welche weiteren Qualifikationen bringt sie mit, was waren bisher ihre Schwerpunkte? Wir möchten zusammen mit den Arbeitssuchenden einschätzen, welches Arbeitsfeld passen könnte und welche beruflichen Ziele sie jeweils verfolgen. Wichtig ist auch, ob jemand in eine andere Stadt umziehen kann und wie weit diese weg sein darf. Wir versuchen außerdem gemeinsam herauszufinden, welche Auswirkungen eine Behinderung auf die gewünschte Tätigkeit hat, ob es also im Interesse der arbeitssuchenden Person wäre, den Arbeitgeber darüber zu informieren und früh über mögliche Hilfsmittel zu sprechen. Wenn all das geklärt ist, suchen wir gemeinsam nach passenden Stellenangeboten und geben Tipps für die Bewerbung. Manche Arbeitssuchenden machen sich Sorgen, ob sie im Bewerbungsverfahren bestehen können, weil sie zum Beispiel wegen einer Erkrankung lange aussetzen mussten oder sich aus anderen Gründen länger nicht mehr auf Stellen beworben haben. Deshalb bieten wir ihnen bei Bedarf ein fünftägiges Coaching an.

Was passiert in diesem Coaching?

Wir üben mit den Arbeitssuchenden intensiv, sich in Vorstellungsgesprächen zu gut präsentieren. Neben diesem klassischen Bewerbungstraining laden wir außerdem Entscheider:innen aus der Wirtschaft ein. Sie erzählen, worauf sie in Bewerbungsgesprächen achten. Mit diesem Wissen können die Bewerber:innen sich später besser vermarkten. Das ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil bei vielen Verantwortlichen in Unternehmen leider immer noch Vorurteile und Bedenken gegenüber Akademiker:innen mit Schwerbehinderung vorhanden sind.

Umgekehrt wenden sich aber ja auch Arbeitgeber:innen an Sie, die gezielt Menschen mit Behinderung einstellen möchten. Wie können Sie sie unterstützen?

Für Unternehmen ist erst einmal die Arbeitsagentur vor Ort zuständig. Wir kommen immer dann zusätzlich ins Spiel, wenn für eine Stelle eine Person mit akademischem Abschluss gesucht wird. In diesem Fall veröffentlichen wir die Stellenanzeige oder -ausschreibung und beraten die Verantwortlichen bei Bedarf dabei, wie sie diese Anzeige formulieren sollten. Meistens haben wir zwischen 600 und 800 offene Stellen in unserem Portal. Wir prüfen bei jeder Anzeige, ob wir direkt jemanden vermitteln können und welche finanzielle Förderung in Frage kommt. Alle Stelleninformationen verschicken wir außerdem anonymisiert über einen sehr großen E-Mail-Verteiler. Mit diesem Newsletter erreichen wir auch ehemalige Bewerber:innen, die inzwischen schon einen Job gefunden haben, sich aber vielleicht beruflich noch einmal verändern möchten. Umgekehrt bekommen Unternehmen über einen ähnlichen Newsletter anonymisierte Profile der Bewerber:innen, aus denen nur die Qualifikationen und der Wohnort hervorgehen. Auf diese Weise können wir schon etliche Stellen vermitteln. Manchmal müssen wir aber auch mehr beraten und erst einmal falsche Erwartungen auflösen.

Welche falschen Erwartungen gibt es zum Beispiel?

Meistens geht es darum, dass Unternehmen das Stellenprofil sehr eng gefasst haben. Wir weisen sie dann auf mögliche Alternativen hin. Für Bürotätigkeiten, Stellen in der Verwaltung oder auch Führungsaufgaben suchen Firmen zum Beispiel häufig nach Verwaltungswissenschaftler:innen oder Menschen mit einem BWL- oder VWL-Abschluss. Lehrer:innen oder Menschen, die im Journalismus gearbeitet oder Sprachwissenschaften studiert haben, kommen dafür aber durchaus auch in Frage. Auch im wissenschaftlichen Bereich sollten sowohl Arbeitgeber:innen als auch Arbeitssuchende inhaltlich verwandte Studiengänge in Betracht ziehen. Wir möchten beide Seiten dazu ermutigen, ihren Blick etwas zu weiten und dadurch für alle die Chancen zu erhöhen.

In welche Branchen und Unternehmen vermitteln Sie besonders häufig neue Mitarbeiter:innen mit Schwerbehinderung auf einen Arbeitsplatz?

Das ist sehr breit gefächert. Wir bekommen zum Beispiel Stellenanzeigen von großen Unternehmen, Bundesministerien und anderen öffentlichen Arbeitgebern, Vereinen und Bundesverbänden, die Bewerber:innen für klassische Bürojobs suchen. Im wissenschaftlichen Bereich gehören Unis, das Robert-Koch-Institut, Fraunhofer-Institute und ähnliche Einrichtungen zu unserem Netzwerk. Viele Unternehmen suchen Ingenieure und IT-Spezialist:innen – insbesondere in der IT können wir die große Nachfrage gar nicht bedienen. Auch Menschen, die Rechtswissenschaften, Betriebs- oder Volkswirtschaft studiert haben, sind gefragt.





Mit Erfahrungswissen den Kulturwandel in der Arbeitswelt anstoßen: das Projekt „InklusionsGuides“

Frau Peschek, warum hat Ihr Verein die InklusionsGuides ins Leben gerufen?

Wir wollen damit die Arbeitswelt inklusiver gestalten. Divers aufgestellte Unternehmen und Institutionen sind anpassungsfähiger in Veränderungsprozessen und Krisenzeiten. Vielfalt ist also ein entscheidender Erfolgsfaktor. Und davon profitieren sowohl Arbeitnehmer:innen als auch Unternehmen und Organisationen. Damit dieser Wandel sozusagen von innen heraus angestoßen wird, unterstützen wir Firmen und Institutionen dabei, Menschen mit Behinderung als Mitarbeiter:innen zu gewinnen und sich als Arbeitgeber:in dabei von vornherein so aufzustellen, dass diese Zielgruppe aufmerksam auf sie wird. Um es also mit den englischen Fachbegriffen auszudrücken: Wir setzen in den Bereichen Recruiting und Employer Branding an.

Wie funktioniert das Projekt und warum setzt es besonders auf Frauen?

Frauen mit Behinderung sind auf dem Arbeitsmarkt nachweislich doppelt benachteiligt. Deshalb suchen und finden wir für unser Projekt ganz bewusst Studentinnen mit Behinderung. Sie gehen als Wegweiserinnen in Unternehmen und bieten dort ihre Expertise an, die sie aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen haben. Die Guides unterstützen die Firmen über ein Jahr hinweg dabei, Stellenausschreibungen inklusiv zu formulieren, Bewerbungsprozesse kritisch zu überprüfen und zu verbessern oder Arbeitszeitmodelle flexibel auszugestalten. Sie sensibilisieren aber auch die Mitarbeiter:innen des Unternehmens und vermitteln ihnen, welche Belange Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen haben oder haben können. Gerade das kann grundlegende Veränderungen bewirken – und das tritt auch oft ein. In den teilnehmenden Unternehmen beobachten wir bereits einen Kulturwandel hin zu einer inklusiven Arbeitskultur. Die Arbeitszeitmodelle werden zum Beispiel flexibler und auch die Kommunikation in Stellenausschreibungen ist anders als vorher.

Studentinnen haben ja normalerweise noch keine oder kaum Berufserfahrung. Warum sind sie trotzdem gut darin, Unternehmen zu beraten?

Die Studentinnen von heute sind ja die Arbeitnehmerinnen von morgen. Sie wissen deshalb am besten, wie sie arbeiten wollen und können, welche Bedürfnisse sie haben und welche Veränderungen in Unternehmen dafür nötig sind. Sie sind also bereits Expertinnen in eigener Sache. Der Hildegardis-Verein begleitet und qualifiziert sie außerdem durch Trainings zu verschiedenen Aufgabenbereichen. Dazu gehören zum Beispiel Workshops zu Themen wie „Wie kommuniziere ich meine eigene Behinderung?“, „Was sind Diskriminierungsformen und wie gehe ich damit um?“, „Was sind meine Stärken und wie kann ich diese gezielt in meine Arbeit einbringen?“ oder „Kommunikation und Methoden“. Und natürlich begleiten wir den gesamten Prozess eng mit.

Wie ist die Beratung eines Unternehmens oder einer Organisation organisiert?

Es gibt zwei so genannte Guidance-Phasen, die jeweils ein Jahr dauern. Für diese Zeit gehen jeweils zwei Studentinnen oder Absolventinnen mit Behinderung in eine Firma oder eine Institution. Die Verantwortlichen aus dem Unternehmen treffen sich einmal im Monat vor Ort oder manchmal auch digital mit den Guides. Dabei bearbeiten sie verschiedene Themen, zum Beispiel Stellenausschreibungen, Bewerbungsprozesse, Text- und Bildsprache, flexible Arbeitszeitmodelle, aber auch bauliche Barrierefreiheit. Und natürlich ist auch die Sensibilisierung der anderen Mitarbeitenden sehr wichtig. Andere Tandems treffen sich nur alle zwei Monate, dann aber gleich für zwei volle Tage. Alle Guides durchlaufen verschiedene Abteilungen, um sich die Arbeit vor Ort genau anzuschauen und so zum Beispiel Barrieren ausfindig zu machen. Dabei bringen sie ihre eigenen Erfahrungen direkt ein. Innerhalb eines Guidance-Jahres gibt es darüber hinaus insgesamt vier so genannte Resonanzgruppentreffen. Dabei kommen alle Unternehmensbeteiligten, die Guides sowie Fachleute aus den Bereichen Inklusion und Arbeitswelt zusammen. Sie berichten bei den Treffen über Ergebnisse und Erfahrungen, tauschen sich aus, beraten sich gegenseitig, durchlaufen gemeinsam weitere Trainings und vernetzen sich untereinander.

Ist dieser umfangreiche Service für die Unternehmen kostenpflichtig?

Ja, normalerweise fällt für ein Jahr Beratung ein Teilnahmebeitrag von 5.000 Euro pro Unternehmen oder Institution an. Aber dadurch, dass wir von der Aktion Mensch und der BNP Paribas Stiftung gefördert werden, können wir auch Institutionen und Unternehmen teilnehmen lassen, die sich diesen Beitrag nicht leisten können. Sie zahlen dann nur so viel, wie sie können.

Werden die Studentinnen für ihre Arbeit entlohnt?

Ja, sie bekommen eine Ehrenamtspauschale für ihre Arbeit als Guides, also eine Aufwandsentschädigung. Außerdem erhalten sie am Ende des Prozesses ein Zertifikat über die Teilnahme am Projekt.

Wie wählen Sie die Studentinnen für Ihr Projekt aus – und wie teilen sie die Guides einem passenden Unternehmen zu?

Wir suchen und finden die Studentinnen unter anderem über Kontakte und Verknüpfungen des Hildegardis-Vereins. Den Verein gibt es ja schon seit 1907, seit 2008 führen wir Inklusionsprojekte durch. Wir haben also über viele Jahre hinweg ein großes Netzwerk sehr unterschiedlicher Frauen aufgebaut, auf das wir für das Projekt zurückgreifen können. Für die Bewerbung verschicken wir Ausschreibungsunterlagen an viele verschiedene Interessierte. Wir schreiben auch die Inklusions- und Diversitätsbeauftragten aller Hochschulen in Deutschland an, damit sie die Ausschreibung an Studentinnen weiterleiten. Natürlich nutzen wir ebenso Online-Kanäle wie LinkedIn oder unsere Website. Um teilnehmen zu können, füllen die Bewerberinnen einen Fragebogen aus, mit dem sie ihre eigenen Bedarfe, ihre Motivation, mitzumachen, und ihren Werdegang erklären. Anhand dieser und weiterer Kriterien werden sie später mit einem passenden Unternehmen „gematcht“, also zusammengebracht. Die Entfernung zum Sitz der Firma oder Organisation spielt dabei zum Beispiel eine Rolle, die Barrierefreiheit des Ortes, aber auch die jeweiligen Bedarfe der einzelnen Guides.

Wie sieht es auf der Seite der Unternehmen aus: Wie und wo gewinnen sie diese dafür, sich beraten zu lassen?

Die Unternehmen werden meistens online aufmerksam auf unser Projekt, also über LinkedIn, andere soziale Medien oder unsere Website. Einige Kontakte kommen aber auch durch persönliche Ansprache zustande. Viele Unternehmen wollen sich ja ohnehin auf den Weg machen in eine diversere Arbeitswelt, wissen aber oft nicht genau, wie. Da kommt unser Projekt meist gerade passend.

Der Bedarf und das Interesse sind also auf beiden Seiten vorhanden?

Ja, der Rücklauf für das Projekt ist großartig. Das hängt sicher auch mit den Anreizen für beide Seiten zusammen. Die Studentinnen machen wertvolle Erfahrungen und bekommen unter anderem einen direkten Einblick in die Strukturen der Unternehmen und Institutionen, die sie beraten. Sie können so fast nebenbei Kontakte knüpfen, die ihnen später helfen können, einen geeigneten Job zu finden. Die Unternehmen profitieren vom Erfahrungswissen der Guides, können sich inklusiv für die Zukunft aufstellen und etwa dem Fachkräftemangel entgegenwirken. Das große Interesse bestärkt uns darin, das Projekt auch nach dem Ende der Laufzeit weiterzuführen. Bisher gab es zwei so genannte Guidance-Phasen, die jeweils ein Jahr dauern, eine davon ist bereits abgeschlossen. Dabei konnten wir zehn Unternehmen und Institutionen mit jeweils zwei bis drei Guides zusammenbringen. Insgesamt sind 22 Wegweiserinnen mit dabei.

Um das zu ändern, hat der Hildegardis-Verein aus Bonn das Projekt „InklusionsGuides“ ins Leben gerufen, bei dem Studentinnen mit Behinderung in Unternehmen gehen, um diese zum Thema Inklusion zu beraten. Das Projekt läuft von Januar 2022 bis Dezember 2024 und wird von der Aktion Mensch, der BNP Paribas Stiftung und dem Hildegardis-Verein selbst mit insgesamt 350.000 Euro gefördert. Bisher konnten so bereits 22 Frauen mit Behinderung mit zehn Unternehmen und Institutionen zusammengebracht werden.





Ein Kalender, der ohne Text auskommt: Die inklusive App „Independo“

Frau Kruselburger, herkömmliche Kalender-Apps können nicht das, was Independo kann. Was sind die besonderen Funktionen Ihrer Software und für wen ist sie gedacht?

Wir haben Independo gemeinsam mit und für Menschen mit Lernschwierigkeiten entwickelt, denn genau das ist unsere Zielgruppe: Menschen, die Schwierigkeiten beim Lesen und/oder Schreiben haben  und für die herkömmliche, text-basierte Kalender-Apps deshalb nicht zugänglich sind. Unsere App stellt Termine stattdessen als Symbole und mit Tonspuren dar. Außerdem können vergangene Einträge mit Emojis bewertet und durch persönliche Fotos und Audioaufnahmen ergänzt werden. Independo ist also Kalender und Tagebuch zugleich – und durch den Aufbau und das Design ist die App insbesondere für Menschen mit Lernschwierigkeiten sehr gut nutzbar.

Wie funktioniert die App, dockt sie einfach an bestehende Kalender an?

Ja, sie lässt sich mit herkömmlichen Kalendern wie zum Beispiel einem Google-Kalender, dem Kalender von Microsoft Outlook oder dem iCal-Format von Apple synchronisieren. Die Termine werden im Hintergrund in Textform in den Independo-Kalender eingespielt, übersetzt und anschließend in der Benutzeroberfläche der App mit Symbolen dargestellt. Unsere Software kann aber auch ohne vorhandene Daten genutzt, also einfach nur installiert und von Grund auf neu befüllt werden.

Wie ist die Idee entstanden, ausgerechnet solch eine App zu programmieren?

Ich hatte letztes Jahr im Herbst ein spannendes Gespräch mit „Integration Wien“, das ist eine Beratungsstelle für Kinder und junge Erwachsene mit unterschiedlichen Behinderungen, aber auch für deren Eltern und Angehörige. Es gab dort schon damals das Projekt „P.I.L.O.T.“, mit dem die Beratungsstelle Menschen mit Lernschwierigkeiten beim Einstieg ins Arbeitsleben unterstützt.  Stephanie Hiller und Katharina Lindtner, die (Zukunftsreise-)Begleiterinnen im Projekt „P.I.L.O.T.“, sind, haben mir mir bei dem Treffen von den Barrieren erzählt, auf die ihre Klient:innen oft stoßen – so gab es am Markt damals keinen Kalender, der barrierefrei für Menschen mit Lernschwierigkeiten nutzbar war und diese auch im (Arbeits-)Alltag unterstützen konnte.

Eine so komplexe Software muss ja in mehrfacher Hinsicht barrierefrei sein. Um sie zu entwickeln, braucht es sicher sehr viel Wissen über die Bedürfnisse der späteren Nutzer:innen. Wie sind Sie und Ihr Team das angegangen?

Wir haben die App von Beginn an im so genannten Co-Design entwickelt. Das bedeutet, dass wir unser Produkt mit unseren Zielgruppen gemeinsam erstellt haben, damit das Ergebnis deren Bedürfnissen und Wünschen später optimal entspricht. Bevor es also mit der Programmierung losging, haben wir Schulen und Vereine in Wien besucht, in denen Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten anzutreffen sind. Wir wollten so aus erster Hand erfahren, wie wir unsere Kalender-App grundsätzlich aufbauen und gestalten müssen. Auch während der Entwicklung der App haben wir immer wieder mit diesen Einrichtungen zusammengearbeitet, um bestehende Funktionen zu testen, diese gegebenenfalls zu überarbeiten und die App so immer weiterzuentwickeln. Unsere Partnerschulen und -vereine haben uns dabei sehr tatkräftig unterstützt.

Wie haben Sie und Ihr Team zusammengefunden?

Wir alle haben uns im Erweiterungsstudium „Innovation“ an der Technischen Universität Wien kennengelernt. In diesem Rahmen haben wir seinerzeit das Projekt Independo gestartet und dieses Jahr im August 2023 die Independo GmbH gegründet. 

Wer hat mitgegründet und wer übernimmt welche Aufgaben im Team?

Neben mir sind meine Studienkollegen Michael Höchtl, Konstantin Strümpf und Daniel Harringer Teil des Unternehmens. Michael Höchtl kennt sich im Bereich Data Science (Deutsch: Datenwissenschaft) sehr gut aus. Er analysiert das Feedback aus den Tests mit Nutzer:innen und übersetzt diese Rückmeldungen in technische Aufgaben für das Entwicklungsteam. Konstantin Strümpf ist als CTO (Chief Technology Officer, Deutsch: Technischer Direktor) vor allem für die technische Architektur und die technischen Strategien verantwortlich. Er sorgt unter anderem dafür, dass unsere Systeme mit geringem Aufwand viel bewirken können, also effizient sind. Außerdem stellt er sicher, dass Independo skalierbar ist, später also auch in größeren Maßstäben funktionieren kann, und sorgt dafür, dass unsere Idee zukunftssicher ist. Daniel Harringer wiederum bringt als Lead Developer (Deutsch: leitender Entwickler) umfassendes Wissen aus dem Bereich der Technischen Informatik mit. Abseits dieses Kernteams werden wir auch noch von Nathalie Büttner unterstützt, die sich auf das Design von Nutzeroberflächen spezialisiert hat, und von Florian Hochreiter, einem weiteren Entwickler.

Was ist Ihr eigener Hintergrund als Geschäftsführerin eines inklusiven Unternehmens?

Ich nehme seit meinem sechsten Lebensjahr an inklusiven Sommercamps teil, über die Jahre sind also sehr viele Veranstaltungen zusammengekommen. Dabei habe ich nicht nur wertvolle Erfahrungen gesammelt, sondern auch meine Leidenschaft für die Entwicklung von unterstützenden Technologien entdeckt. Und genau mit diesem Schwerpunkt habe ich dann später Medizintechnik studiert, was jetzt in meine Arbeit bei Independo direkt mit einfließt.

Wann geht die App an den Start?

Es wird Independo als iOS- und Android-App geben, das Programm wird aber auch im Webbrowser verfügbar sein. Vor zwei Wochen ist in den ersten Partnerinstitutionen die Pilotphase angelaufen. Wenn diese erfolgreich abgeschlossen ist, haben wir es geschafft. Schulen, Vereine und andere Institutionen können die App dann ab Januar 2024 erwerben, für Einzelpersonen wird sie im Frühjahr 2024 freigeschaltet. Übrigens haben wir zwar Förderungen von staatlichen Einrichtungen und in Österreich ansässigen Stiftungen erhalten, das Projekt soll sich aber künftig selbst tragen. Deshalb ist eine monatliche Lizenzgebühr geplant, die bei knapp 10 Euro liegen wird. Institutionen können die App als Jahreslizenzen auf der Website erwerben, wir haben für diese Kund:innen aber auch Gruppenrabatte vorgesehen. Einzelpersonen können Independo einfach im jeweiligen App-Store herunterladen und ein Monatsabo abschließen.




Wie das Unternehmen „Access“ Pionierarbeit für berufliche Inklusion leistet

Frau Seeger, an wen richten Sie sich mit dem Angebot Ihres Unternehmens?

Grundsätzlich an alle Menschen mit Behinderung, die einen besonderen Unterstützungsbedarf haben, und an Menschen mit gravierenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Bei vielen unserer Kund:innen kommt noch hinzu, dass sie schon sehr lange arbeitslos und über 55 Jahre alt sind, dadurch haben sie es auf dem Arbeitsmarkt noch einmal schwerer. Andere haben zusätzlich eine Suchterkrankung oder sind wohnungslos. Wir leisten in solchen Fällen neben unseren Hauptaufgaben viel klassische Sozialarbeit, damit sich die Menschen, die wir bei der Arbeitssuche unterstützen, ganz auf dieses Ziel konzentrieren können.
Schon seit der Gründung von „Access“ begleiten wir außerdem Schüler:innen mit Behinderung beim Übergang von der Schule ins Berufsleben. Wir sprechen mit ihnen darüber, welche Berufe zu ihren Interessen passen könnten, und helfen, einen Praktikumsplatz zu finden.

Wie unterstützen Sie Ihre erwachsenen Kund:innen dabei, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen?

Wir haben verschiedene Programme entwickelt, mit denen wir Menschen zwischen sechs Monaten und bis zu drei Jahre lang auf ihrem Weg begleiten, sie also beraten, schulen und auf Arbeitsplätze vermitteln. Eines dieser Programme richtet sich beispielsweise an Kund:innen, die in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung tätig sind und gerne etwas anderes ausprobieren möchten. Ein anderes ist für Kund:innen gedacht, die schon länger arbeitslos sind, oft aber Fähigkeiten und Wissen aus früheren Jobs oder einer Ausbildung mitbringen. Wir knüpfen für sie dann Kontakte zu passenden Betrieben, in denen sie arbeiten und sich qualifizieren können. Viele unserer Kund:innen begleiten wir auch mit einem Jobcoaching direkt im Betrieb. Sie sollen nach Möglichkeit am Ende ihres Programms einen Vertrag für einen sozialversicherungspflichtigen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt unterschreiben. Das gelingt in mehr als sechs von zehn Fällen, was eine sehr gute Quote ist.

Und wie geht es für Menschen weiter, die auch mit Ihrer Hilfe keine sozialversicherungspflichtige Arbeitsstelle finden?

Wir überlegen gemeinsam mit ihnen, was das nächste Ziel oder der nächste Schritt sein könnte. Für Menschen, die lange arbeitslos waren, kann ein Minijob eine Möglichkeit sein, wieder ins Berufsleben einzusteigen. Manchmal stellt sich im Prozess auch heraus, dass eine Person gar nicht mehr arbeiten kann. Dann unterstützen wir sie dabei, einen Rentenantrag zu stellen. In Einzelfällen begleiten wir Kund:innen auch dann, wenn sie feststellen, dass eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung den richtigen Rahmen für sie bietet. Und wenn wir gar nicht weiterhelfen können, vermitteln wir zu einer anderen passenden Beratungsstelle.

„Access“ wurde 1998 gegründet und war eines der ersten Unternehmen in Deutschland, die Projekte für Inklusion auf dem Arbeitsmarkt umgesetzt haben. Wie kam es damals dazu?

Der Impuls und die Initiative kamen von Menschen mit Schwerbehinderung und von Eltern, die statt Sonderstrukturen wie zum Beispiel Werkstätten einen Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt wollten. Sie haben „Access“ damals gegründet.

Waren Sie auch von Anfang an dabei?

Ja, ich suchte damals gerade eine neue Stelle. In meinem ersten Beruf hatte ich lange in der freien Wirtschaft im Marketing gearbeitet. Den Job habe ich aufgegeben und Soziale Arbeit studiert, weil ich darin für mich mehr Sinn gesehen habe. Bei „Access“ kann ich meine Fähigkeiten aus beiden Bereichen zusammenbringen.

Wie hat sich das Unternehmen in den letzten 25 Jahren entwickelt?

Wir haben bei der Gründung mit sechs Mitarbeiter:innen angefangen. Damals haben wir Jugendliche beim Übergang von der Schule ins Berufsleben unterstützt. Außerdem haben wir behinderte Menschen, die schon einen Job hatten, und ihre Arbeitgeber:innen beraten. Im Laufe der Jahre haben wir unsere Programme aufgebaut und arbeiten jetzt mit einem Team von 65 Mitarbeiter:innen. Übrigens mit einer Schwerbehindertenquote von mehr als 20 Prozent, auch auf Leitungspositionen. Dass wir so stark gewachsen sind, war aber kein Selbstläufer. Wir mussten immer wieder neue Projekte entwickeln und Möglichkeiten finden, dafür Geld zu bekommen. Damit sind wir sehr erfolgreich: Wir konnten schon viele unserer Projektideen nach der Pilotphase auch dauerhaft fortsetzen.

Wie finanzieren Sie Ihre Arbeit?

Wir haben keine Sockelfinanzierung, also kein Geld, mit dem wir jährlich fest rechnen und die Büromiete oder einen Teil der Gehälter bezahlen können. Die Arbeitsagentur, die Inklusionsämter und andere Träger zahlen dafür, dass Kund:innen an unseren Programmen teilnehmen oder wir sie mit einer Arbeitsassistenz unterstützen. Dieses Geld ist immer fallbezogen. Darüber hinaus versuchen wir ständig, Fördermittel für Projekte zu bekommen. Seit einiger Zeit unterstützen wir zum Beispiel geflüchtete Menschen mit Behinderung bei der Jobsuche – als einziger Fachdienst in der Region. Aber um für so etwas Fördermittel zu beantragen, müssen wir fast immer auch selbst einen Teil des Projekts bezahlen. Diese so genannten Eigenmittel bekommen wir über Spenden rein. Wir bieten außerdem Seminare und Fortbildungen zum inklusiven Arbeiten an, zum Beispiel für angehende Jobcoaches, also für Fachleute, die Menschen mit Behinderung an verschiedenen Stationen ihres beruflichen Wegs unterstützen. Auch damit nehmen wir Geld ein.
Insgesamt ist die Finanzierung unseres Unternehmens und unserer Projekte also recht aufwendig und kostet viel Kraft. Aber wir sind dadurch auch gezwungen, innovativ zu bleiben. Das tut unserer Arbeit sicher gut.

Müssen Ihre Kund:innen für Ihre Unterstützung etwas bezahlen?

Nein, für sie sind unsere Leistungen immer kostenfrei. Oft weist ein Kostenträger uns eine Person zu, damit wir sie unterstützen. Eine andere Möglichkeit ist, dass Menschen von sich aus zu uns kommen. Dann helfen wir dabei, Geld für die Begleitung durch uns zu beantragen, etwa ein Persönliches Budget für eine Rehamaßnahme.

Sie bieten auch Inklusionsberatungen für Unternehmen an. Wie häufig nehmen Firmen das in Anspruch?

Wenn wir Mitarbeiter:innen oder Praktikant:innen mit Behinderung an ein Unternehmen vermitteln, gehört eine Inklusionsberatung in aller Regel dazu. Auch in manchen Projekten bieten wir Workshops zum inklusiven Arbeiten an. Inzwischen buchen Firmen auch unabhängig von solchen konkreten Anlässen Beratungen und Seminare bei uns, die sie selbst bezahlen. Das kommt zwar insgesamt noch nicht so häufig vor, aber die Nachfrage nimmt zu. Das liegt sicher auch daran, dass wir hier in der Region sehr gut vernetzt sind. Wir haben inzwischen ja schon sehr vielen Unternehmen Mitarbeiter:innen vermittelt. Außerdem wird „Access“ von einem Beirat unterstützt, dem viele Menschen aus der regionalen Wirtschaft, Politik und sozialen Einrichtungen angehören. Dadurch haben wir sehr viele Multiplikator:innen. —




Begleitet den Schritt in die Selbstständigkeit wagen: Gründungsberatung und Mentoring für Frauen mit Behinderung

Frau Sautter, was steckt hinter Ihrem Projekt?

Wir möchten mit B.E.S.S.E.R. insbesondere Frauen mit Behinderung auf ihrem beruflichen Weg begleiten und so ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern. Dabei unterstützen wir sie ganz bewusst schon, bevor sie sich dazu entscheiden, zu gründen, beziehungsweise in der Startphase ihrer Erwerbstätigkeit. Wir orientieren uns stark am individuellen Bedarf der einzelnen Person und beraten und betreuen dazu passend. Das klassische Wissen darüber, wie ein Unternehmen gegründet wird, verknüpfen wir mit ganz spezifischen Themen, die vor allem Menschen mit Behinderung betreffen.

Sie haben mit Ihrem Projekt auch ein Mentoring-Programm aufgebaut. Wie funktioniert das?

Wir haben zunächst gezielt nach Frauen mit Berufs- und Führungserfahrung gesucht, die dazu bereit sind, andere Frauen aus ähnlichen Arbeitsumfeldern zu beraten, vor allem solche mit Behinderung. Die Mentorinnen bilden anschließend ein Tandem mit je einer Mentee – also einer meist jüngeren Frau, die sich selbstständig machen möchte und sich bei uns für das Programm beworben hat. Die berufserfahrenen Frauen teilen dann im direkten Kontakt und über einen längeren Zeitraum hinweg ihr Wissen, ihre Erfahrungen und ihr Netzwerk mit ihrer Mentee.

Wie viele dieser Mentoring-Tandems haben Sie im Rahmen des Programms schon zusammengestellt?

In der ersten Runde im Frühjahr 2022 waren die Anmeldungen etwas schleppend, wir konnten insgesamt nur zwölf Zweierteams aus Mentorinnen und Mentees bilden. Das führen wir darauf zurück, dass es aufgrund der gesellschaftlichen Situation für viele wohl erst einmal nicht mehr so attraktiv war, sich selbstständig zu machen – sprich, wegen der Pandemie, dem Krieg in der Ukraine und den wirtschaftlichen Folgen für Europa. Ende Juni 2023 startete eine zweite Runde. Dafür haben sich über 20 Frauen beworben, die gern beraten werden möchten. Wir konnten leider nur 15 davon ins Programm aufnehmen. Der Bedarf scheint also wieder vorhanden zu sein.

Wie profitieren die Mentees davon?

Die Frauen melden uns zurück, dass ihnen der Austausch sehr dabei hilft, ihre Stärken zu erkennen und diese zu entwickeln, aber auch dabei, Ängste abzubauen, Ziele zu definieren oder neue Perspektiven zu entdecken. Oft genügt allein schon die Tatsache, dass ihnen jemand zuhört und den Rücken stärkt. Diese „weichen Faktoren“ in der Mentoring-Beziehung sind oft sogar wichtiger als „harte Faktoren“ wie praktische Tipps zur Gründung – denn diese könnte ja genauso gut auch eine gewöhnliche Gründungsberaterin geben. Beim Mentoring-Programm geht es dagegen vor allem um den individuellen Austausch miteinander – auch mit uns vom Hildegardis-Verein und mit anderen Mentor:innen. Denn zu Beginn, in der Halbzeit und zum Abschluss des Programms findet jeweils ein zweitägiges Seminar statt, bei dem alle zusammenkommen. Das empfinden viele als sehr gewinnbringend.

Und welche positiven Effekte entstehen für die Mentor:innen?

Sie erfahren das Mentoring ebenfalls als Bereicherung, denn sie können ihren eigenen beruflichen Werdegang noch einmal reflektieren, ihre Beratungskompetenzen erweitern, andere Lebensentwürfe entdecken und ihr Netzwerk ausbauen. Frühere Mentor:innen sagen zum Beispiel, dass es besonders interessant für sie gewesen ist, Gedankenanstöße und Informationen zu bekommen, die sonst in ihrem Lebens- und Berufsalltag kaum eine Rolle spielen. Oder sie waren überrascht, wie viel sie einbringen konnten, gerade auch bei persönlichen Fragen. Eine sagte zum Beispiel, dass sie das in sie gesetzte Vertrauen als Geschenk erlebt hat.

Wie wurden die Mentees ausgewählt und was macht sie aus?

Wir haben das Mentoring über viele verschiedene Kanäle ausgeschrieben, unter anderem über Hochschulen, Selbsthilfeorganisationen, Partnernetzwerke wie die Bundesagentur für Arbeit, über Fachmedien, aber auch über Influencer:innen in den sozialen Medien. Die Mehrzahl unserer Mentees ist weiblich, das Alter variiert zwischen Anfang 20 und Mitte 50. Viele möchten sich in den Bereichen Inklusive Dienstleistungen, Gesundheitsmanagement oder Coaching selbständig machen. Wir haben aber auch sehr interessante „Ausreißerinnen“ dabei, zum Beispiel eine promovierte Sozialpädagogin Anfang 30, die mit Rollstuhl lebt und eine barrierefreie Pension eröffnen möchte. Die Geschäftsideen sind breit gefächert. Sie reichen von einem Assistenzdienst, einer Wirtschaftsberatung oder einem Co-Working-Space für Menschen mit Behinderung über die freischaffende Arbeit als 3D-Künstler bis hin zu einer Fußpflege-Praxis. Viele der Mentees empfinden die Selbständigkeit als letzte Möglichkeit, eine Arbeit zu haben, weil sie bis dahin keine Anstellung finden konnten, die zu ihnen passte. Ein Großteil möchte sich daher selbst einen Arbeitsplatz schaffen, der es ihnen ermöglicht, ihre Fähigkeiten zu entfalten. Hinter diesem Wunsch verbirgt sich also ein oft jahrelanger Prozess des Scheiterns in einem wenig flexiblen System.

Wie stellen Sie sicher, dass das Mentoring-Programm für die Teilnehmerinnen gut zugänglich, also barrierefrei und inklusiv ist?

Wir gestalten die Veranstaltungen, die wir anbieten, möglichst ohne Hürden, und zwar sowohl vor Ort als auch in den Videokonferenzen. Dazu stellen wir vorab schriftliche Materialien zur Verfügung, die für Screenreader geeignet sind, oder liefern ausführliche Bildbeschreibungen für Menschen mit Sehbehinderungen. Für Menschen mit Hörbehinderungen sind außerdem Schrift- und/oder Gebärdensprachdolmetscher:innen dabei – oder wir stellen Induktionsschleifen bereit. Die Räume vor Ort sind bei allen Veranstaltungen barrierefrei zugänglich. Bei all dem helfen uns unsere langjährigen Erfahrungen aus anderen inklusiven Projekten, die der Hildegardis-Verein seit mehr als 15 Jahren anbietet.

Wie oft treffen sich die Mentorinnen und Mentees und über welchen Zeitraum? Wie viel Zeit muss eine Mentorin also für das Projekt mitbringen?

Das ist jeweils sehr unterschiedlich. Die gemeinsame Arbeit im Tandem findet digital statt, idealerweise einmal im Monat für eine bis eineinhalb Stunden. Manche Tandems treffen sich aber auch häufiger, je nach Bedarf der Mentees und den Möglichkeiten der Mentor:innen. Letztere sind außerdem oft auch abseits der Treffen sehr aktiv, schauen sich zum Beispiel Business-Pläne an, vermitteln Kontakte oder sehen Unterlagen für die Mentees durch.

Wie werden die Themen und Ziele für das Mentoring vereinbart?

Die Ausgangssituationen der Mentees sind auch wieder sehr verschieden. Deswegen geben sie die Themen und Ziele individuell vor und vereinbaren zusammen mit den Mentor:innen die Reihenfolge, in der diese besprochen werden sollen. Dabei geht es zum Beispiel um Business- oder Finanz-Pläne, aber auch um die Frage: Soll ich mich überhaupt selbständig machen? Und, wenn ja, mit was für einer Gründungsidee? Natürlich machen die Mentor:innen auch selbst Vorschläge und weisen darauf hin, welche Punkte im Gründungsprozess aus ihrer Sicht wichtig sind. Das ist das Schöne am Mentoring: Der Austausch ist sehr dynamisch, offen und individuell, es gibt also kein starres Raster. In unserem Mentoring-Handbuch geben wir als Ergänzung aber auch einige Tipps, wie die Arbeit im Tandem besonders gut funktionieren kann.

Was geschieht, wenn ein Konflikt oder Problem innerhalb der Mentoring-Beziehungen auftritt?

Wenn sich Fragen oder Probleme ergeben, können sich die Teilnehmerinnen bei uns in der Geschäftsstelle melden. Wir versuchen dann, zu helfen. Wenn das nicht ausreicht, können die Mentees und Mentor:innen online eine Supervision machen – entweder allein oder im Tandem.  Wenn auch das nicht weiterhilft, wird die Mentoring-Beziehung notfalls aufgelöst, und wir versuchen, neue Tandems zu bilden. Denn das ist meist sinnvoller, als ein Tandem weiter bestehen zu lassen, in dem es dauerhaft knirscht.

Wie geht es in Zukunft mit Ihrem Projekt weiter?

Für das Mentoring sind zwei Durchgänge geplant. Eine Verlängerung dieser Laufzeit ist seitens des Ministeriums, das das Projekt finanziert, leider nicht vorgesehen. Der Hildegardis-Verein ist aber jetzt schon dabei, weitere Projekte zum Thema Inklusion zu entwerfen. Wir denken unter anderem an ein Mentoring für Menschen mit psychischen Behinderungen und an ein so genanntes Reverse-Mentoring, bei dem umgekehrt Menschen mit Behinderungen Menschen ohne Behinderungen beraten und begleiten. —




Ein Pilotprojekt für Autor:innen mit Lernschwierigkeiten: die „Literatur-Bootschaft“ des Vereins ‚Ohrenschmaus‘

Toni, warum haben Sie sich für die „Literatur-Bootschaft“ beworben?

Toni: Ich drücke mich gerne mit Worten aus und habe schon als Jugendlicher angefangen, zu schreiben. Im Deutschunterricht in der Schule haben wir uns aber eher mit Grammatik als mit Geschichten beschäftigt. Ich habe mich zwar damals und auch als Erwachsener in meiner Freizeit an meine Texte gesetzt, aber leider immer wieder den Faden verloren. Durch das Projekt habe ich jetzt die Unterstützung, die mir vorher gefehlt hat. Wir sind alle hier, um zu schreiben, und sprechen viel über unsere Texte. Das hilft sehr. Ich habe in den ersten Wochen schon zwei Kurzgeschichten fertig geschrieben.

In welchem Beruf haben Sie bisher gearbeitet?

Toni: Ich bin gelernter Einzelhandelskaufmann, konnte irgendwann aber aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in dem Beruf arbeiten. Ein paar Jahre lang habe ich Gelegenheitsjobs angenommen. Im vergangenen Winter habe ich dann eine Stelle als Rezeptionist in einem Hotel bekommen. Das hat mir Spaß gemacht, allerdings bin ich mit der 45-Stunden-Woche nicht so gut zurechtgekommen.

Wie sieht Ihr Tagesablauf in der „Literatur-Bootschaft“ aus?

Toni: Die beiden anderen Autor:innen, unsere Mentorinnen und ich treffen uns morgens auf dem Badeschiff am Donaukanal (Anm.: ein Veranstaltungsort mit Schwimmbad und Gastronomie, der von einem inklusiven Team betrieben wird). Unsere Mentorinnen stellen uns jeden Tag eine neue Gedicht- oder Textart vor und erklären, welche Regeln wir beim Schreiben beachten müssen. Wir probieren dann selbst aus, tragen unsere Entwürfe vor, besprechen sie mit den anderen und arbeiten anschließend daran weiter. Es ist eine Art interaktiver Unterricht.

Frau Figl, Sie leiten die „Literatur-Bootschaft“ und begleiten die Autor:innen als Mentorin, blicken also von der anderen Seite auf das Projekt. Wie unterstützen Sie die Teilnehmer:innen über den Unterricht hinaus?

Figl: Meine Kolleginnen und ich helfen den Schreibenden zum Beispiel dabei, ihren Arbeitsalltag zu organisieren. Es ist für die meisten ja sehr ungewohnt, so vieles selbst zu gestalten. Wir machen deshalb gemeinsam mit ihnen Wochenpläne, tragen am Ende der Woche die Arbeitsstunden ein und unterstützen sie dabei, Texte und andere Dateien nach einem sinnvollen System abzuspeichern. Wir sind drei Mentorinnen, jede von uns betreut bestimmte Unterrichtsmodule und begleitet jeweils eine Person im Projekt. In diesen Tandems besprechen wir einmal pro Woche, welche Ziele wir erreichen möchten und wie wir Mentorinnen dabei unterstützen können. Das Ganze ist im Moment noch relativ schulisch, das wird sich aber im Laufe der Zeit sicher verändern.

Die Teilnehmer:innen der „Literatur-Bootschaft“ sind im Verein für eineinhalb Jahre fest angestellt. Wie werden sie bezahlt?

Figl: Die Autor:innen arbeiten 20 Stunden pro Woche, das Gehalt richtet sich nach dem Fair Pay Schema für eine Assistenz im Kulturbereich.

Wie viele Autor:innen haben sich für das Projekt beworben?

Figl: Nach unserem ersten Aufruf war der Rücklauf erst einmal zögerlich. Wir haben nur vier Bewerbungen bekommen. Das hat uns selbst etwas überrascht, weil der Verein „Ohrenschmaus“ ja sehr etabliert und als einzige Anlaufstelle für Autor:innen mit Lernschwierigkeiten bekannt ist. Ein Grund könnte sein, dass manche Autor:innen, die wir schon von anderen „Ohrenschmaus“-Projekten kennen, in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeiten. Für die „Literatur-Bootschaft“ hätten sie die Werkstatt zumindest vorübergehend verlassen müssen – da gab es viele Unsicherheiten und Fragen. Wir haben versucht, viele davon zu beantworten, und noch einmal für das Projekt geworben. Am Ende konnten wir zehn Bewerbungen an unsere Jury weitergeben, zu der unter anderem Autorinnen und eine Journalistin gehören.

Nach welchen Kriterien hat die Jury die Teilnehmenden ausgewählt?

Figl: Es ist natürlich sehr schwierig, kreative Arbeit zu beurteilen und zu vergleichen. Die Expert:innen in der Jury haben Kriterien wie Fantasie, Textaufbau und den sprachlichen Ausdruck diskutiert. Ein Thema war außerdem, ob und wie stark wir die Konstellation der Projektgruppe mitbedenken wollen. Eine reine Männergruppe fänden wir zum Beispiel eher unglücklich. Jede Person in der Jury hat vor dem Hintergrund dieser Überlegungen drei Bewerbungstexte ausgesucht, in denen sie Potenzial gesehen hat. Dadurch sind vier Bewerber:innen in die engere Auswahl gekommen, die wir zum Gespräch eingeladen haben. Im Organisationsteam überlegen und besprechen wir nun erneut, wie wir das Auswahlverfahren in der nächsten Runde gestalten wollen. Das ist ein ständiger Lernprozess.

Der erste Projektzeitraum endet im Herbst 2024. Was möchten Sie bis dahin erreichen?

Figl: Wir haben das Projekt in drei Abschnitte von je einem halben Jahr aufgeteilt. Der erste hat im Mai begonnen. In dieser Phase ging es erst einmal darum, beim Schreiben Neues kennenzulernen und sich auszuprobieren. Im zweiten Abschnitt werden wir dieses Wissen und die neuen Fähigkeiten vertiefen. Im dritten Block schauen wir dann schon auf die Zeit nach dem Projekt: Welchen Berufsweg können sich die Teilnehmenden vorstellen? Was möchten sie gerne praktisch ausprobieren? Es gibt ja sehr viele Möglichkeiten für Autor:innen und Texter:innen. Sie könnten sich auf Praktikumsplätze bewerben oder auf Stellen in der Öffentlichkeitsarbeit bei Unternehmen. Oder sie schreiben Ausstellungstexte in einfacher Sprache für Museen. Vielleicht möchte jemand auch gerne Veranstaltungen moderieren oder im Kulturbereich Führungen anbieten. Wir helfen unseren Autor:innen bei der Orientierung und natürlich auch bei den Bewerbungen. Und wir hoffen, dass wir durch unser Projekt Autor:innen mit Lernschwierigkeiten im Laufe der Zeit sichtbarer machen und ihnen neue Türen öffnen.

Toni, noch einmal Ihre Sicht als Autor im Projekt: Was ist Ihr persönliches Ziel für die Zeit nach der „Literatur-Bootschaft“?

Toni: Mein Traum ist es, Drehbuchautor zu werden und auf diesem Weg Themen in die Welt zu bringen, die mir wichtig sind. Ich finde, die Gesellschaft wird immer introvertierter. Viele Menschen glauben, dass sie niemanden brauchen. Sie sind mit sich selbst zufrieden. Meiner Meinung nach stecken Enttäuschungen hinter dieser Haltung. Aber wenn man sich davor versteckt, zieht man sich ja auch von den positiven Dingen zurück. Deshalb sollte man besser lernen, mit Enttäuschungen umzugehen.

Warum möchten Sie Ihre Themen gern in Filmen und nicht mit Texten zeigen?

Toni: Filme haben eine große Reichweite und sprechen viele Menschen direkter an als Bücher. Außerdem schreiben Drehbuchautor:innen ja nicht allein und für sich, sondern arbeiten mit anderen Filmleuten zusammen. Das gefällt mir. —


Über unsere Interviewpartner:innen




Eine Anlaufstelle für alle Fragen: Die Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) für Menschen mit Behinderung

Frau Wagner, Frau Donat, wer kann sich an Ihre Beratungsstelle wenden und bei welchen Fragen können Sie helfen?

Wagner: Das Prinzip jeder EUTB ist ‚Eine für alle‘. Menschen mit Behinderung, ihre Angehörigen und Menschen, die ein erhöhtes Risiko für eine Behinderung haben – sie alle können mit sämtlichen Anliegen zu uns kommen. Am häufigsten beantworten wir Fragen zum Schwerbehindertenausweis, zur Inklusionsassistenz in der Schule, zu Wohnangeboten und zur Pflege. Wenn jemand wegen einer Erkrankung seinen Beruf nicht mehr ausüben kann oder Hilfsmittel beantragen möchte, um weiterarbeiten zu können, helfen wir auch gerne weiter.

Donat: Ich bin Peer-Beraterin für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Das heißt, ich bin selbst betroffen und berate auf der Grundlage meiner eigenen Erfahrungen. Ich helfe Menschen zum Beispiel dabei, nach einem Klinikaufenthalt den Übergang in ihren Alltag zu Hause gut zu gestalten und die Wartezeit bis zu einer ambulanten Therapie zu überbrücken. Oft erkläre ich ihnen dazu erst einmal die Hilfs- und Unterstützungsangebote im psychiatrischen Versorgungssystem, die viele Menschen ja gar nicht kennen. Wenn jemand längere Zeit krankgeschrieben war, muss außerdem geklärt werden, wie die Wiedereingliederung am Arbeitsplatz gelingen kann.

Wie lange begleiten Sie Ratsuchende?

Wagner: Solange es nötig ist. Manchmal übernehmen wir eher eine Lotsenfunktion, weil etwa der Integrationsfachdienst, das Inklusionsamt Arbeit oder die Reha-Abteilung der Arbeitsagentur konkreter beraten können. Auf Wunsch begleiten wir Menschen dann aber weiter und ergänzen die Arbeit der spezialisierten Anlaufstellen. Von einer Behinderung oder Erkrankung ist ja selten nur ein Lebensbereich betroffen. Wir haben einen Blick auf das Gesamtbild und können mit jeder Person immer wieder überlegen, wo sie noch Unterstützung und Infos braucht. Oft tauchen ja auch nach längerer Zeit wieder neue Fragen auf, wenn jemand in eine neue Lebensphase tritt.

Donat: Manchmal arbeiten wir auch sehr kleinschrittig. Wir unterstützen zum Beispiel erst einmal dabei, in einem einzelnen Lebensbereich Struktur zu schaffen, zum Beispiel eine gute gesundheitliche Versorgung sicherzustellen. Dann kommt der Beruf dran, dann die Freizeit. Das alles braucht Zeit.

Wie genau sieht diese kleinschrittige Arbeit aus?

Donat: Am Anfang lassen wir die Menschen erst einmal erzählen, wo sie stehen, was passiert ist und welche Probleme sie haben. Dann legen wir mit ihnen gemeinsam fest, was das langfristige Ziel der Beratung ist und welchen ersten kleinen Schritt wir in Angriff nehmen wollen. Die Ratsuchenden sollen ja einen Überblick bekommen, aber nach Möglichkeit auch schnell selbst etwas tun können. Das ist sehr wichtig für das Selbstwertgefühl. Meistens verteilen wir deshalb kleine Hausaufgaben, die beide Seiten bis zum nächsten Treffen erledigen sollen. Das können zum Beispiel Papiere sein, die die ratsuchende Person zusammenstellen oder eventuell erst besorgen muss. Die Beraterin erstellt währenddessen vielleicht eine Liste mit möglichen Therapeut:innen oder fragt nach, wo Plätze für ambulant begleitetes Wohnen frei sind. Manchmal müssen wir auch Dolmetscher:innen für eine Fremdsprache oder die Deutsche Gebärdensprache engagieren und Kontakt zu anderen Anlaufstellen aufnehmen.

Wagner: Wie die Aufgabenverteilung genau aussieht, ist aber sehr individuell. Grundsätzlich arbeiten wir nach dem sogenannten Empowerment-Ansatz. Das bedeutet, wir möchten Menschen befähigen, selbst zu handeln. Wenn sich jemand nach einem Unfall oder in einer anderen Extremsituation aber erst einmal fangen muss, übernehmen die Beraterinnen zu Beginn vieles für die ratsuchende Person, geben ihr also nicht gleich eine lange Liste mit Aufgaben. Andersherum kommen Menschen manchmal schon mit sehr konkreten Vorstellungen und möchten gerne mehr Dinge selbst tun. Das besprechen wir jeweils im Einzelfall.

Bieten Sie immer auch eine Peer-Beratung an, also Gespräche mit Berater:innen, die selbst eine Behinderung oder Erkrankung haben?

Wagner: In unserem Team haben alle hauptamtlichen Mitarbeiter:innen entweder selbst eine Behinderung oder Angehörige mit Behinderung, bringen also persönliche Erfahrungen mit dem Thema mit. Wir organisieren es so, dass immer die Beraterin eine neue Anfrage übernimmt, die als erste einen Termin frei hat. Sie ist dann fest für die ratsuchende Person zuständig. Darüber hinaus haben wir ehrenamtliche Mitarbeiter:innen, die jeweils zu ihren eigenen Erfahrungen beraten. Ein Kollege wird zum Beispiel rund um die Uhr durch eine Assistenz unterstützt. Er kommt auf Wunsch von Ratsuchenden dazu, wenn dieses Thema bei ihnen auftaucht, und bringt als Peer-Berater sein Wissen ein. Genauso haben wir auch Berater:innen mit Seh- oder Hörbehinderung und mit Lernschwierigkeiten.

Frau Donat, Sie sagten bereits, dass Sie Peer-Beraterin für Menschen mit psychischen Erkrankungen sind. Welche Vorteile hat das für die Menschen, die zu Ihnen kommen?

Donat: Die Ratsuchenden merken es, wenn ihre Beraterin schon einmal in einer ähnlichen Situation war und daher genau weiß, wie es ihnen gerade geht. Sie fassen schneller Vertrauen und können auf einer anderen Ebene mit mir sprechen. Da ich als hauptamtliche Mitarbeiterin fest in unserer Beratungsstelle angestellt bin, ist die Peer-Beratung für psychisch Erkrankte aber nur ein Teil meiner Arbeit. Ich berate auch Menschen, die mit anderen Anliegen zu uns kommen, genau wie meine Kolleginnen. Bei Bedarf hole ich eine weitere Peer-Person dazu.

Warum haben Sie sich entschieden, als Peer-Beraterin zu arbeiten?

Donat: Ich habe in meinem früheren Beruf gearbeitet, bis ich durch ein schweres Trauma eine psychische Erkrankung bekam. Es hat mehrere Jahre gedauert, bis ich mich davon erholt hatte. Damals bin ich durch einen Zufall auf die „Qualifikation zur Genesungsbegleiterin“ gestoßen, eine zwölfmonatige Weiterbildung, die unter anderem in Bielefeld-Bethel angeboten wird. Menschen mit Psychiatrieerfahrung werden damit vorbereitet, andere Menschen mit psychischen Erkrankungen zu begleiten und zu unterstützen, also sozusagen als Bindeglied zwischen den Betroffenen und professionellen Helfer:innen aufzutreten. Nachdem ich diese Weiterbildung abgeschlossen hatte, bekam ich hier in Lippe einen Minijob als Peer-Beraterin. Das ist genau das Richtige für mich. Ich kann so wieder am Arbeitsleben teilnehmen und mit all dem, was ich erlebt habe, anderen Menschen helfen. Es ist so ein Glücksgefühl, wenn jemand in der Beratung Mut fasst und wieder lächelt!

Wieder an Sie beide: Können Sie von Beratungen mit solchen positiven Entwicklungen erzählen?

Wagner: Ich berate zurzeit viele Menschen mit Fluchthintergrund, die eine Behinderung oder Angehörige mit Behinderung haben. Diese Menschen sind gerade erst in unserer Region angekommen und wissen nicht, wo sie überhaupt Unterstützung bekommen können. Ich helfe ihnen dabei, die nötigen Anträge auszufüllen. Das ist für sie ein wichtiger Schritt zu gesellschaftlicher Teilhabe. Ich glaube, dass ich da viel bewirken kann.

Donat: Ich habe einmal eine Frau beraten, die selbst eine psychische Erkrankung hat und gleichzeitig auch als Angehörige betroffen ist. Ihr Mann war damals in einer psychiatrischen Klinik und verbrachte nur die Wochenenden zuhause. Kurz vor dem Ende seines Klinikaufenthalts hatte die Frau unglaubliche Angst davor, dass sie es zu Hause nicht schaffen würden. Wir haben in der Beratung herausgearbeitet, warum sie diese Sorgen hat, und dann auch ihren Ehemann mit ins Boot geholt. Später erzählten mir die beiden, dass diese Gespräche sehr viel Druck von ihnen genommen und Klarheit geschaffen haben. Als der Mann aus der Klinik entlassen wurde, hatten sie kaum Probleme, inzwischen arbeiten beide wieder. Darüber freue ich mich sehr. —


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„Eine der größten Hürden für Kreative mit Behinderung ist der fehlende Zugang zu künstlerischer Bildung“

Frau Müller-Giannetti, wie inklusiv ist die Kunst- und Kulturbranche schon?

In den letzten fünf Jahren ist viel in Bewegung gekommen. Die Branche hat ein starkes Bewusstsein dafür entwickelt, dass etwas passieren muss. Aber diese Veränderungen stehen noch am Anfang und viele Verantwortliche sind unsicher, wie Inklusion in der künstlerischen Arbeit aussehen kann und muss.

EUCREA will diese Lücke schließen und engagiert sich für mehr Vielfalt in der Kunst. Was bedeutet das genau?

Zum einen unterstützen wir Künstler:innen mit Behinderung dabei, ihre Ideen umzusetzen und neue Impulse einzubringen. Dazu organisieren wir regelmäßig inklusive Projekte wie das „Democratic Bootcamp“ im vergangenen Jahr, bei dem Künstler:innen mit und ohne Lernschwierigkeiten gemeinsam eine große Show entwickelt haben. Sowohl das Handlungskonzept als auch die Dramaturgie, die Ausstattung und am Ende die Umsetzung haben inklusive Teams gestaltet. Bei dem Projekt ging es um demokratische Strukturen im künstlerischen Bereich. Und – wie bei all unseren Projekten – darum, Künstler:innen mit Behinderung sichtbar und hörbar zu machen.
Neben solchen Produktionen beschäftigen wir uns bei EUCREA auch mit den Strukturen in der Branche. Wir versuchen, grundsätzliche Veränderungen anzustoßen.

Mit welchen Mitteln versuchen Sie, die Strukturen aufzubrechen?

Wir richten Fachtagungen aus und machen viel Öffentlichkeitsarbeit. Seit ein paar Jahren sind wir außerdem politischer geworden und mischen uns mit Positionspapieren in öffentliche Debatten ein. Die Branche muss sich verändern, die künstlerische Ausbildung und der Arbeitsmarkt müssen sich öffnen. Und das beginnt gerade.

Woran merken Sie, dass sich etwas bewegt?

Bei unserem Programm ARTplus arbeiten wir mit vielen verschiedenen Hochschulen zusammen, an denen Menschen mit Behinderung eine künstlerische Ausbildung absolvieren. Unser Ziel ist es, junge Kreative zu fördern, die später beruflich tanzen, schauspielern, Musik machen oder in der bildenden Kunst ihren Weg machen wollen. Gleichzeitig möchten wir herausfinden, was sich an den Akademien und Unis strukturell verändern muss, damit mehr Teilhabe möglich wird. Als wir das Programm vor ein paar Jahren geplant haben, mussten wir noch richtig „Klinken putzen“, um Hochschulen dafür zu gewinnen. Die Verantwortlichen fanden das Thema zwar schon irgendwie gut, aber es hatte für sie keine Priorität. Viele hatten einfach noch nicht auf dem Schirm, dass der Kulturbetrieb viel diverser werden muss. Inzwischen melden sich Hochschulen sogar von sich aus bei uns und wir haben auch große, öffentliche Unis dabei, was eine gute Außenwirkung hat und so andere nachzieht.

Welche Barrieren für Kreative mit Behinderung sehen Sie an den Hochschulen?

Eine der größten Hürden ist es, überhaupt Zugang zur künstlerischen Bildung zu bekommen. In der Regel können Bewerber:innen an den Hochschulen zwar jetzt schon eine Begabtenprüfung ablegen, um auch ohne Abitur einen Studienplatz zu bekommen. Für viele Menschen mit Behinderungen ist der Weg bis zu dieser Aufnahmeprüfung aber sehr weit. Sie trauen sie sich oft nicht zu oder verfügen nicht über die entsprechende Vorbildung, weil sie als Kinder und Jugendliche künstlerisch weniger gefördert wurden als Gleichaltrige ohne Behinderung. In einzelnen Künsten, zum Beispiel im darstellenden Bereich, sind Menschen mit physischen, sichtbaren Behinderungen für das Genre noch neu.

Neue Regeln für den Zugang zu künstlerischen Studiengängen reichen also nicht aus?

Ich würde viel früher ansetzen. Viele junge Menschen mit Behinderung sind schon seit mehreren Jahren nicht mehr zur Schule gegangen, wenn sie 18 oder 19 Jahre alt sind, also zu dem Zeitpunkt, an dem sie sich eigentlich an einer Hochschule bewerben müssten. Stattdessen haben sie einen anderen Weg eingeschlagen, waren zum Beispiel in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Es ist dann eine riesige Hürde für sie, wieder ins Bildungssystem einzusteigen. Und wenn es ihnen gelingt, starten sie trotzdem unter schlechteren Voraussetzungen als diejenigen, die das Abitur oder die Fachhochschulreife haben.

Haben Sie einen Vorschlag, wie der Zugang barriereärmer gestaltet werden könnte?

Das deutsche Schulsystem ist sehr stark darauf ausgerichtet, dass bestimmte Abschlüsse erreicht werden müssen. Ich würde mir wünschen, dass es sich davon etwas löst und es künftig stattdessen darum geht, jungen Menschen so lange wie möglich den Zugang zu Bildung offenzuhalten.

Das Schulsystem wird sich aber sicher nicht so bald ändern.

Nein, und genau hier setzen wir mit ARTplus an. Wir möchten diese Lücke gemeinsam mit den Hochschulen schließen. Die Unis können Kurse anbieten, mit denen sich junge Menschen auf die Aufnahmeprüfung und das Studium vorbereiten können. Diese Kurse vermitteln künstlerische Bildung, aber auch, wie Studieren funktioniert.

Könnte das auch anderen Menschen helfen? Zum Beispiel solchen, die nicht aus Akademikerfamilien stammen und deshalb weniger über darüber wissen, wie die Abläufe in höheren Bildungseinrichtungen sind?

Ganz sicher, das wäre für viele ein Gewinn. Für mich ist genau das der Grundgedanke von Inklusion: Dass wir gesellschaftliches Potenzial nicht dadurch verschenken, dass wir Menschen von vornherein ausschließen.

Bei ARTplus geht es auch darum, wie das Studium als solches inklusiver werden könnte. Welche Antworten haben Sie auf diese Frage schon gefunden?

Neben barrierefreier Infrastruktur geht es um die Willkommenskultur der Hochschulen und den Zugang zur Aufnahmeprüfung. Darüber hinaus müssen die Hochschulen hinsichtlich Leistungsnachweisen und Prüfungen neue Formen des Nachteilsausgleichs entwickeln. Inklusive Lehrformate, die für mehr Menschen zugänglich sind, sind ein weiteres Thema. Und manche Studierende mit Behinderung brauchen einen barrierearmen Zugang zu staatlich finanzierten Assistenzleistungen.

Das klingt nach viel Arbeit.

Ja, vor allem anfangs müssen wir Zeit investieren und uns viele Gedanken machen. Aber ich bin überzeugt davon, dass es nach dieser Startphase, in der viel umgestellt und eine Infrastruktur entwickelt werden muss, im weiteren Betrieb ohne zusätzlichen Aufwand laufen kann. Und ich glaube, dass wir mit ARTplus viel erarbeiten können, was sich später auch auf andere Fachbereiche übertragen lässt. In der Kunst gibt es viele Möglichkeiten, Dinge auszuprobieren, und die meisten Dozent:innen und Studierenden sind offen für Neues. Wir können zeigen, was alles möglich ist.

Wie geht es für die jungen Künstler:innen nach dem Studium weiter?

Wir von EUCREA bemühen uns darum, Türen für mehr Inklusion zu öffnen. Viele Verantwortliche in Kulturbetrieben sind aber auch schon von sich aus interessiert und brauchen eher praktische Unterstützung. Ein Thema ist zum Beispiel die Auffindbarkeit. Manche Filmschaffende möchten gerne Schauspieler:innen mit Behinderung engagieren, haben aber noch gar keine passenden Kontakte. Wir haben deshalb mit dem internationalen Portal „Filmmakers“ zusammengearbeitet, in dem Darsteller:innen sich mit einem Foto und ihrem Profil präsentieren können. Die Betreiber:innen haben auf unseren Vorschlag hin die Funktion ergänzt, mit der auch eine Behinderung angegeben werden kann, die dann in der Suche auftaucht beziehungsweise nach der Filmproduzent:innen und Castingagenturen filtern können. Die Nachfrage ist ja da – und solche kleinen Stellschrauben können helfen, Chancen zu eröffnen.






Einheitliche Ansprechstellen für Arbeitgeber (EAA): Ein kostenloses Beratungsangebot für Unternehmen, die Menschen mit Behinderung beschäftigen möchten

Frau Zumbrock und Herr Münch, Sie beraten und unterstützen Arbeitgeber:innen in den neuen Einheitlichen Ansprechstellen. Was können Sie für Unternehmen in dieser Position tun?

Christian Münch: Wenn ein Betrieb einen Menschen mit Schwerbehinderung einstellen, ausbilden oder weiterbeschäftigen möchte, helfen wir bei allen Fragen dazu weiter. Wir haben zwar nicht selbst alle Antworten, aber wir kennen die richtigen Ansprechpersonen und vermitteln dann. Deshalb werden wir und unsere Kolleg:innen in den anderen EAA auch als Lotsinnen und Lotsen bezeichnet. Das Hilfesystem mit den vielen verschiedenen Trägern und Institutionen ist ja sehr komplex – wir lotsen Unternehmen daher zu der für sie passenden Lösung und Unterstützung.

Ursula Zumbrock: Wir gehen dabei sehr pragmatisch vor und bringen viel Verständnis für die Arbeitgeber:innen mit. Für ihre Fragen und Anliegen, vielleicht aber auch ihre Sorgen, weil sie sich einfach noch nicht so gut auskennen. Wir überlegen gemeinsam mit ihnen, was in ihrem Unternehmen möglich ist, für welche Aufgaben sie neue Arbeitskräfte brauchen und wie wir unterstützen können.

Können sich auch Unternehmen bei Ihnen melden, die noch gar nicht genau wissen, ob sie einen inklusiven Arbeitsplatz einrichten möchten?

Münch: Natürlich, solche Anfragen bekommen wir oft. Ich habe neulich ein Industrieunternehmen besucht, das wegen des Fachkräftemangels Schwierigkeiten hatte, Stellen zu besetzen. Die Geschäftsführung wollte deshalb den Betrieb anders organisieren und fragte mich um Rat. Bei einem Rundgang durch das Unternehmen fiel mir auf, dass im Lager eine ausgebildete Fachkraft damit beschäftigt war, Material umzupacken. Hier gäbe es die Möglichkeit, einen Mitarbeiter mit Behinderung einzusetzen, der möglicherweise keine Fachausbildung hat, was für diese Aufgabe aber auch nicht nötig ist. Die Fachkraft wiederum hätte dann mehr Zeit für andere Tätigkeiten.
Der Betrieb suchte außerdem eine:n Auszubildende:n für Lagerlogistik. Auch hier gäbe es die Möglichkeit, einen inklusiven Arbeitsplatz zu schaffen. Am Ende des Rundgangs hatten wir vier oder fünf Stellen im Betrieb gefunden, an denen wir ansetzen können.

Sie schauen sich also auch die Bedingungen vor Ort an?

Zumbrock: Ja, das machen wir sogar oft. Ein solcher Rundgang ist sehr sinnvoll, weil wir von außen in einen Betrieb hineinkommen und einen ganz frischen Blick auf alle Arbeitsplätze und Abläufe haben. Mir fallen dabei oft gleich mehrere Kontakte ein, die ich ansprechen könnte, damit diese für einen bestimmten Aufgabenbereich passende Bewerber:innen vermitteln.

Was brauchen Arbeitgeber:innen, um neue inklusive Arbeitsplätze zu schaffen?

Münch: Meiner Erfahrung nach ist es wichtig, dass wir nach der Beratung direkt die richtigen Kontakte herstellen können. Die Unternehmen wollen ja gern schnell anfangen, sobald wir ihnen die Möglichkeiten aufgezeigt haben. Bevor ich einen Vorschlag mache, frage ich mich deshalb immer: Habe ich Kontakte in meinem Netzwerk, die ich dem Betrieb gleich morgen nennen kann?

Wie geht es weiter, wenn Unternehmen und Bewerber:innen zusammengefunden haben?

Zumbrock: Oft unterstützen wir dann dabei, den neuen Arbeitsplatz behinderungsgerecht auszustatten oder andere Hilfen zu bekommen. Wir vermitteln an die zuständigen Träger weiter, helfen aber auf Wunsch auch, die nötigen Anträge auszufüllen. Wie lange und wie viel wir unterstützen, ist sehr unterschiedlich. Manchmal ist es sehr komplex, weil wir selbst erst einmal klären müssen, welche Träger wir überhaupt einbeziehen müssen. Manchmal reicht auch ein einziger Kontakt, damit es danach gut ohne uns weitergehen kann. Auf jeden Fall begleiten wir jedes Unternehmen so lange, wie es Unterstützung braucht.

Viele Unternehmen kennen Ihr Angebot wahrscheinlich noch gar nicht. Was tun sie, um die EAA bekannter zu machen?

Münch: Wir versuchen das auf ganz verschiedenen Wegen. Wir machen hier in der Region viel allgemeine Öffentlichkeitsarbeit, also zum Beispiel in den sozialen Medien und mit Flyern. Die Berufskammern, bei denen in Nordrhein-Westfalen auch EAA angesiedelt sind, informieren ihre Mitglieder über Newsletter und Magazine.

Gehen Sie auch direkt auf einzelne Unternehmen zu?

Zumbrock: Ja, wir sind auf vielen Veranstaltungen unterwegs, wo wir Arbeitgeber:innen aus verschiedenen Branchen treffen, zum Beispiel bei Unternehmerfrühstücken oder Fachtagungen. Meistens geht es bei diesen Veranstaltungen nicht vorwiegend um Inklusion, sondern um andere Themen. Wir stellen uns den Teilnehmer:innen dort dann trotzdem kurz vor. Oft ergibt sich es sich später, dass wir mit einzelnen Unternehmer:innen direkt ins Gespräch kommen. Neulich habe ich eine Ausbildungsmesse besucht und dort viele Betriebe angesprochen. Ein paar Tage später meldete sich ein Unternehmer bei mir: Er hatte für eine Stelle einen passenden Bewerber mit Behinderung, wusste aber nicht, wie er nun finanzielle Unterstützung für den behinderungsgerechten Arbeitsplatz bekommen konnte. Inzwischen konnten wir schon alles für seinen neuen Mitarbeiter klären.

Wie hat sich Ihre eigene Arbeit durch die EAA verändert?  

Zumbrock: Ich lerne gerade einen neuen Blickwinkel kennen. In den vergangenen 20 Jahren war ich beim Integrationsfachdienst in der Reha-Vermittlung tätig, meine Arbeit ging immer von Menschen mit Behinderung aus, die ich beraten habe. Jetzt geht es um die Perspektive der Arbeitgeber:innen. Für mich ist diese Aufgabe also durchaus neu, auch wenn ich das Hilfesystem schon sehr gut von der anderen Seite kenne und gut vernetzt bin. Und: Von meiner Arbeit profitiert jetzt im besten Fall nicht nur eine bestimmte Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter, sondern das ganze Team innerhalb eines Betriebs. Denn mit einem inklusiven Arbeitsplatz ändert sich ja oft auch die Unternehmenskultur.

Münch: Ich arbeite seit zehn Jahren als Inklusionsberater bei der Industrie- und Handelskammer, meine Aufgaben jetzt ähneln also denen auf meiner alten Position sehr. Für mich ist es aber ein großer Gewinn, dass wir uns unter den Kolleg:innen noch mehr austauschen. In einigen EAA hier in Westfalen sind auch ganz neue Berater:innen dabei. Dadurch bekomme ich neue Impulse für meine Arbeit.

Hat sich Ihrer Beobachtung nach bei den Unternehmen in den vergangenen zehn Jahren etwas verändert?

Münch: Eigentlich beantworte ich nach wie vor ähnliche Fragen wie in der Anfangszeit. Aber ich stelle fest und höre es auch von Kolleg:innen, dass viele Unternehmen offener werden. Das liegt sicher auch am Fachkräftemangel und dem demografischen Wandel. Viele Arbeitgeber:innen sehen, dass Menschen mit Behinderung Teil der Lösung für die Personalprobleme in ihren Betrieben sein könnten. Und manche fragen uns heute aktiv um Rat, weil sie gezielt Menschen mit Behinderung für offene Stellen suchen – das gab es vor zehn Jahren noch nicht. —


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