Einfach machen und durch

Alexa Berndt packt an. „Wenn Tüten gepackt werden, dann bin ich da“, beschreibt die Münsteranerin ihren Job. „Wenn Tüten getackert werden, dann bin ich an der Tacker-Maschine. Auch, wenn bei der Montage jemand fehlt, bin ich da.“ Mit einem Wort: Die 37-Jährige arbeitet bei der Varia GmbH „überall“, sie rollt an jeden Arbeitsplatz, wenn dort ein Job zu erledigen ist.

„Ich weiß gar nicht, wie die hier ohne mich klarkamen“, lacht sie. Seit gut zwei Jahren pendelt Alexa Berndt in ihrem Rollstuhl zwischen Büro und Montagehalle der Varia GmbH hin und her. Sie verteilt Arbeitsaufträge an die Kollegen, bei den meisten davon geht es um Fahrrad-Gepäckträger, die Varia in Münsters Norden für die Tubus Carrier System GmbH montiert. Ein edles Produkt, sehr leicht und belastbar, so dass es „auch extreme Torturen nicht krumm nimmt“, wie es in der Werbung heißt. Varia ist ein Tochterbetrieb der Stift Tilbeck GmbH aus Havixbeck, die in den dortigen Baumbergen die ‚Tilbecker Werkstätten‘ betreibt. Die Firma selbst ist ein Integrationsunternehmen, das unter anderem vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe unterstützt wird und ein Team aus behinderten und nicht-behinderten Mitarbeitern beschäftigt.

Tubus als Auftraggeber von Varia ist gleich auf der anderen Straßenseite angesiedelt. Das Unternehmen, das seit zwei Jahrzehnten hochwertige Fahrradgepäckträger-Systeme herstellt und weltweit als führender Hersteller auf diesem Markt gilt, ist von sich überzeugt – und gibt deshalb auch 30 Jahre Garantie auf die Träger. „Wir montieren hier bei Varia 3000 bis 4000 Gepäckträger in der Woche für Tubus. Ich hab’s selber nicht geglaubt, als ich diese Zahl gelesen habe“, sagt Alexa Berndt. Tubus-Chef Peter Ronge und sein Team verlassen sich ganz auf Varia und darauf, dass die Mitarbeiter dort die Gepäckträger sorgfältig zusammensetzen, sie etwa mit einer Federklappe versehen, ein Namensschild darauf kleben und die Rücklichter einbauen. Erst diese Endmontage des Produkts, die hier erledigt wird, verwandelt die Ware in die vom Kunden bestellten Varianten. Die Einzelteile dafür werden in China hergestellt.

Vor 15 Jahren hatte Alexa Berndt Glück im Unglück. Sie überlebte damals einen schweren Autounfall, bei dem ihr damaliger Freund am Steuer saß. Seither ist sie querschnittsgelähmt und lebt mit Rollstuhl. „Wir sind richtig in den Graben rein und haben uns überschlagen. Ihm ist nichts passiert.“ Sie bemüht sich, nüchtern zu klingen, als sie weiter erzählt, dass ihr damaliger Freund sie nach dem Unfall verlassen hat. Er war nicht der Einzige: „Von meinen besten Freunden von damals sind mir nur zwei geblieben“, sagt sie bitter.

Umschulung zur Bürokauffrau

Bevor ihr das passiert ist, hatte sie kaum bis keinen Kontakt zu Menschen mit Behinderung, erzählt sie. „Die eigene Weltsicht ändert sich nach so einer Veränderung aber ganz schlagartig, man sieht alles ganz anders. Zum Beispiel sieht man jede Bordsteinkante, denn das ist immer ein potentielles Hindernis. Ich habe früher, vor meinem Unfall, selbst ab und zu auf einem Behindertenparkplatz geparkt. Deshalb rege ich mich heute auch nicht so sehr auf, wenn einer ohne Behinderung darauf steht. Ich kenne beide Seiten,“ sagt sie. Damals musste sie trotzdem mit erleben, wie Freunde sagten: Die kann keine Party mehr machen, die kann nirgendwo mehr mit hin. Heute kämpft Alexa Brandt gegen diese Sichtweise. „Natürlich kann man auch mit einer Behinderung ganz viel machen!“ Zum Beispiel im Beruf eine Umschulung zur Bürokauffrau, so wie sie: „Einfach machen und durch“, sagt sie heute. Bis vor kurzem hat sie sogar noch fünf Stunden mehr bei Varia gearbeitet als jetzt. Inzwischen braucht ihr achtjähriger Sohn sie mehr zu Hause, denn er geht nun in die dritte Schulklasse. „Jetzt wird’s ernst!“, lacht die 37-Jährige, denn sie muss den Jungen jetzt regelmäßig bei den Hausaufgaben unterstützen.

Alexa Berndt hat ihr Leben und ihre Arbeit mit der Behinderung gut organisiert. Sie wohnt zusammen mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn mitten in der Stadt im Haus ihrer Oma, in der dritten Etage, unterhalb der Wohnung ihr die Eltern. Das Haus wurde mit einem Aufzug ausgestattet, so dass die 37-Jährige sich frei bewegen kann. Morgens um kurz nach 8 Uhr rollt sie mit ihren Auto bei Varia vor, holt den Rolli aus dem Wagen – und der Arbeitstag kann starten. Sie freut sich täglich, dass sie mit Varia-Betriebsleiter Martin Arning so gut zusammenarbeiten kann. Vorher hat sie in einer Großwäscherei in der Verwaltung gearbeitet, über das Internet fand sie den neuen Job bei Varia. „Ich fühlte mich hier gleich wohl und bin sehr froh, dass ich diesen Schritt gewagt habe.“

Alexa Berndt und Varia-Betriebsleiter Martin Arning sitzen nebeneinander und lächeln in die Kamera.
Die gelernte Bürokauffrau Alexa Berndt freut sich über die Zusammenarbeit mit Varia-Betriebsleiter Martin Arning. Foto: Thorsten Arendt

In der Varia GmbH hat Alexa Berndt zehn Kollegen, zählt Martin Arning auf, davon haben sieben eine Behinderung. Zusammen mit weiteren Kollegen arbeiten sie in der Endmontage, wo sie 84 verschiedene Gepäckträger-Modelle zusammenbauen. An einer scheinbar endlos langen Hallenwand hängen alle Modelle – eine beeindruckende Vielfalt. Bis 2008 fand die Endmontage noch in Tilbeck statt: „Dort haben wir die ersten Träger montiert. Danach hat sich das so langsam aufgebaut,“ erklärt der Betriebsleiter. Heute pendeln Werkstattmitarbeiter nach Münster zu Varia, um dort zu arbeiten. Diese räumliche Nähe zwischen Auftraggeber und Dienstleister hat zugleich viele logistische Probleme gelöst: Es gibt heute gemeinsame Teams von Varia- und Tubus-Mitarbeitern. „Das geht nahtlos ineinander über, da sind wir ganz flexibel.“ So wie Alexa Berndt, die schlagfertig sagt: „Ich hab hier ‚All-in‘ gebucht, im Büro und in der Produktion. Das war die Einstellungsbedingung: Du darfst überall arbeiten, du bist die Frau für alles.“




Inklusion im ältesten Haus Wiedenbrücks

Kuchen verkaufen: Das macht Ann-Sophie Bathe am liebsten. „Heute haben wir Käsekuchen, Apfelkuchen, Kirsch-Krokant und Mandarine-Maracuja“, zählt sie auf. Die zierliche junge Frau mit der roten Schürze steht hier entweder hinter der Kuchentheke oder bringt den Gästen Kaffee an den Tisch. Zwischendurch verpackt sie kleine Nussecken für den Verkauf und verschließt die durchsichtigen Tütchen sorgfältig mit roten Schleifen.

Die 28-Jährige ist eine von sieben Mitarbeitern mit Behinderung im Inklusionsunternehmen Café Anker Villa in Rheda-Wiedenbrück. Sie hat starke Lernschwierigkeiten, vor allem Mathematik ist ihr immer schwergefallen. Deshalb hat sie mit Zahlen ihre Probleme, Abläufe und Daten kann sie sich ebenfalls schlecht merken. Doch ihr größtes Handicap, sagt die junge Frau, ist ihre Schüchternheit. „Ich bin manchmal sehr unsicher und ich traue mich viele Sachen nicht“, erzählt sie. „Am liebsten würde ich mich dann in mein Schneckenhaus zurückziehen.“

„So, wie ich bin“

Nach der Schule machte Ann-Sophie Bathe eine Ausbildung zur Restaurant-Fachgehilfin im Hotel Aspethera in Paderborn, das wie die Anker Villa ein Inklusionsbetrieb ist. Für den neuen Job zog die gebürtige Soesterin nach Rheda-Wiedenbrück, wo sie heute zwanzig Stunden pro Woche arbeitet. Ihre Wohnung liegt zwei Kilometer vom Café entfernt, den Weg fährt sie jeden Tag mit dem Fahrrad.

Die Stelle war ein Glücksfall, findet die 28-Jährige: „Meine Kollegen nehmen mich so an, wie ich bin. Und wenn mal was schiefgeht, geht es eben schief.“ Vor allem, wenn es im Café voll wird, meldet sich die Unsicherheit – dann braucht Ann-Sophie Bathe auch mal eine Pause. „Die Kollegen hier respektieren das aber und helfen, solche Stresssituationen zu überbrücken“, sagt ihre Chefin Wiltrud Schnitker, die zugleich feststellt, dass sich ihre neue Mitarbeiterin mit der Zeit sehr entwickelt hat: „Sie wird immer mutiger und selbständiger.“

Inklusionsbetrieb seit 2009

Der Weg zum Inklusionsunternehmen war für die 53-Jährige nicht von Anfang vorgezeichnet. Vor 19 Jahren eröffnete sie das Café in der Anker Villa, dem ältesten Gebäude in der Stadt, gemeinsam mit ihrem Mann, der 2008 schwer erkrankte und zwei Jahre später starb. „Die Arbeit war allein einfach nicht mehr zu schaffen“, sagt Wiltrud Schnitker. Sie hatte damals Glück im Unglück: Die Evangelische Stiftung Ummeln in Bielefeld, die sich seit den siebziger Jahren in der Behindertenhilfe engagiert, übernahm das Gebäude und das Café. 2009 fiel die Entscheidung, den Betrieb als Inklusionsunternehmen neu zu gründen – mit Wiltrud Schnitker als Leiterin.

Ann-Sophie Bathe geht schnell mit einem Tablett durchs Café.
Auch hektische Situationen meistert Ann-Sophie Bathe gut. Foto: LWL/Arendt

Den Grund für diese Übernahme erklärt Lisa Kübler, die seit Anfang 2010 für die Stiftung als Projektmanagerin des Cafés arbeitet, so: „Neben unseren Werkstätten wollten wir für Menschen mit Behinderung auch Arbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.“ Ein Traumjob für die 32-Jährige, die nach ihrer Ausbildung zur Erzieherin ein Sozialmanagement-Studium absolviert hat. „Es macht Spaß, zu sehen, wie zufrieden Ann-Sophie und die Kollegen hier sind“, erzählt sie. Kübler stellte beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe, beim Land Nordrhein-Westfalen, bei der Aktion Mensch und der Stiftung Wohlfahrtspflege die Förderanträge für den Umbau der Anker Villa. Jetzt kümmert sie sich um die Personalplanung und kommt zwei bis drei Mal im Monat zu Teamgesprächen nach Rheda-Wiedenbrück.

Die Skepsis legte sich schnell

Seit der Neueröffnung laufen die Geschäfte gut. „Wir haben umgebaut“, sagt Wiltrud Schnitker. „Nur das Holzparkett ist geblieben, das komplette Innenleben ist neu.“ Schwere dunkle Holzbalken, Sitzpolster in warmen Rot-, Orange- und Gelbtönen und ein riesiger Stoff-Kronleuchter, der über drei Etagen reicht, schaffen eine gemütliche Atmosphäre.

Die Flex-Treppe, die seit dem Umbau vom großen weißen Holztor am Eingang bis ins Innere führt, hilft Rollstuhlfahrern beim Zugang zum Café: Auf Knopfdruck klappen die Treppenstufen hoch und verwandeln sich in ein ebenes Podest, das als Aufzug genutzt werden kann. Zu Anfang war der Erfolg noch nicht absehbar, denn die Rheda-Wiedenbrücker begegneten dem Inklusionsprojekt eher skeptisch. „Was macht ihr da eigentlich?“, fragten sie, wie sich Lisa Kübler erinnert. „Es gingen Gerüchte um, dass das Café ausschließlich für Menschen mit Behinderung gedacht sei.“ Es dauerte eine Weile, bis die Nachbarn mit dem neuen Konzept warm wurden. Ähnlich erging es Wiltrud Schnitker und ihren nicht-behinderten Mitarbeitern. Nur wenige im Team hatten Erfahrung darin, mit Menschen mit Behinderung zu arbeiten. „Wir hatten schon Berührungsängste“, erzählt die Chefin sehr offen, die von der Evangelischen Stiftung Ummeln mit Fachtagen und kontinuierlicher Beratung unterstützt wird. Inzwischen ist die Belegschaft aber sehr gut zusammengewachsen. „Ich bin angenehm überrascht, auch von mir selbst, wie viel Geduld ich habe“, sagt sie und lacht. Auch Ann-Sophie Bathe lächelt: „Wir sind ein super Team.“




Für die Kunden auf Achse

Mit schnellen Schritten eilt Cira Franke durch die langen Gänge des Edeka Marktes, der etwas außerhalb der Gemeinde Kirchlengern liegt. Direkt hinter ihr läuft Christina Klocke. Sie schiebt einen kleinen Rollwagen, auf dem eine halb gefüllte, gelbe Plastikkiste steht. „Wir brauchen noch Geflügelwurst. Aber nicht die günstige, sondern die hier vorne“, sagt Cira Franke und deutet auf ein Regal.

Die beiden jungen Frauen kaufen nicht für Zuhause ein. Sie bearbeiten die Bestellung eines Kindergartens, der Lebensmittel und Getränke benötigt. Bei den Wasserkisten hilft den beiden Christian Kiehl. „Wenn ich Zeit habe, passt das schon. Die Kästen sind ja schwer“, sagt er und bringt gleich zwei nach draußen. Dort wartet ein Transporter, an dessen Seite »Sie kaufen ein, wir bringen’s heim« steht – und auf den Türen sind die Kolleginnen und Kollegen in Überlebensgröße zu sehen.

Große Entlastung für den Betrieb

Das Trio arbeitet in der im Februar vorigen Jahres gegründeten Inklusionsabteilung von Edeka Wehrmann, das fünf Märkte in Herford, Enger, Spenge, Hiddenhausen und Kirchlengern führt. Die drei Menschen mit Behinderung wickeln alles selbst ab: Vom Kommissionieren des Einkaufs über die Auslieferung – immer zu zweit – an rund 30 Kindergärten und Firmen sowie Privatpersonen bis hin zum Kassieren beim Kunden. „Das klappt hervorragend“, sagt Wilhelm Bischoff, der als Geschäftsführer für Personal, Ausbildung, Finanzen und Controlling zuständig ist. Gemeinsam mit Firmenchef Peter Wehrmann hat er die Zusammenstellung des kleinen Teams vorangetrieben.

Mehrere Faktoren veranlassten das Unternehmen, die Abteilung zu gründen. „Wir hatten vor einigen Jahren erste Gespräche mit dem Integrationsfachdienst Herford, ob es nicht Arbeitsmöglichkeiten bei uns für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Werkstätten für behinderte Menschen in Lübbecke und Herford geben könnte“, erinnert sich Bischoff. Einige der Menschen mit Behinderung hatten einen Führerschein – und der Mitarbeiter des Integrationsfachdienstes traute ihnen auch komplexere Aufgaben zu. „Außerdem wollten wir damals gern unseren Lieferservice ausbauen.“

Zuvor hatten das Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter übernommen. „Weil die Lieferungen immer zu den Zeiten stattfinden, wenn auch im Geschäft viel los ist, passte das oft nicht so gut“, sagt Wilhelm Bischoff. Er ergriff die Chance: Mit den drei Menschen mit Behinderungen hat sich die Engstelle nun aufgelöst.

Geholfen hat Edeka Wehrmann der LWL, der den Transporter mit einem Investitionskostenzuschuss mitfinanziert hat. Ebenso bekommt das Unternehmen laufende Zuschüsse für die drei Kräfte, weil sie aus einer Werkstatt für behinderte Menschen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt wechseln. Und bei der Einarbeitung half der Integrationsfachdienst Herford.

Mehr Service, höhere Umsätze

Das Geschäft mit dem Lieferservice wächst, ebenso wie die Märkte von Peter Wehrmann. „Die Edeka-Zentrale forciert das, indem sie zum Beispiel einen Internet-Shop anbietet, den die einzelnen Franchise-Unternehmen nutzen können“, erklärt Wilhelm Bischoff. So könne der Service für die Kunden steigen und es würden größere Umsätze möglich. Vorstellbar seien für ihn auch weitere Einstellungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderungen. „Wenn wir die richtigen Aufgaben für die Beschäftigten finden, sehe ich da gar kein Problem.“




Barrierefreie Veranstaltungen planen

Die Räumlichkeiten sind gebucht, das Programm steht, die Catering-Firma weiß Bescheid. Das Event kann kommen oder? Noch nicht ganz. Was vielen Veranstaltern oft „durchrutscht“, ist das Thema Barrierefreiheit. Denn ob ein Event wirklich für alle Gäste zugänglich ist, hängt sowohl vom Veranstaltungsort ab als auch vom Programm und von der Kommunikation vor und während des Ereignisses  technisch wie inhaltlich. Diese Aspekte sollten am besten frühzeitig bedacht werden und direkt in die Planungen einfließen.

Was dabei wichtig ist und welche interessanten Möglichkeiten es gibt, Veranstaltungen bewusst barrierefrei zu gestalten, ist das Thema des Portals Ramp-up.me. Die Seite ist als Initiative des Vereins Sozialhelden e. V. entstanden und gibt viele Tipps und Hinweise rund um barrierefreie Planung von Events. Der Wunsch und das Ziel der Initiatoren ist es, eine vielfältigere und buntere Veranstaltungskultur schaffen, in der alle Menschen gleichberechtigt agieren und teilnehmen können und mit ihren Beiträgen gehört werden.




Arbeiten auf dem Bauernhof

Christian Hofmann überquert eine Weide, auf der schwarzgescheckte Milchkühe grasen, und stapft weiter zum Hühnergehege. Er schaltet den Elektrozaun ab, der Legehennen und Rinder voneinander trennt, und steigt darüber. „Na, ihr Süßen“, sagt er zu den braunen Hennen, die ihn erwartungsvoll gackernd umringen.

Hofmann klappt den Deckel der Futtertonne auf und streut Getreide auf die Wiese. Während die Vögel die Körner aufpicken, sammelt der Landwirtschaftshelfer die frisch gelegten Eier ein. „Die bringe ich gleich in die Scheune“, erklärt er. „Dort verpacke ich sie nach Größen sortiert für unseren Hofladen.“

Von zufrieden gackernden Hühnern und besonderen Kartoffelsorten

Seit Anfang 2014 arbeitet der heute 31-Jährige auf dem Hofgut Schloss Hamborn. Das Inklusionsunternehmen im ostwestfälischen Borchen beschäftigt in Landwirtschaft, Bäckerei, Käserei, Fleischerei und der Vermarktung 62 Männer und Frauen, 20 von ihnen haben, wie Christian Hofmann, eine Behinderung. Für ihn ging damit ein Traum in Erfüllung, denn für den jungen Mann stand schon lange fest, dass er einmal auf einem Bauernhof arbeiten wollte: „Nach der Schule habe ich fünf Jahre lang auf einem Biolandhof mitgeholfen und dann eine Ausbildung auf einem Demeterhof gemacht. Das ist genau das Richtige für mich.“

Seine größte Leidenschaft ist der Ackerbau. „Ich mag den Kontakt zur Erde und den Pflanzen“, sagt Hofmann. „Am liebsten habe ich Kartoffeln. Ich habe sogar schon Sorten mit ausgesucht, die festkochende Allians zum Beispiel und Gunda, eine mehligkochende Sorte.“ Weil er so in seiner Arbeit aufgeht, lebt der Geselle auch auf dem Hofgut und teilt sich mit ein paar Kollegen das dafür vorgesehene Wohnhaus. „Das ist bei uns nur ein Angebot, keine Pflicht“, sagt Gerd Bögeholz, Geschäftsführer der Hofgut-gGmbH, die seit 2013 als Inklusionsunternehmen geführt wird. „Die meisten unserer Mitarbeiter wohnen außerhalb.“

Das Hofgut ist Teil eines anthroposophischen Konzepts

Das Hofgut selbst gibt es schon seit dem Jahr 1931, es ist der älteste Demeterhof in Nordrhein-Westfalen. „Eines unserer Ziele ist es, hier einen in sich geschlossenen Nährstoffkreislauf zu betreiben“, erläutert Bögeholz das Konzept des Hofs. „Dazu gehört zum Beispiel, dass unsere Mastschweine aussortierte Kartoffeln, aber auch Getreide und Kraftfutter aus eigenem Anbau fressen. Außerdem bekommen sie die Molke, die in unserer Käserei abfällt.“ Das Demeter-Prinzip geht auf eine Weltanschauung zurück, die Rudolf Steiner begründete und die sich „Anthroposophie“ nennt.

Das Hofgut ist Teil einer ganzen Anlage in Borchen, in deren Einrichtungen dieses Konzept verfolgt wird: Auf dem Gelände des Anthroposophischen Zentrums Schloss Hamborn gibt es neben dem Bauernhof noch eine Reha-Klinik, ein Altenwohnheim, einen Waldorfkindergarten, einen stationären Jugendhilfebereich mit Berufsförderung und eine Waldorfschule mit Förderschulbereich. Ein Inklusionsbetrieb wie das Hofgut passt gut ins Konzept, findet Gerd Bögeholz: „Wir wollten eine berufliche Perspektive für die Schüler aus unserem Jugendbereich und auch anderer Förderschulen schaffen.“
Die Produkte wie Käse, Gemüse, Brot und Fleisch landen in den Küchen von Reha-Klinik und Kindergarten. „Wir verkaufen unsere Produkte auch in Paderborn auf dem Markt oder in unserem Online-Shop ‚Biomanufaktur‘“, erklärt der Inhaber Gerd Bögeholz. „Dort können die Kunden einzelne oder Abo-Bestellungen aufgeben, und wir beliefern über den Shop auch Bio-Supermärkte.“

Den mit Abstand größten Anteil am Verkauf hat aber der Hofladen ‚Natura‘, der unmittelbar neben Reha-Klinik und Schule liegt. Hier gibt es die Produkte des Hofgutes an der Fleisch-, Wurst- und Brötchentheke, aber auch in den Obst-, Gemüse- und Käseregalen zu kaufen. Kosmetikartikel, Tee, Kaffee und Bio-Weine ergänzen das Angebot, so dass die Kunden ihren kompletten Einkauf im Hofladen erledigen können.

Mercedes Hermann steht hier regelmäßig hinter der Ladentheke. Sie kennt das Geschäft noch aus der Zeit, als sie die Förderschule von Schloss Hamborn besuchte. „Ich habe hier als Schülerin ein längeres Praktikum gemacht“, sagt die 24-Jährige. Nach ihrer Schulzeit bekam sie eine Ausbildungsstelle, die auf ihre Behinderung angepasst war, und wurde anschließend übernommen. „Der Laden ist viel angenehmer als große Supermärkte“, findet die Verkaufshelferin. „Auch die Kunden sind viel offener und wollen mehr Beratung. So kommen wir viel mit ihnen in Kontakt, das ist schön.“

Vor zwei Jahren wurde das Geschäft umgebaut und modernisiert, die Verkäufe stiegen dadurch an. „Wir konnten den Umsatz durch diese Maßnahmen verdoppeln“, berichtet Gerd Bögeholz. 250 bis 300 Kunden kommen heute täglich in den Hofladen, neben den Bewohnern von Schloss Hamborn sind darunter auch viele Eltern. „Sie kaufen hier ein, wenn sie ihre Kinder zur Schule oder in den Kindergarten bringen“, erklärt der 47-Jährige. „Aber es gibt ebenso Kunden, die extra wegen des Ladens zu uns rausfahren, weil sie sich gesund ernähren und regional einkaufen wollen.“




Alle sind anders

„Anderssein ist keine Hürde, sondern eine große Chance“, könnte der Grundsatz einer Initiative lauten, die sich in Deutschland für eine bessere Unternehmenskultur engagiert: Die Charta der Vielfalt hat sich zum Ziel gesetzt, dafür zu sorgen, dass in Zukunft das Potenzial aller Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft, Behinderung oder sexueller Orientierung angemessen wertgeschätzt, gefördert und genutzt wird.

„Diversity Management“ heißt dieses Prinzip in der Fachwelt und in den Personalabteilungen von Unternehmen. Die Idee dahinter: Wenn alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einer Firma oder Organisation sich gegenseitig schätzen, untereinander gerne Erfahrungen austauschen und ihr Fachwissen ungehindert weitertragen können, fördert das die Kreativität eines Teams – und das wirkt sich wiederum positiv auf die Innovationskraft des Unternehmens aus. Vielfalt beim Personal lohnt sich für Firmen demnach nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht, es steigert auch deren Anpassungsfähigkeit an neue Entwicklungen auf den Märkten in Deutschland und der Welt.




Fehlerquote: Null Prozent

Büroklammern, Heftklammern und gelbe Klebezettel. Diese drei unscheinbaren kleinen Helferlein für das Ordnen von Unterlagen sind in den meisten Büros rund um den Globus wie selbstverständlich zuhause und im Einsatz. Taucht aber auch nur eines dieser drei Dinge vor Rafa Lawahs Augen auf, gibt es gleich etwas zu tun – nicht nur für die 25-jährige Bocholterin mit dem Lockenkopf, sondern auch für ihre Kollegen in der DMS Abteilung. Rafa Lawahs Aufgabe ist es, für Unternehmen und Behörden Akten einzuscannen. Scanner mögen aber keine Büro- und Heftklammern, wie sie zuhauf in solchen Unterlagen vorhanden sind.

Berge von Zeichnungen, alte Rechnungen, Bestellungen, Angebote, Auftragsbestätigungen und so ungefähr alles andere, was auf Papier gedruckt werden kann, bewahrt Rafa Lawah so mit Maschinenhilfe und viel Geduld davor, in Vergessenheit zu geraten. Durch das Einscannen werden die Inhalte maschinenlesbar und digital verfügbar – wie demnächst auch die Bauakten der Stadt Bocholt.

Hinter der Abkürzung „DMS“ verbirgt sich der Begriff „Dokumenten-Management-System“. Die Integrationsabteilung der Personal- und Service-Agentur Bocholt Borken, die vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe unterstützt wird, beschäftigt elf Menschen mit Behinderung. Eine von ihnen ist Rafa Lawah, sie kann nicht laufen. „Das war schon immer so“, erzählt die gelernte Bürogehilfin. „Ich kenne es nicht anders.“ Sie lacht und zieht fast entschuldigend die Schultern hoch. „Ich bin mit dem Rolli aufgewachsen. Man geht damit um, für mich ist das normal.“

Ein eingespieltes Team

Zusammen mit ihren zehn Kollegen zerlegt sie in ihrem täglichen Job die vorliegenden Akten zuerst in ihre Einzelteile, Seite für Seite, säuberlich sortiert. Rafa Lawah erledigt das an gleich zwei Arbeitsplätzen: Einer bei der DMS im Gewerbegebiet, einer im Bocholter Rathaus. Dort sichtet sie mit vier anderen die Akten des städtischen Bauamts und bereitet sie zum Scannen vor. „Mein Job macht mir viel Spaß,“ sagt sie.

Auch mit ihrem Abteilungsleiter Dirk Fitscher ist Rafa Lawah gut eingespielt, der in der DMS-Abteilung die Arbeit des Teams am Ende noch einmal prüft. Seite für Seite schauen Rafa Lawah und die anderen DMS’ler die Scans an und vergleichen sie mit dem Original. Wenn alles richtig eingelesen ist, bauen sie die Akte wieder zusammen und kleben auch die Post-its genau dorthin zurück, wo sie vor dem Scan pappten. Die nun digitalisierten Inhalte werden auf eine CD, DVD oder Blu-ray gebrannt und gehen zusammen mit der Original-Akte an den Auftraggeber zurück. Abläufe, die einwandfrei funktionieren: „Die Fehlerquote liegt bei null Prozent“, sagt Dirk Fitscher.

Rafa Lawah sortiert an ihrem Schreibtisch Unterlagen
Seite für Seite werden Akten und Unterlagen von der gelernten Bürogehilfin Rafa Lawah fürs Scannen vorbereitet. Foto: LWL/Arendt

Fünf Tage die Woche arbeitet die Bocholterin insgesamt, mit Pausen sind es unter dem Strich knapp fünfeinhalb Stunden pro Tag. Mehr schafft sie wegen ihrer Behinderung nicht, erzählt sie. Sie freut sich sehr über ihre Arbeit. Erst recht, weil es nicht einfach war, mit ihrer Behinderung einen passenden Job zu finden. Im ersten Jahr nach dem Ende ihrer dreijährigen Lehre im Berufsbildungswerk im westmünsterländischen Maria Veen hat sie das besonders deutlich gemerkt. Damals war sie offiziell „arbeitssuchend“ gemeldet, wohnte bei den Eltern, fand aber lange einfach keine Stelle. Sie wusste nicht, wie es in ihrem Leben weitergehen sollte. Bis der Bocholter Integrationsfachdienst anrief und fragte, „ob ich Interesse hätte, bei der EWIBO GmbH anzufangen.“ Natürlich hatte sie das, sofort.

Auch, wenn sie sich in die Welt der Scanner erst noch einarbeiten musste. Alles begann mit einem Praktikum, damit sie langsam in den Job finden konnte. Danach wurde sie fest übernommen und hat heute sogar einen Schlüssel für den von der Außenwelt hermetisch abgeschotteten Bereich der Datenverarbeitung.

Selbstständiges Leben in der eigenen Wohnung

„Ich kenne mich mit Bürotätigkeiten ziemlich gut aus“, sagt sie heute selbstbewusst. Das zeigen auch die drei Jahre Arbeitserfahrung deutlich, die sie inzwischen hat. „Ich habe jetzt endlich einen festen Job“, sagt Rafa Lawah. Und der ist sehr kostbar für sie: „Ich kann jeden Morgen aufstehen und was Sinnvolles machen.“

Die 25-Jährige führt heute ein selbstständiges, ihr eigenes, Leben. Sie fährt auch selbst mit dem Auto zur Arbeit. Jeden Dienstag trainiert sie ihr Englisch an der Volkshochschule, „Level three“. Was der Job bei DMS ebenfalls möglich gemacht hat: Sie kann endlich allein leben, in einer auf ihre Behinderung zugeschnittenen Wohnung. Eine Rampe vor der Tür und genug Platz in den Zimmern zum Rangieren mit dem Rollstuhl machen ihr Zuhause barrierefrei. Nur einmal in der Woche kommt eine Helferin für drei Stunden vorbei. „Den Rest mache ich selbst“, sagt sie.




Engagierten Nachwuchs fördern

Deutschland altert: Die Anzahl der über 60-Jährigen steigt stetig, junge Menschen hingegen gibt es vergleichsweise wenige. Diese Entwicklung, der so genannte demografische Wandel, wird für viele Berufe und Branchen früher oder später zum Problem werden. Das gilt auch für die Pflege, auf die immer mehr ältere Menschen angewiesen sind – doch der Nachwuchs für die entsprechenden Berufe fehlt schon heute.

In Hessen soll dem Fachkräftemangel jetzt mit einem neuen Ausbildungsgang entgegengewirkt werden. Das Konzept dahinter ist zugleich ein gutes Beispiel dafür, wie Inklusion im Arbeitsleben umgesetzt werden kann: Das Projekt richtet sich gezielt an Menschen mit Lernbehinderungen, mit Autismus oder auch mit psychischen Erkrankungen, die oft einen zu niedrigen Schulabschluss haben, um einen Pflegeberuf ergreifen zu können. Sie können sich seit diesem Jahr über das Berufsbildungswerk Südhessen zur Fachpraktikerin oder zum Fachpraktiker in Hauswirtschaft mit der Zusatzqualifikation Altenpflegehelferin bzw. -helfer ausbilden lassen – und zwar auch ohne Abitur.




Service und Qualität müssen stimmen

In der Kantine des Musiktheaters Gelsenkirchen arbeiten elf Menschen, fünf von ihnen haben eine Behinderung. Gemeinsam haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der AWO Service GmbH einen Treffpunkt für die Gäste geschaffen, der immer beliebter wird.


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Von der Werkstatt hinters Lehrerpult

Horst-Alexander Finke unterrichtet angehende Lehrer:innen und Sozialarbeiter:innen im Rahmen des Projektes „Inklusive Bildung“ und bringt ihnen bei, im späteren Beruf das gemeinsame Lernen und Leben von Menschen mit und ohne Behinderung besser zu managen. Ins Leben gerufen wurde das Projekt von der Kieler Stiftung „Drachensee“. Die Süddeutsche Zeitung hat sich das Projekt genauer angeschaut und eine Reportage dazu veröffentlicht.