Virtuelles Lernen in der realen Welt: Wie Mixed Reality für mehr Teilhabe sorgen kann

Frau Joest, Sie beschäftigen sich im Projekt „EdAL MR 4.0“ mit Mixed-Reality-Technologien. Was ist das genau?

Diese Technologien verbinden die reale Umgebung eines Menschen mit virtuellen Elementen. Durch eine 3D-Brille wie beispielsweise die „Microsoft HoloLens 2“, die wir in unserem Projekt verwenden, ist der echte Raum zu sehen, in dem jemand sich befindet – darin werden aber digitale Inhalte eingeblendet. Solche dreidimensionalen Hologramme können theoretische Lerninhalte anschaulicher machen.

Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?

In der Friseurausbildung lernen Auszubildende, wie sie grundlegende Schnitte an den Haaren machen. Das setzt geometrisches Wissen voraus. Zuerst üben sie das auf dem Papier. Mit Mixed Reality können die Linien und Winkel, die sich die Azubis normalerweise ganz abseits des Haarschopfs einprägen müssen, direkt auf ein dreidimensionales Modell projiziert werden. Dadurch wird das Lernen für sie einfacher, direkter und anschaulicher. Ein Vorteil von Mixed Reality ist auch, dass die Azubis damit selbstbestimmt lernen können. Sie üben in ihrem eigenen Tempo und wiederholen Aufgaben so oft, wie sie es brauchen. Dass es nur eine virtuelle Übung ist, sie also nichts „verschneiden“ können, nimmt außerdem oft die Angst vor Fehlern und hilft dabei, die Lerninhalte besser zu verstehen und anzuwenden.

Wie kam die Idee auf, solche Technologien in der Ausbildung von Menschen mit Behinderungen zu nutzen?

Die Berufsbildungswerke haben in den letzten Jahren verschiedene digitale Angebote getestet, um die berufliche Teilhabe für die Teilnehmer:innen zu verbessern. Mixed Reality ist eine davon. Das Projekt „EdAL MR 4.0“ haben wir aufgesetzt, um Lernmodule für Menschen mit (Lern-)Behinderungen zu entwickeln, die mit klassischen Methoden oft Schwierigkeiten haben. Sie können sich berufliche Fähigkeiten damit leichter aneignen – und so steigen später ihre Chancen, am Arbeitsleben teilzuhaben. Die ersten Anwendungen gibt es für die Ausbildungsberufe Friseur:in – siehe oben genanntes Beispiel –, Koch/Köchin und Fachkraft Lagerlogistik. Die Technologien funktionieren immer nach dem gleichen Muster: Die Ausbilder:innen erstellen 3D-Inhalte für die Microsoft HoloLens 2, verknüpfen sie mit prüfungsrelevanten Aufgaben und setzen sie dann in alltäglichen Ausbildungssituationen ein. So entsteht eine neue, motivierende Lernumgebung, weil die Lerninhalte durch die virtuellen Elemente sehr spielerisch vermittelt werden. Die Ausbilder:innen können die Inhalte außerdem über ein Redaktionssystem verwalten, bearbeiten und erweitern. Darüber hinaus gibt es ergänzende Elemente in einer E-Learning-Umgebung, wie das Beispiel oben zeigt.

Gab es Herausforderungen bei der Entwicklung dieser Lerninhalte?

Ja, denn die Entwicklung solcher Inhalte erfordert viel Fachwissen in Informationstechnologie und eine gute technische Ausstattung. Es ist wichtig, dass die digitalen Lernumgebungen in den Ausbildungsräumen funktionieren. Außerdem müssen die Lehrkräfte die notwendige Medienkompetenz mitbringen, um die Technik einzusetzen. Regelmäßige Schulungen sind hier ein sehr wichtiger Baustein. Wir haben im Projekt auch darauf geachtet, dass die Inhalte genau zu den Bedürfnissen der Azubis passen. Sie wurden von Anfang an in die Entwicklung einbezogen, damit wir sicherstellen konnten, dass die Lernmodule auch wirklich hilfreich und motivierend sind.

Wie nehmen die Azubis und Ausbilder:innen diese neue Technologie an?

Die Azubis sind meistens neugierig und offen. Viele berichten, dass ihnen die Anwendung Spaß macht und sie damit leichter lernen können, außerdem können sich die meisten vorstellen, die HoloLens und die dazugehörige App häufiger zu benutzen. Insgesamt bestätigen die Rückmeldungen deutlich, dass die Lernanwendung ein motivierendes und angemessenes Medium ist, um Lerninhalte im Rahmen der genannten Ausbildungsberufe zu vermitteln. Für die Ausbilder:innen wiederum bedeutet es anfangs natürlich erst einmal mehr Aufwand, die Lerninhalte im Rahmen des Projekts neu zu entwickeln. Sobald die Anwendung aber einmal läuft, geben auch sie positive Rückmeldungen.

Was machen Sie mit den Ergebnissen und Erkenntnissen aus dem Projekt – und wer profitiert davon?

Die Erfahrungen mit Mixed Reality, die wir in „EdAL 4.0“ gesammelt haben, sollen dabei helfen, die Anwendungen auf andere Bereiche zu übertragen. Wir möchten also dafür sorgen, dass sie langfristig auch in anderen Berufsfeldern eingesetzt werden können. Davon profitieren alle 51 Berufsbildungswerke, aber auch Einrichtungen außerhalb davon haben schon Interesse bekundet. Das ist sehr gut, denn wir wollen die Möglichkeiten von Mixed Reality gern in die Breite tragen. Einige der Elemente, die schon dafür geeignet sind: Fachtexte in einfacher Sprache, die die Ausbildungsinhalte dennoch in der nötigen Fachlichkeit wiedergeben; die Sprachausgabe all dieser Texte; ein Roboter-Hologramm, das hilfreiche Erklärungen im Rahmen des Zusammenhangs liefert, in dem es angewendet wird – und eine intuitiv bedienbare Benutzeroberfläche der App, die wir im Projekt entwickelt haben.

Wie stellen Sie sicher, dass die Inhalte des Projekts auch nach dem Ende der Laufzeit verfügbar bleiben?

Wir haben im Rahmen des Projekts das schon beschriebene Redaktionssystem entwickelt, mit dem die Ausbilder:innen vorhandene Inhalte eigenständig bearbeiten und erweitern können. Schulungen sorgen dafür, dass sie die Technik sicher anwenden können. Die Inhalte sind für die Projektbeteiligten ohne technischen Support nutzbar. Das wird auch nach Ende der Förderphase so bleiben. Wenn andere Nutzer:innen und/oder Inhalte hinzukommen sollen, ist technischer Support allerdings nötig. Wir sind sehr daran interessiert, den entwickelten Prototyp in einer nächsten Stufe für andere Ausbildungseinrichtungen nutzbar zu machen. Das geht dann aber nur mit entsprechenden finanziellen Mitteln. —




Inklusion im Berufsleben durch Künstliche Intelligenz verbessern: Das Projekt „KI-Kompass Inklusiv“

Frau Melchior, das Ziel der Praxislabore ist es, die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben zu stärken. Was genau steckt dahinter?

Unser vorheriges Projekt KI.ASSIST hat gezeigt, dass Arbeitsplätze mit Hilfe von KI-Assistenzsystemen inklusiver gestaltet werden können. Außerdem können diese Technologien Menschen mit Behinderungen beim Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt unterstützen. In den Arbeitgeber-Praxislaboren wollen wir solche Technologien gemeinsam mit den Teilnehmer:innen in ihren Arbeitsumgebungen erproben. Dafür sind die Praxislabore gedacht. Wir suchen derzeit nach Unternehmen und Reha-Einrichtungen, die dabei mitmachen wollen. Sie dürfen frei entscheiden, welche Technologien sie im Rahmen der Praxislabore ausprobieren möchten. Wichtig ist nur, dass die Teilnehmer:innen im Arbeitsalltag klar unterstützt werden.

Können Sie Beispiele dafür nennen, wie Künstliche Intelligenz schon heute Menschen mit Behinderungen im Arbeitsalltag unterstützt?

Bisher werde die Möglichkeiten von Künstlicher Intelligenz im Arbeitsalltag vieler Betriebe und Unternehmen noch wenig genutzt. Trotzdem gibt es Beispiele, wie diese Technologien bereits heute Menschen mit Behinderungen im Arbeitsalltag helfen: Beispielsweise können Menschen mit Sehbehinderungen Text- und Spracherkennungen nutzen, indem sie Texte diktieren oder sich Bilder beschreiben lassen. Untertitel für Videos oder die Verschriftlichung von Gesprächen vermitteln Inhalte, die von Menschen mit Hörbehinderungen genutzt werden können. Und bei Lernbeeinträchtigungen können bestimmte Systeme helfen, indem sie Schritt für Schritt durch komplizierte Aufgaben führen. Aktuell entwickeln sich Künstliche Intelligenz und die Einsatzmöglichkeiten solcher Technologien ständig weiter. Das bietet jetzt und auch künftig viele Chancen, die Arbeitswelt inklusiver zu gestalten.

Wer kann sich für das Projekt bewerben, in welchem Umfang wird gefördert und was bieten Sie den Bewerberinnen und Bewerbern noch?

In dieser Runde können sich Mitglieder des Bundesverbands Deutscher Berufsförderungswerke und Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarkts gemeinsam bewerben. Wir bieten mit dem Projekt eine finanzielle Unterstützung von bis zu 10.500 Euro für Personalkosten pro Partner und bis zu 26.000 Euro für Technik an, also beispielsweise für elektronische Teile, Lizenzen, Schulungen oder technische Unterstützung. Reisekosten für Veranstaltungen können wir ebenfalls erstatten. Wir wählen im Februar 2025 aus, wer als Partner dabei ist. Das Labor startet dann voraussichtlich im März. Ab dann begleiten wir die Partner in allen Schritten des Praxislabors. Wir helfen ihnen, die Idee weiterzuentwickeln, die Technologien anzupassen, in den Arbeitsalltag zu übertragen und die Erkenntnisse aus dem Projekt damit dauerhaft umsetzbar zu machen. Darüber hinaus können sich die Partner über die verschiedenen Labore hinweg miteinander austauschen und sich mit weiteren Beteiligten und Expert:innen vernetzen.

Viele Unternehmen setzen noch keine Künstliche Intelligenz ein oder stehen erst am Anfang. Was sind die Voraussetzungen für eine Bewerbung?

Wir erwarten nicht, dass Unternehmen schon erfahren mit Künstlicher Intelligenz sind. Wichtig ist aber das Interesse daran, diese Technologien dafür zu nutzen, inklusive Arbeitsplätze zu schaffen. Wichtig ist auch eine möglichst konkrete Idee für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz. Und: Die Technologie darf nicht zur Leistungskontrolle genutzt werden. Wir bieten auf unserer Ausschreibungswebseite ganz unten übrigens verschiedene Informationen und Hilfestellungen an, damit sich Interessierte besser auf die Bewerbung vorbereiten können. Dazu gehören eine KI-Leinwand (englisch: „AI Canvas“), ein Ergebnisbericht des vorherigen Projektes und ein Link zu unserem Technologie-Monitor. Wir zeigen dort außerdem ein Video der schon stattgefundenen Informationsveranstaltung, bieten Termine für Online-Sprechstunden für Rückfragen an und haben die häufigsten Fragen und Antworten zum Thema gesammelt.

Was passiert nach Ende des Projekts mit den Ergebnissen – und wie können andere davon profitieren?

Die Labore werden von uns und einem externen Team kritisch begleitet und überprüft. Wir wollen Lösungen entwickeln, die später auch anderen Reha-Einrichtungen und Unternehmen praktisch in ihrem Arbeitsalltag helfen können. Die Ergebnisse fließen in Workshops, Handlungsempfehlungen und unsere Wissensdatenbank ein, die öffentlich zugänglich ist. Alle Erkenntnisse werden von uns also nachhaltig aufbereitet und frei verfügbar gemacht.

Sind weitere Projekte geplant?

Nein, im Moment haben wir noch keine konkreten Pläne, wie es nach den Praxislaboren weitergeht. Wichtig ist uns erst einmal, dass wir die darin erarbeiteten Lösungen in der Praxis erproben und daraus Erkenntnisse ziehen. Gleichzeitig überlegen wir aber schon, wie wir das Kompetenzzentrum langfristig weiterführen können. Bis 2027 wird es noch aufgebaut, bis dahin bleibt es spannend. Wir freuen uns auf die nächsten Schritte!




Gleichberechtigt feiern: Über eine Initiative für mehr Inklusion in der Kultur

Herr Ringert, welchen persönlichen Bezug haben Sie zum Thema Kultur – und warum engagieren Sie sich hier für mehr Barrierefreiheit?

Ich bin schon in meiner Jugend gerne auf Festivals gegangen, das ist damals wie heute meine große Leidenschaft. Während der Schulzeit und später auch neben meinem Musikmanagement-Studium habe ich zeitweise auf dem Festival „Wacken Open Air“ gearbeitet, das nicht weit entfernt von meinem Heimatort stattfindet. Nach dem Studium habe ich dort als Sponsoring Manager angefangen, das heißt, ich habe die Zusammenarbeit mit Dienstleistern und Geldgebern des Festivals organisiert. 2015 hatte ich einen Verkehrsunfall, seitdem bin ich im Rollstuhl unterwegs. Ich entwickelte dadurch, dass ich selbst betroffen war, und durch den Kontakt zur Community nach und nach einen Blick für Barrieren – und zwar nicht nur für die baulichen, die ja vor allem Menschen mit körperlichen Behinderungen wie mich einschränken, sondern auch für viele andere Hindernisse. Das war der Antrieb für mich, beim Wacken Open Air die Inklusionsarbeit zu übernehmen. Seither habe ich das Thema dort stetig weiterentwickelt. Ich stand außerdem schon damals in engem Austausch und Kontakt mit der Beratungsagentur „WIR KÜMMERN UNS“, die aus der „Initiative Barrierefrei Feiern“ entstanden war. Vor drei Jahren bin ich nebenbei auch noch als Gesellschafter bei „WIR KÜMMERN UNS“ eingestiegen.

Was steckt hinter der „Initiative Barrierefrei Feiern“ und wie ist sie entstanden?

Die Initiative vereint Menschen mit ganz unterschiedlichen Behinderungen, die alle ihre ganz eigenen Erfahrungen und Bedürfnisse mitbringen. Sie geben diese an die Veranstaltenden oder Clubbetreiber:innen weiter, die daraus wiederum konkrete Maßnahmen ableiten können. Wir setzen unsere Teams immer aus Menschen mit mehreren Perspektiven zusammen, zum Beispiel aus einer rollstuhlfahrenden und einer blinden Person. Der Grund dafür ist, dass ich als Rollstuhlfahrer mir nicht anmaße, über die Bedürfnisse von Blinden entscheiden zu können – und andersherum ist es genauso.
Entstanden ist die Initiative dank der heutigen Geschäftsführerin der Beratungsagentur „WIR KÜMMERN UNS“, Elnaz Amiraslani. Bevor es die Agentur und die Initiative gab, hat sie als Tourmanagerin für eine Band mit einer blinden Sängerin gearbeitet und dabei schnell gemerkt, mit welchen Barrieren und Benachteiligungen Menschen mit Behinderungen im Kulturleben konfrontiert sind. Daraufhin hat sie die Initiative als gemeinnütziges Kollektiv gegründet, später kam dann die Beratungsagentur hinzu. Ich bin Teil von beidem und unterstütze die „Initiative Barrierefrei Feiern“ mit meinem Fachwissen, das ich durch das Organisieren von Großveranstaltungen und durch meine privaten Erfahrungen erworben habe.

Mit welchen Angeboten hilft die Initiative beispielsweise Clubbetreiber:innen dabei, ihre Veranstaltungen barrierefreier zu gestalten?

Wir bieten Workshops zu Inklusion und Barrierefreiheit in der Popkultur an. Dazu gehören auch Maßnahmen, die für das Thema als solches sensibilisieren sollen. Es können aber auch Sprechstunden bei uns gebucht werden. Im Idealfall arbeiten die Veranstaltenden ganzheitlich mit uns zusammen, das heißt, wir begleiten gemeinsam mit ihnen den gesamten Prozess etwa eines Festivals. Das beinhaltet neben den Workshops auch Strategiepapiere, Handbücher, einen Bereich „Häufig gestellte Fragen“ für die Website und eine Überprüfung der Barrierefreiheit derselben. Die „Häufig gestellten Fragen“ sind dazu da, im Vorfeld Anfragen abzufangen, weil diese sich oft gleichen. Zum Beispiel fragen viele nach Infos zu den Tickets, zur Anreise oder zu den Regelungen für Begleitpersonen. Weitere Teile des Prozesses sind außerdem Ortsbegehungen, mobile Dienstleistungen auf den Veranstaltungen selbst, Community-Management, eine inklusive Programmgestaltung sowie Akquise, etwa von Gebärdensprachdolmetschenden, und deren Koordination.

Welche Projekte hat die Initiative schon erfolgreich begleitet und was ist noch geplant?

Wir werden mit unserem Team oft dafür gebucht, eine Veranstaltung vor Ort zu begleiten. Die Königsdisziplin sind dabei unsere „Services für Gäste mit Behinderung“, die wir beispielsweise bei Großveranstaltungen wie Konzerten von „Die Ärzte“ anbieten, bei denen mehr als 200 Gäste mit Behinderung im Publikum sind. Dazu gehört etwa ein Treffpunkt beim Konzert, den alle aufsuchen und dort Infos bekommen können, aber beispielsweise auch die Begleitung von blinden Menschen, damit sie sich auf dem Gelände gut zurechtfinden.
Wir werden dieses Jahr außerdem erstmals das Lollapalooza-Festival in Berlin im Vorfeld und vor Ort begleiten. Dort werden ca. 60.000 Besucher:innen erwartet, darunter sicherlich auch viele junge Menschen mit Behinderung. Die Arbeit vor Ort macht großen Spaß, weil wir dort mit der Community in den direkten Austausch gehen dürfen.

Welche Ziele möchten Sie in den nächsten Jahren erreichen?

Unser wahrscheinlich sehr optimistisches, aber konkretes Ziel ist es, dass alle Menschen gleichberechtigt gemeinsam feiern können – und zwar ohne, dass dabei einzelne Personengruppen sozial oder infrastrukturell benachteiligt werden und deswegen besondere Vorkehrungen treffen müssen. Das ist nur durch barrierefreie Kulturangebote möglich, von denen es aktuell noch viel zu wenige gibt, obwohl die UN-Behindertenrechtskonvention genau das vorschreibt. Bis dieses Ziel erreicht ist, setzen wir uns als Kollektiv dafür ein, Veranstaltende, Club-Betreibende und die Kulturpolitik bestmöglich für das Thema zu sensibilisieren – und so viele Veranstaltungen wie nur möglich dabei zu unterstützen, Barrieren abzubauen.

Wer kann bei der Initiative „Barrierefrei Feiern“ mitmachen?

Grundsätzlich sind bei uns alle willkommen, die sehr kulturaffin sind und sich wegen einer körperlichen, sensorischen oder psychischen Beeinträchtigung als Mensch mit Behinderung identifizieren. Bestenfalls hat die Person schon erste Berufserfahrungen mit Kunst, Kultur und Veranstaltungen gesammelt, und ganz besonders freuen wir uns über Künstler:innen mit Behinderung in unseren Reihen. Es ist natürlich auch nicht verkehrt, wenn jemand gut und klar kommunizieren kann und ein Grundverständnis für die politischen Dimensionen von Behindertenrechten und Inklusion mitbringt. Denn tatsächlich haben viele unserer Mitstreiter:innen ihren Aktivismus erst entwickelt, seit sie bei uns mitmachen.




Virtuelle Schere für mehr Inklusion: Wie „Mixed Reality“ angehende Friseur:innen in der Ausbildung unterstützt

Haare schneiden, ohne eine Schere in die Hand zu nehmen: Was wie Zauberei klingt, gehört im Berufsbildungswerk Hamburg zum Alltag in der Berufsausbildung angehender Friseur:innen. Dank einer so genannten Mixed-Reality-Brille verschmelzen hier virtuelle und reale Welt miteinander: Die Brille ermöglicht es, Haarschnitte zu üben und komplexe Techniken sichtbar zu machen, bevor sie an echten Haaren angewendet werden. Das hilft den jungen Menschen mit und ohne Behinderung dabei, das Handwerk ohne Druck und Risiko zu erlernen, und stärkt ihr Selbstvertrauen.

Hinter dem Ansatz steht das vom Bund geförderte Projekt EdAL MR 4.0. Die Abkürzung bedeutet „Entwicklung und Erprobung digitalisierter Arbeitshilfen und Lerneinheiten auf Mixed Reality Basis in der beruflichen Reha-Ausbildung zur Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt 4.0”. Das Projekt zielt also darauf ab, Menschen mit Behinderung oder Förderbedarfen durch digitale Werkzeuge und Lernkonzepte dabei zu unterstützen, ihre Ausbildung erfolgreich zu absolvieren – oder beispielsweise von einer Werkstatt für behinderte Menschen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu wechseln.

Der NDR hat das Berufsbildungswerk Hamburg und die Azubis besucht und sich das innovative Ausbildungskonzept aus der Nähe angeschaut. Hier lest ihr die ganze Reportage.




Vielfalt und Inklusion in Unternehmen messbar machen: Ein Forschungsprojekt der Internationalen Hochschule (IU)

Frau Prof. Rehfeld, Frau Prof. Würtemberger, was ist das Ziel Ihres Forschungsprojekts?

Rehfeld: Wir möchten ein Modell entwickeln, mit dem Unternehmen und andere Organisationen messen können, wie weit sie im Bereich Diversität (einfacher: Vielfalt) und Inklusion sind. Die Idee ist, dass die Verantwortlichen verschiedene Fragen beantworten und ihre Organisation dabei selbst einschätzen. Am Ende sollen sie eine Auswertung und im besten Fall auch Tipps für Verbesserungen bekommen.

Würtemberger: Es gibt zwar schon Modelle zum Thema, die aber englischsprachig und in der Regel kostenpflichtig sind. Viele sogenannte Audits – also Verfahren, mit denen Unternehmen sich prüfen und zertifizieren lassen können – sind für Mittelstandsbetriebe viel zu teuer. Das Ergebnis unseres Projekts soll deutschsprachig und frei zugänglich sein. Wir arbeiten dafür mit dem Verein „Charta der Vielfalt“ zusammen, in dem sich Arbeitgebende zusammengeschlossen und dazu verpflichtet haben, sich für mehr Vielfalt in der Arbeitswelt einzusetzen. Wir liefern die wissenschaftlichen Grundlagen. Der Verein wird die Ergebnisse und später auch das Modell auf seiner Website verfügbar machen. Denn das Modell ist für alle Unternehmen gedacht, egal wie groß und in welcher Branche sie tätig sind.

Der Begriff „Diversität“ wird viel gebraucht und oft sehr unterschiedlich ausgelegt. Wie definieren Sie ihn in Ihrem Projekt?

Rehfeld: Unsere Grundlage ist das Diversity Wheel (auf Deutsch: Rad der Vielfalt), das auf die Arbeit der Organisationsberaterinnen und Autorinnen Lee Gardenswartz und Anita Rowe zurückgeht. Der Verein der Charta macht mit diesem Rad verschiedene Aspekte sichtbar. Im innersten Ring stehen sieben Kerndimensionen: Alter, Ethnische Herkunft und Nationalität, Geschlecht und geschlechtliche Identität, Körperliche und geistige Fähigkeiten, Religion und Weltanschauung, Sexuelle Orientierung sowie Soziale Herkunft. Diese Aspekte haben wir bei unserer Arbeit im Blick. Wir verwenden deshalb übrigens die englischen Begriffe „Diversity“ und „Inclusion“. Das englische „Inclusion“ ist weiter gefasst als der deutsche Begriff „Inklusion“, es geht um alle Dimensionen von Vielfalt (Anm. der Redaktion: Anders als der deutsche Begriff beschreibt „Inclusion“ also nicht ausschließlich die Zusammenarbeit von Menschen mit und ohne Behinderung).

Was war für Sie der Anlass, sich diesem Thema zu widmen?

Würtemberger: Die Idee zu dem Projekt hat mit meinem beruflichen Hintergrund zu tun. Ich habe früher bei zwei Unternehmen gearbeitet, die beide Mitglied bei der „Charta der Vielfalt“ sind. Ich habe also schon lange Berührungspunkte mit dem Thema Diversität. Im Jahr 2022 habe ich an der IU angefangen, Katharina Rehfeld hat sich damals bereits mit Internationalem Personalwesen und Themen wie Diversity und Inclusion beschäftigt. Hier an der Internationalen Hochschule werden besonders zukunftsträchtige Forschungsideen unterstützt und die daraus resultierenden Forschungsprojekte finanziell gefördert. Wir haben die Gelegenheit gesehen, nach meinen praktischen Erfahrungen auch wissenschaftlich zum Thema Diversität zu arbeiten. Für das Projekt haben wir dann die Kooperation mit der „Charta der Vielfalt“ verabredet.

Wie gehen Sie bei Ihrer Arbeit am Projekt vor?

Rehfeld: Zurzeit führen wir Expert:innen-Interviews mit Personen, die sich in ihren jeweiligen Unternehmen mit Diversität und Inklusion beschäftigen. Dabei sprechen wir über den gesamten sogenannten Employee Life Cycle (auf Deutsch: Mitarbeiter-Lebenszyklus): von der Bewerbung über den Start und die Entwicklung im Unternehmen bis zu dem Moment, in dem Mitarbeitende das Unternehmen wieder verlassen. Wir fragen für jede dieser Stationen, was aus Sicht der Expert:innen das Minimum in Bezug auf Vielfalt und Inklusion wäre, welche Empfehlungen sie für eine gute Praxis geben würden und wie der Idealzustand aussähe. Daraus wird sich später ein Stufenmodell ergeben, auf denen Unternehmen anhand ihrer Selbsteinschätzung eingeordnet werden.

Würtemberger: Das Modell und die Einstufung sollen Sicherheit und Orientierung bieten, und zwar anhand von klaren Kriterien, die jede:r auf der Website der Charta finden und nachlesen kann. Wir sehen in unserer Arbeit, dass Unternehmen sich selbst oft sehr unterschiedlich einschätzen. Einige sind sehr engagiert und nutzen Diversität für ihre Arbeitgebermarke – sie tragen das Thema also stark nach außen, um sich für mögliche neue Mitarbeiter:innen interessant zu machen. Andere Firmen machen auch schon sehr viel, tragen das aber weniger nach außen. Sie trauen sich dann oft noch nicht, die „Charta der Vielfalt“ zu unterzeichnen, weil sie denken, ihr Engagement reicht noch nicht. Hier möchten wir mehr Klarheit schaffen, damit Unternehmen ihren „Reifegrad“ besser einordnen können.

Wie haben Sie passende Expert:innen für die Gespräche gefunden?

Rehfeld: Das Team der Charta hat uns unsere Interview-Partner:innen vermittelt und sichergestellt, dass die Personen sich wirklich mit dem Thema auskennen. Die Expert:innen kommen nicht nur aus den großen Unternehmen, die Mitglied der Charta sind und häufig befragt und zitiert werden. Es sind auch Personen aus kleinen und mittelständischen Unternehmen dabei, weil wir ein breites Bild bekommen möchten. Uns geht es dabei nicht nur darum, was die jeweiligen Unternehmen schon tun. Die Expert:innen wissen oft mehr, als sie schon konkret umsetzen können. Dieses Wissen möchten wir auch einbeziehen, um den Nutzer:innen unseres Modells später möglichst viele Empfehlungen mitgeben zu können.

Können Sie schon Beispiele für solche Empfehlungen nennen?

Würtemberger: Es beginnt immer mit der Haltung. Wir sehen oft, dass auch in kleinen Betrieben viel möglich ist, wenn die Geschäftsführung hinter dem Thema steht und das auch klar zeigt. Ein Unternehmen kann beispielsweise seine Werte in einem Dokument aufschreiben, das alle Mitarbeitenden kennen und neue Kolleg:innen unterschreiben müssen. Das kostet kein Geld, ist aber wichtig für alles, was dann im Arbeitsalltag passiert. Entscheidend ist, dass die Verantwortlichen einem möglichen Fehlverhalten wirklich nachgehen. Sie dürfen nicht konfliktscheu sein, sondern müssen zeigen, dass es ihnen ernst ist.

Rehfeld: Wir haben in unseren Gesprächen festgestellt, dass viele Unternehmen wirklich schon viel tun, oft aber nicht bewusst unter der Überschrift „Diversität und Inklusion“. Ein kleiner Betrieb legt beispielsweise viel Wert darauf, geschlechtergerechte und inklusive Sprache zu verwenden. Die Verantwortlichen formulieren zum Beispiel Stellenanzeigen so, dass sie alle ansprechen – das ist die Voraussetzung dafür, dass sich auch tatsächlich Menschen mit verschiedensten Hintergründen bewerben und das Team vielfältig werden kann. Wer sich damit noch nicht gut auskennt, kann Stellenanzeigen auf einer Website der Technischen Universität München kostenlos prüfen lassen. Und die Verantwortlichen können natürlich auch auf die Zahlen schauen und prüfen, wie das Geschlechterverhältnis unter den Mitarbeitenden ist und wie viele Menschen mit Beeinträchtigungen schon im Unternehmen arbeiten. Das kann der Geschäftsführung Anregungen geben, mit welchen Maßnahmen sie sich für ein vielfältigeres Team einsetzen kann.

Über unsere Interviewpartnerinnen




Vier Fragen an… Martina Methe, Teamleiterin beim LWL-Präventionsfachdienst Sucht und Psyche

#1
Frau Methe, warum ist es Ihrer Meinung nach wichtig, dass die Verantwortlichen in Betrieben sich mit Fragen rund um psychische Gesundheit und Prävention beschäftigen?

Beschäftigte haben heute deutlich mehr Krankheitstage als noch vor zehn Jahren. Fast die Hälfte der Fehltage ist auf psychische Erkrankungen zurückzuführen. Das liegt daran, dass Menschen mit diesen Erkrankungen besonders lange ausfallen, nämlich im Schnitt 43 Tage. Es kommt auch immer häufiger vor, dass aus psychischen Erkrankungen Schwerbehinderungen werden.
Für Unternehmen ist das eine große Herausforderung, deshalb ist mentale Gesundheit ein solch großes Thema geworden. Viele psychische Erkrankungen und auch Suchterkrankungen entwickeln sich aus psychischen Belastungen, die eigentlich vorübergehend sein könnten. Aber die Betroffenen und auch ihre Vorgesetzten verpassen oft den richtigen Moment, um die schleichende negative Entwicklung noch zu unterbrechen.

#2
Auf welche Warnzeichen sollten Führungskräfte achten, damit sie bei Bedarf frühzeitig etwas unternehmen können?

Wer sich durch eine private oder berufliche Situation stark belastet fühlt, ist nicht mehr so leistungsfähig wie sonst. Manche Menschen wirken dann betrübt, andere sind aufbrausend, manche kommen vielleicht häufiger zu spät zur Arbeit. All das sind unspezifische Alarmsignale, die auf ein größeres Problem hindeuten können. Führungskräfte sollten dann aber auch in der Lage sein, die Mitarbeiterin oder den Mitarbeiter auf das Thema anzusprechen.

#3
Psychische und Suchterkrankungen sind ein sehr persönliches und oft schwieriges Thema. Welchen Rat geben Sie Vorgesetzten, die mit einer Person aus ihrem Team ein Gespräch darüber führen möchten?

Konkrete Anlässe können ein guter Hebel sein, um ein Gespräch zu eröffnen und sich behutsam zu erkundigen, was los ist. Wenn jemand oft zu spät kommt, haben Vorgesetzte das Recht, dem nachzugehen und nachzufragen. Das ist einfacher und auch sinnvoller, als jemanden direkt mit dem Verdacht zu konfrontieren, dass sie oder er zum Beispiel eine Suchterkrankung haben könnte. Auch die Beschäftigen selbst sollten übrigens genauer hinschauen, wenn sie bei Kolleg:innen Veränderungen bemerken. Aber es braucht ein entsprechendes Betriebsklima, damit sie ihre Gedanken und Sorgen auch ansprechen. Dieses Klima müssen die Führungskräfte schaffen. Überhaupt ist Prävention vor allem ein Führungsthema.

#4
Was können oder sollten Führungskräfte zur Prävention tun?

Sie sollten sich im ersten Schritt einen Überblick verschaffen, wo sie in ihrem Betrieb ansetzen können. Dabei können diese drei Fragen helfen:

  • Welche Herausforderungen oder Belastungen könnten mit der Arbeit im Unternehmen oder in bestimmten Abteilungen einhergehen?
  • Welche Präventionsangebote gibt es schon?
  • Welche Lücken gibt es, wo fehlen also präventive Maßnahmen?

Sowohl Belastungen im Arbeitsalltag als auch vorbeugende Maßnahmen hängen in der Regel stark mit dem Führungsverhalten zusammen. Führungskräfte sollten sich deshalb auch selbst kritisch hinterfragen. Bleiben sie beispielsweise mit Mitarbeiter:innen im Gespräch, wenn diese erkrankt waren, und bieten bei Bedarf ein sogenanntes Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) an? Ein solches Verfahren ist für Unternehmen Pflicht, wenn jemand länger als 42 Tage krankgeschrieben war. Es ist zur Vorbeugung gedacht, damit die betroffene Person möglichst nicht wieder arbeitsunfähig wird. Aber jeder Betrieb kann das Angebot so offen gestalten, dass Mitarbeiter:innen sich auch schon bei kürzeren Krankheitszeiten melden und Unterstützung suchen können. Ebenso wichtig ist es, auf mögliche Risiko- und Stressfaktoren bei einzelnen Personen im Team zu achten. Führungskräfte sollten hierzu bei Bedarf auch geschult werden. Wenn jemand zum Beispiel sehr perfektionistisch ist, sollte die oder der Vorgesetzte die Arbeit etwas enger begleiten und strukturieren, damit die Person nicht ständig zu viel Zeit und Energie in kleine Details steckt. Darüber hinaus können die Verantwortlichen auch Anlaufstellen für Mitarbeiter:innen schaffen, die sich in einem vertraulichen Rahmen informieren und Rat holen möchten.




„Ein Hörfilm soll ein Genuss sein“

Frau Sallam, welche Informationen und Inhalte sollte eine gute Audiodeskription vermitteln?

Das ist sehr unterschiedlich. Eine gute Audiodeskription richtet sich nach dem jeweiligen Film, und jeder Film braucht etwas anderes. Wie viele Dialoge gibt es, welche Informationen stecken schon in diesen Gesprächen? Wie viele Handlungen oder Bilder müssen zwischen den Dialogen beschrieben werden? Und was ist überhaupt das Spannende und Besondere an einem Film? Über solche Fragen müssen wir Filmbeschreiber:innen nachdenken. Grundsätzlich ist es wichtig, den Hörer:innen eine gute Orientierung zu geben, etwa, indem wir Personen und Orte einheitlich benennen. Wenn die Handlung in einer Villa spielt, sollte diese nicht plötzlich „Haus“ heißen. Es geht aber nicht nur um reine Informationen, sondern zum Beispiel auch um Humor. Wir müssen Pointen und Witze so vorbereiten, dass sie auch beim Hören zu verstehen sind und die Zuhörer:innen zum Lachen bringen – am besten genau im richtigen Moment, zusammen mit den Sehenden.

All das müssen Sie in kurzen Beschreibungen unterbringen, die zwischen die Dialoge der Figuren im Film passen?

Ja, das ist oft eine Herausforderung. Wir beschreiben in jeder Szene das Markanteste und Wichtigste, so konkret wie möglich und in möglichst knappen Worten. Manchmal müssen wir lange suchen, bis wir den passenden Begriff finden. Und wir überlegen immer wieder, was wir wirklich in die Audiodeskription aufnehmen müssen, weil wir sie ja auch nicht überfrachten wollen. Wenn an der Stimme zu hören ist, dass eine Person aufgeregt ist, müssen wir ihr nervöses Gesicht nicht beschreiben.

Übrigens sollte die Audiodeskription nicht nur Platz für die Dialoge lassen. Auch Geräusche brauchen Raum und sind sehr wichtig für die Handlung oder die Stimmung eines Films. Wenn es sehr viele Geräusche gibt, ist es natürlich manchmal nötig, zeitgleich eine Beschreibung darüberzulegen. Aber das sollte nicht ständig passieren. Zugleich muss die Audiodeskription manche Geräusche erklären. Wenn ein Pferd wiehert, ist in der Szene vielleicht eine Weide zu sehen. Und wenn ein Klirren zu hören ist, weil ein Glas vom Tisch gefallen ist, gehört das auch in die Beschreibung. Ein Hörfilm sollte ein Genuss sein. Dazu muss die Beschreibung gute Bilder erzeugen und von professionellen Sprecher:innen im Tonstudio eingesprochen werden.

Wie erarbeiten Sie eine Audiodeskription in Ihrem Team?

Die sehenden Filmbeschreiber:innen machen den Anfang. Sie schauen sich den Film an und machen sich Notizen, wenn sie etwas besonders wichtig finden oder beispielsweise eine Person schwierig zu beschreiben ist. Dann erstellen sie einen Entwurf für eine Audiodeskription und sprechen sie probeweise ein. Anschließend kommen meine sehbehinderte Kollegin oder ich dazu und gehen diese erste Fassung mit der Autorin oder dem Autor durch. Das ist eine sehr intensive Arbeitsphase, die rund einen Tag dauert. Wir hören ganz genau hin und besprechen gemeinsam, wo wir nacharbeiten müssen.

Andere Produktionsfirmen gehen andersherum vor. In unserem Beruf gibt es inzwischen immer mehr junge Kolleg:innen, die blind sind und mit der Unterstützung einer Arbeitsassistenz arbeiten. Sie erstellen dann direkt die Audiodeskription. Die angehenden sehenden Autor:innen arbeiten in diesen Teams dagegen erst einmal als Assistent:innen, um von den blinden Autor:innen zu lernen. Auch diese Arbeitsweise finde ich ein spannendes Modell.

Auf welche Dinge achten Sie, wenn Sie den Entwurf einer Audiodeskription zum ersten Mal anhören?

Ich prüfe, ob inhaltlich alles verständlich ist, ob alle Geräusche erklärt werden und ob vielleicht doch noch zu viele Dinge beschrieben werden, die sich schon aus den Dialogen ergeben. Manchmal stelle ich Rückfragen dazu, wie bestimmte Orte oder Räume aussehen. Dabei kann es um Details wie zum Beispiel Fotos gehen, die an den Wänden hängen und auf die später im Film noch einmal Bezug genommen wird. Umgekehrt schlage ich manchmal vor, Details zu streichen, weil sie nicht so wichtig sind und den Hörfilm eher überladen. Je ausführlicher eine Audiodeskription ist, desto anstrengender ist das Zuhören, weil man ja gleichzeitig auch die Dialoge verfolgen und auf Geräusche achten muss. Mein Tipp an sehende Filmbeschreiber:innen ist deshalb, sich den Hörfilm am Ende noch einmal mit geschlossenen Augen anzuhören. Und sie sollten immer daran denken, dass ihre Texte dem Film dienen müssen. Es geht nicht um die Texte an sich. Das ist manchmal schwierig für Autor:innen.

Welche Fähigkeiten und Eigenschaften sollten angehende Filmbeschreiber:innen haben – sehend oder blind?

Für unseren Beruf braucht es ein sehr gutes Gefühl für Sprache und viel Liebe zum Medium Film. Außerdem ist genaues Hören sehr wichtig. Filmbeschreiber:innen sollten immer wieder trainieren, gut hinzuhören.

Wie sind Sie selbst zu Ihrem Beruf gekommen?

Ich habe Germanistik und Philosophie studiert und danach erst einmal beim NDR gearbeitet, wo ich Hörspiele lektoriert habe. Ich hatte schon immer eine Sehbehinderung, konnte früher aber noch sehen. Damals bin ich gerne ins Kino gegangen, zusammen mit einer nicht sehbehinderten Person, die mir vieles auf der Leinwand beschrieben hat. Als die ersten Hörfilme kamen, war ich total begeistert. Ich habe bei der „Deutsche Hörfilm gGmbH“ eine Ausbildung zur Filmbeschreiberin absolviert, inzwischen arbeite ich seit fast 24 Jahren für das Unternehmen. Ich schreibe aber nicht nur Beschreibungstexte für Filme, sondern auch für andere Kulturangebote. Zurzeit erarbeite ich in einem Pilotprojekt die Audiodeskription für Cartoons. Vor kurzem habe ich mit der Berliner „Schaubühne“ zusammengearbeitet und unter anderem die Audiodeskriptionen für die Stücke „Die Affaire Rue de Lorcine“, „Richard III“ und „Nachtland“ mitentwickelt. Immer mehr Theater lassen sich auf so etwas ein, das finde ich eine sehr schöne Entwicklung.

Sie werden also auch von neuen Auftraggeber:innen angefragt. Geht es Ihrer Branche demnach insgesamt gut?

Ja und nein. Wir müssen leider immer häufiger darum kämpfen, dass blinde Autor:innen an Filmproduktionen mitarbeiten oder diese abnehmen dürfen. Viele neue Produktionsfirmen möchten günstig sein und schnell Texte liefern, deshalb schreiben dort Autor:innen ohne Sehbehinderung die Audiodeskriptionen allein. Das sehe ich kritisch. Damit ein Hörfilm richtig gut wird, ist es wichtig, gründlich zu analysieren und die Texte auch im Team zu diskutieren. Sehende Menschen erfassen beispielsweise in Action-Szenen sehr viele Handlungen und Details gleichzeitig, innerhalb von Sekunden. Wenn all das mit Worten beschrieben wird, geht das natürlich nur linear, also nacheinander. Nur blinde oder sehbehinderte Menschen können wirklich beurteilen, wie gut so etwas in der Audiodeskription umgesetzt ist. Sehende Kolleg:innen sollten die inklusive Zusammenarbeit deshalb einfordern. —




Tipps für mehr Barrierefreiheit und Inklusion, Teil 3: Die „Teilhabe 4.0“-Toolbox

Das Portal „Teilhabe 4.0“ ist eine Sammlung aus Werkzeugen, Checklisten, Leitfäden und Informationen und richtet sich nach eigenen Angaben an Mitarbeiter:innen der Arbeitsbereiche Management, Beschaffung, Öffentlichkeitsarbeit und Entwicklung – aber auch alle anderen Interessierten können die Toolbox nutzen. Mit dem „Tool-Finder“ können Suchergebnisse gezielt nach konkretem Bedarf gefiltert werden. Daraufhin erscheinen etwa Informationen zu Assistenztechnologien, Einfacher oder Leichter Sprache, der Entwicklung von Apps, inklusivem Design oder zu rechtlichen Grundlagen.

Wie die Beiträge in der Toolbox aussehen und aufgebaut sind, stellen wir anhand von drei Beispielen vor.

Screenshot des Toolbox-Eintrags „Check-Artikel“
Übersichtsseite des Eintrags „Check-Artikel“. Screenshot: Toolbox Teilhabe 4.0 | Kompetenzzentrum Barrierefreiheit Volmarstein (KBV)

Mit dem digitalen Fragebogen werden schrittweise verschiedene Qualitätsanforderungen an einen Text abgeklopft – beispielsweise, ob im Artikel eine diskriminierungsfreie Sprache verwendet wurde. Direkt bei der Frage wird auf weiterführende Angebote wie die Website leidmedien.de verlinkt, die konkrete Tipps zur Erfüllung dieser Anforderung geben.

Screenshot einer Beispiel-Frage aus dem Fragebogen „Check-Artikel“
Beispiel-Frage aus dem Fragebogen „Check-Artikel“. Screenshot: Toolbox Teilhabe 4.0 | Kompetenzzentrum Barrierefreiheit Volmarstein (KBV)

Eine weitere Frage in der „Check-Artikel“-App ist, ob der Wechsel zu einer anderen Sprache, beispielweise zu Englisch, im Artikel korrekt gekennzeichnet wurde. Der Hintergrund: Screenreader können einen Sprachwechsel nicht ohne weiteres erkennen, wenn das Fremdwort ungewöhnlich oder selten ist und daher nicht im Duden vorkommt. Deshalb ist es notwendig, in solchen Fällen das Attribut „lang“ (für „language“) einzufügen und zu markieren, dass die Sprache in einem oder über mehrere Wörter hinweg zu Englisch wechselt. Auch Abkürzungen können durch ein eigenes Attribut gekennzeichnet und so für Screenreader lesbar aufgelöst werden – oder sie werden von vorn herein vermieden, was ebenfalls eine barrierefreie Lösung beim Schreiben von Texten ist.

Screenshot einer Beispiel-Frage aus dem Fragebogen „Check-Artikel“
Beispiel-Frage aus dem Fragebogen „Check-Artikel“. Screenshot: Toolbox Teilhabe 4.0 | Kompetenzzentrum Barrierefreiheit Volmarstein (KBV)

So geht es Schritt für Schritt weiter, bis idealerweise alle Anforderungen an den Text geprüft wurden und erfüllt sind. Am Ende gibt es einen Bericht, der zeigt, was schon erfüllt ist und welche Bereiche des Textes noch bearbeitet werden sollten. Das Tool „Check-Artikel“ hilft so dabei, an einem ganz konkreten Anwendungsfall und fast wie nebenbei eine Menge darüber lernen, worauf es beim barrierefreien Schreiben und Veröffentlichen von Texten ankommt – und die gefundenen Probleme direkt zu beheben.

Übrigens: Das Tool „Check-Text“ ist sehr ähnlich aufgebaut, bei diesem geht es aber darum, in Microsoft Word verfasste Texte auf Barrierefreiheit zu überprüfen. Dafür gelten nämlich etwas andere Anforderungen als für Web-Artikel.


Screenshots eines Abschnitts zu Alternativtexten aus dem Toolbox-Eintrag „Barrierefrei Texten fürs Web“.
Abschnitt zu Alternativtexten aus dem Toolbox-Eintrag „Barrierefrei Texten fürs Web“. Screenshot: Toolbox Teilhabe 4.0 | Kompetenzzentrum Barrierefreiheit Volmarstein (KBV)

In diesem Kapitel werden in mehreren Teilabschnitten die wichtigsten Infos zu den einzelnen Bereichen kompakt und anschaulich aufbereitet, die beachtet werden sollten. Außerdem gibt es immer wieder Beispiele und weiterführende Links. Interessierte können sich so sehr fundiert mit dem Thema beschäftigen und schrittweise die eigene Redaktionsarbeit an die Anforderungen anpassen.


Screenshot des Toolbox-Eintrags „Modularer Leitfaden für Entwickler:innen“

Wird dieser Leitfaden befolgt und entsprechend gefiltert, taucht in den Suchergebnissen beispielsweise ein Test-Tool auf, mit dem der Kontrast einer Anwendung überprüft werden kann, oder ein Dossier von Microsoft rund um inklusives Design – das allerdings auf Englisch ist.

Insgesamt enthält die Toolbox über 200 Einträge zu verschiedenen Arbeitsbereichen. Diese Tatsache und die drei vorgestellten Beispiele zeigen schon, was die besondere Qualität dieses Portals ist: Es sammelt und strukturiert fundiertes Wissen und nützliche Werkzeuge für ganz verschiedene Zielgruppen und Anwendungsfälle so, dass sie leicht zugänglich, schnell auffindbar und gut aufzunehmen sind. Mit eigenen Recherchen im Netz lässt sich das kaum oder gar nicht erreichen. Einziges Manko der Toolbox: Manche externen Inhalte gibt es nur auf Englisch, was für einige Nutzer:innen eine sprachliche Hürde sein könnte.

Unabhängig davon sind die Inhalte, die in den Beiträgen der Toolbox zusammengetragen werden, stets anschaulich und kompakt aufbereitet – und dennoch sind gerade die weiterführenden Inhalte tiefgreifend genug, dass auch eine fachliche Auseinandersetzung mit einem Thema möglich ist.




Forschung und praktisches Wissen rund um Inklusion: Der Masterstudiengang ‚Rehabilitationswissenschaften‘ an der Uni Köln

Frau Niehaus, welche Inhalte lehren Sie in Ihrem Fach „Inklusionsmanagement und Rehabilitation in der Arbeitswelt“?

Niehaus: Wir vermitteln neben Theorien und Konzepten auch viel praktisches Wissen über das System der beruflichen Rehabilitation und über Inklusion im Beruf. Dazu laden wir beispielsweise Expert:innen von Inklusionsämtern, Integrationsfachdiensten und Sozialversicherungsträgern wie der Deutschen Rentenversicherung oder einer Unfallversicherung ein. Sie erklären, welche Aufgaben ihre jeweilige Institution hat und was sie für die Inklusion im Arbeitsleben tut. Unsere Studierenden lernen außerdem die rechtlichen Grundlagen kennen, nach denen alle diese Akteure arbeiten.
Der zweite große Themenblock sind wichtige Begriffe und andere Grundlagen, auf dem das berufliche Reha-System aufbaut: Was ist der Unterschied zwischen Behinderung und Krankheit? Wann ist eine Person beschäftigungsfähig, kann also auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Stelle finden und dauerhaft arbeiten? Und was ist eigentlich das Ziel von beruflicher Rehabilitation?
In einem dritten Block vermitteln wir die Methoden, mit denen wir in unserem Fachbereich forschen. Die Studierenden lernen auch, wie sie Erfahrungen mit inklusivem Arbeiten aus anderen Ländern einbeziehen und welche gesellschaftlichen Veränderungen und technischen Innovationen künftig eine Rolle spielen können.

Welche Vorkenntnisse oder welchen Abschluss sollten Studierende haben, damit sie sich für diesen Masterstudiengang einschreiben können?

Niehaus: Unsere Master-Studierenden kommen aus verschiedensten Bachelor-Studiengängen zusammen. Einige haben zuvor Sonder- oder Heilpädagogik studiert, andere kommen eher aus dem Bereich der Psychologie sowie den Erziehungs- und Gesundheitswissenschaften. Manchmal schreiben sich auch Studierende aus dem Lehramt-Studiengang Sonderpädagogik ein, die sich nach dem Bachelor doch für eine Laufbahn außerhalb der Schule entschieden haben.

Und welche Berufe stehen ihnen mit dem Masterabschluss offen?

Niehaus: Viele ehemalige Studierende arbeiten bei Integrationsfachdiensten oder anderen Rehabilitationsträgern. Manche bekommen schon während des Studiums Jobangebote, wenn die Reha-Träger sich und ihre Arbeit in unseren Seminaren vorstellen. Die Verantwortlichen bei den Trägern schätzen das Wissen, das wir im Studiengang vermitteln, und möchten bei uns gerne künftige Fachkräfte für sich gewinnen. Andere ehemalige Studierende sind jetzt als Referent:innen oder in der Projektentwicklung bei Sozialversicherungsträgern oder in Unternehmen tätig. Und einige unterstützen im Programm KAoA-STAR (Anm.: Abkürzung für „Kein Abschluss ohne Anschluss – Schule trifft Arbeitswelt“) Jugendliche im Übergang zwischen Schule und Arbeitsleben.

Frau Groß, Sie haben den Masterstudiengang „Rehabilitationswissenschaften“ absolviert und sind als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Mathilde Niehaus geblieben. Warum haben Sie sich für diese Fachrichtung entschieden?

Groß: Ich habe meinen Bachelor in Psychologie gemacht und während des Studiums auch schon Praktika absolviert. Dabei habe ich aber gemerkt, dass mir das Fach inhaltlich zu eng war. Der Masterstudiengang „Rehabilitationswissenschaften“ ist dagegen sehr praxisnah und interdisziplinär aufgebaut. Dadurch gibt es auch viele Möglichkeiten, sich weiter zu spezialisieren. Das gefiel mir.

In welchem Bereich forschen Sie jetzt?

Groß: Ich habe meine Masterarbeit über Inklusionsbeauftragte in Unternehmen geschrieben. Sie achten als Vertreter:innen der Arbeitgebenden darauf, dass diese ihre gesetzlichen Pflichten gegenüber Menschen mit (Schwer-)Behinderung im Unternehmen einhalten. Inklusionsbeauftragte sind also sozusagen das Gegenstück zu den Schwerbehindertenvertretungen. Es hat sich aber noch kaum jemand wissenschaftlich damit beschäftigt, wie die Arbeit dieser Menschen in der Praxis genau aussieht. Das ist bis heute eines meiner Schwerpunktthemen.
Außerdem arbeite ich im Projekt Role Models mit, das die Uni Köln gemeinsam mit der Fortbildungsakademie der Wirtschaft umsetzt. Wir möchten darin erarbeiten, ob und wie Menschen mit Schwerbehinderung in Führungspositionen zu Vorbildern für betriebliche Inklusion werden können, also zu „Role Models“.

Frau Niehaus, Sie haben den Masterstudiengang vor zehn Jahren entwickelt. Wie sind Sie selbst zum Thema der beruflichen Inklusion gekommen?

Niehaus: Ich habe nach meinem Studium an einem wirtschaftswissenschaftlichen Projekt mitgearbeitet, in dem wir Arbeitsmarktdaten ausgewertet haben. Eine Datengruppe in dieser Auswertung hieß „Menschen mit Schwerbehinderung“. Es hat mich gewundert, dass damals innerhalb dieser Gruppe nicht nach Geschlecht differenziert wurde. Ich habe mich gefragt: Wie ist eigentlich die Situation von Frauen mit Behinderung? Ich habe diese Frage weiterverfolgt und meine Doktorarbeit über die soziale Lage von Frauen mit Behinderung geschrieben.
Ein Ergebnis meiner Forschungsarbeit war: Frauen mit Behinderung hatten es auf dem Arbeitsmarkt besonders schwer. Ich bin also über diese Datenanalyse zum Thema gekommen und dabei geblieben. Deshalb war es für mich auch ein Herzensanliegen, den Studiengang hier in Köln aufzubauen. Viele Professor:innen der Sonderpädagogik beschäftigen sich mit Inklusion in der Schule und mit Förderschulen. Aber kaum jemand denkt an die Zeit nach der Schule. Da habe ich eine Lücke und einen großen gesellschaftlichen Bedarf gesehen, gerade mit Blick auf den demografischen Wandel. Wenn Menschen in Zukunft länger arbeiten müssen, werden immer mehr von ihnen eine Behinderung oder gesundheitliche Beeinträchtigung haben und nicht mehr der scheinbaren „Normalität“ im Erwerbsleben entsprechen. Damit müssen wir uns beschäftigen.

Zu welchen Themen oder Projekten möchten Sie beide in Zukunft gerne noch forschen?

Niehaus: Eine wichtige Frage wird sicher sein, welchen Einfluss der Klimawandel auf die Arbeitswelt und speziell auf Menschen mit Behinderung hat. Auch die Themen Digitalisierung, künstliche Intelligenz und mobiles Arbeiten haben natürlich einen großen Stellenwert. Dabei geht es nicht zuletzt um die Gesundheit der Beschäftigten. Was bedeutet eigentlich menschengerechte Arbeit? Was ist eine gute Arbeit? Wenn wir von Inklusion als Ziel sprechen, kommt es auch auf solche Fragen an. Zu Hause haben Menschen zum Beispiel oft keinen gut angepassten Arbeitsplatz oder Hilfsmittel. Menschen mit Behinderung brauchen diese Ausstattung dann eigentlich doppelt, damit sie nicht unter schädlichen Bedingungen arbeiten müssen. Gleichzeitig kann das Home Office auch entlasten und dazu beitragen, dass Menschen besser arbeiten können, weil sie nicht so oft zum Unternehmen fahren müssen.

Groß: Ich beobachte, dass sich der Fokus erweitert. Früher ging es bei Inklusion vor allem um Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Inzwischen erkranken immer mehr Menschen auch psychisch, und zwar oft schon in jungen Jahren. Solche Erkrankungen werden heute auch viel früher thematisiert. Gleichzeitig gibt es bei Verantwortlichen in Unternehmen und auch bei Arbeitnehmer:innen noch viele Unsicherheiten, außerdem trauen sich viele Menschen mit unsichtbaren Beeinträchtigungen nicht, diese offenzulegen, weil sie Angst vor Stigmatisierung haben. Ich denke, das wird in Zukunft auch für die Forschung ein wichtiges Thema sein.

Über unsere Interviewpartnerinnen




Wie die Bundesagentur für Arbeit schwerbehinderte Akademiker:innen unterstützt (Interview)

Herr Jüdes, Sie und Ihr Team unterstützen Akademiker:innen mit Schwerbehinderung bei der Jobsuche. Wie stehen zurzeit deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt?

In vielen Unternehmen fehlen Fach- und auch Führungskräfte. Unser Team bekommt Anfragen und Stellenausschreibungen von Unternehmen zugesandt. In manchen Berufen sind es mehr Stellen als passende Bewerber:innen, die wir betreuen und vermitteln könnten. Die Chancen stehen insgesamt also recht gut. Wie in allen Gruppen wird es allerdings auch für Arbeitssuchende mit Uni-Abschluss schwieriger, je älter sie sind.

Wie helfen Sie Arbeitssuchenden dabei, eine neue Stelle zu finden?

Wir beginnen mit einem klassischen Erstgespräch: Welchen Studienabschluss hat die Person? Hat sie auch promoviert? Welche weiteren Qualifikationen bringt sie mit, was waren bisher ihre Schwerpunkte? Wir möchten zusammen mit den Arbeitssuchenden einschätzen, welches Arbeitsfeld passen könnte und welche beruflichen Ziele sie jeweils verfolgen. Wichtig ist auch, ob jemand in eine andere Stadt umziehen kann und wie weit diese weg sein darf. Wir versuchen außerdem gemeinsam herauszufinden, welche Auswirkungen eine Behinderung auf die gewünschte Tätigkeit hat, ob es also im Interesse der arbeitssuchenden Person wäre, den Arbeitgeber darüber zu informieren und früh über mögliche Hilfsmittel zu sprechen. Wenn all das geklärt ist, suchen wir gemeinsam nach passenden Stellenangeboten und geben Tipps für die Bewerbung. Manche Arbeitssuchenden machen sich Sorgen, ob sie im Bewerbungsverfahren bestehen können, weil sie zum Beispiel wegen einer Erkrankung lange aussetzen mussten oder sich aus anderen Gründen länger nicht mehr auf Stellen beworben haben. Deshalb bieten wir ihnen bei Bedarf ein fünftägiges Coaching an.

Was passiert in diesem Coaching?

Wir üben mit den Arbeitssuchenden intensiv, sich in Vorstellungsgesprächen zu gut präsentieren. Neben diesem klassischen Bewerbungstraining laden wir außerdem Entscheider:innen aus der Wirtschaft ein. Sie erzählen, worauf sie in Bewerbungsgesprächen achten. Mit diesem Wissen können die Bewerber:innen sich später besser vermarkten. Das ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil bei vielen Verantwortlichen in Unternehmen leider immer noch Vorurteile und Bedenken gegenüber Akademiker:innen mit Schwerbehinderung vorhanden sind.

Umgekehrt wenden sich aber ja auch Arbeitgeber:innen an Sie, die gezielt Menschen mit Behinderung einstellen möchten. Wie können Sie sie unterstützen?

Für Unternehmen ist erst einmal die Arbeitsagentur vor Ort zuständig. Wir kommen immer dann zusätzlich ins Spiel, wenn für eine Stelle eine Person mit akademischem Abschluss gesucht wird. In diesem Fall veröffentlichen wir die Stellenanzeige oder -ausschreibung und beraten die Verantwortlichen bei Bedarf dabei, wie sie diese Anzeige formulieren sollten. Meistens haben wir zwischen 600 und 800 offene Stellen in unserem Portal. Wir prüfen bei jeder Anzeige, ob wir direkt jemanden vermitteln können und welche finanzielle Förderung in Frage kommt. Alle Stelleninformationen verschicken wir außerdem anonymisiert über einen sehr großen E-Mail-Verteiler. Mit diesem Newsletter erreichen wir auch ehemalige Bewerber:innen, die inzwischen schon einen Job gefunden haben, sich aber vielleicht beruflich noch einmal verändern möchten. Umgekehrt bekommen Unternehmen über einen ähnlichen Newsletter anonymisierte Profile der Bewerber:innen, aus denen nur die Qualifikationen und der Wohnort hervorgehen. Auf diese Weise können wir schon etliche Stellen vermitteln. Manchmal müssen wir aber auch mehr beraten und erst einmal falsche Erwartungen auflösen.

Welche falschen Erwartungen gibt es zum Beispiel?

Meistens geht es darum, dass Unternehmen das Stellenprofil sehr eng gefasst haben. Wir weisen sie dann auf mögliche Alternativen hin. Für Bürotätigkeiten, Stellen in der Verwaltung oder auch Führungsaufgaben suchen Firmen zum Beispiel häufig nach Verwaltungswissenschaftler:innen oder Menschen mit einem BWL- oder VWL-Abschluss. Lehrer:innen oder Menschen, die im Journalismus gearbeitet oder Sprachwissenschaften studiert haben, kommen dafür aber durchaus auch in Frage. Auch im wissenschaftlichen Bereich sollten sowohl Arbeitgeber:innen als auch Arbeitssuchende inhaltlich verwandte Studiengänge in Betracht ziehen. Wir möchten beide Seiten dazu ermutigen, ihren Blick etwas zu weiten und dadurch für alle die Chancen zu erhöhen.

In welche Branchen und Unternehmen vermitteln Sie besonders häufig neue Mitarbeiter:innen mit Schwerbehinderung auf einen Arbeitsplatz?

Das ist sehr breit gefächert. Wir bekommen zum Beispiel Stellenanzeigen von großen Unternehmen, Bundesministerien und anderen öffentlichen Arbeitgebern, Vereinen und Bundesverbänden, die Bewerber:innen für klassische Bürojobs suchen. Im wissenschaftlichen Bereich gehören Unis, das Robert-Koch-Institut, Fraunhofer-Institute und ähnliche Einrichtungen zu unserem Netzwerk. Viele Unternehmen suchen Ingenieure und IT-Spezialist:innen – insbesondere in der IT können wir die große Nachfrage gar nicht bedienen. Auch Menschen, die Rechtswissenschaften, Betriebs- oder Volkswirtschaft studiert haben, sind gefragt.