Das Hotel „Haus vom Guten Hirten“: ein inklusives Team und ein barrierefreies Haus

Das Hotelzimmer ist geräumig, gemütlich und ordentlich; wer es betritt, möchte gleich die Füße hochlegen und entspannt abschalten. Wie es in einem guten Hotel sein sollte. Und der Anspruch des Hauses ist: Nicht nur die Gäste sollen sich wohlfühlen, sondern auch die Mitarbeiter:innen.

Seit 2009 ist das Hotel vom Guten Hirten ein inklusiver Betrieb. 13 der 18 Beschäftigten haben eine Schwerbehinderung oder eine Gleichstellung, also einen Grad der Behinderung von weniger als 50, aber mehr als 30. „Wir leben das hier“, erzählt Kersten. Ein Besuch im Hotel zeigt, was hinter der Aussage steckt. Das gesamte Haus ist barrierefrei gestaltet. Nach dem Prinzip „Reisen für alle“ wird hier Inklusion für die Gäste ebenso möglich gemacht wie für die Mitarbeiter:innen.

Ein Ort mit Geschichte

Das Hotel befindet sich auf einem ehemaligen Klostergelände im grünen Mauritzviertel im Osten von Münster, in dem ehemaligen Schwesternhaus der Anlage. Es grenzt direkt an die soziale Einrichtung der Schwestern vom Guten Hirten, die wie das Hotel in Trägerschaft der Schwestern vom Guten Hirten steht. Die Schwestern kümmerten sich hier früher um Frauen, die aus der Gesellschaft ausgestoßen wurden, und gaben ihnen die Möglichkeit, sich durch eine Berufsausbildung selbstständig zu machen. Inzwischen sind hier eine Wohn- und eine Pflegeeinrichtung für Menschen mit Behinderung sowie eine Kindertagesstätte angesiedelt.

Sema Franke ist schon seit Jahrzehnten in der Ordensgemeinschaft der Schwestern vom Guten Hirten tätig und nun auch Inklusionsbeauftragte des Hotels. Als das Gästehaus der Schwestern im Jahr 2009 in ein Hotel umgebaut wurde, gab es ein klares Ziel: „Der soziale Grundgedanke musste berücksichtigt werden, es sollte mehr sein als ‚nur‘ ein Hotel“, erinnert sie sich.

Die Arbeit im Haus vom Guten Hirten folgt dem gleichen Leitbild wie das damalige Kloster. Eine ehemalige Generaloberin, die mittlerweile heiliggesprochene Schwester Maria Euphrasia, hat in acht Grundsätzen die Haltung des Klosters und seine Verantwortung für die Menschen formuliert und in den Folgejahren weiterentwickelt. Es gehe darum, „den Menschen als ganzheitliche Persönlichkeit zu sehen und ihm so zu begegnen, dass sich jeder in seiner Einmaligkeit und seiner Würde erfahren kann, und ihn so zu begleiten, dass er seine Begabungen und Begrenzungen als Chance sieht.“ So steht es bis heute in der Leitbild-Broschüre.

Der Leiter des Hotels Kai-Uwe Kersten vor dem Haus.
Für Hotelleiter Kai-Uwe Kersten ist Inklusion Teil des Gesamtkonzepts. Foto: Kopfkunst/LWL

Ein Leitbild zum Mitleben

Das Leitbild bestimmt die Praxis und das Tagesgeschehen vor Ort. Um gut inklusiv zu arbeiten, müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Kleine Fehler wie die Falte im Bettbezug oder ein Messer auf der falschen Tischseite kommen zwar vor, passieren aber genauso auch in anderen Häusern. Den Gästen fallen kleinere Makel ohnehin oft gar nicht auf, und wenn doch, wird erfolgreich vermittelt.

Das Konzept geht auf: Seit zwei Jahren ist das Haus ein Drei-Sterne-Hotel, laut Kersten war der Standard schon lange vorher erfüllt. Das Feedback sei rundum gut, die Gäste schätzen die geräumigen Zimmer, die ruhige Lage, das ausgiebige Frühstück und das zuvorkommende Personal.

Gerade bei der Barrierefreiheit macht das Leitbild des Hotels für viele Gäste einen Unterschied. Menschen mit Behinderung können im Vorfeld ihre Wünsche oder Bedürfnisse kommunizieren, so dass das Personal darauf Rücksicht nehmen kann. Rollstuhlfahrer:innen wird beim Eindecken mehr Platz an den Tischen eingeräumt, den Begleitpersonen werden Organisation und Unterstützung zu gewissen Teilen abgenommen, und auch kleine Pflegeleistungen werden angeboten.

Ein schönes Beispiel dafür, was all das für die Gäste bedeutet: Ein mittlerweile langjähriger Stammgast konnte früher die Reise zu seiner Familie in Münster wegen einer Schwerbehinderung nur unter hohem Aufwand bewältigen. Seit das Haus vom Guten Hirten ein Pflegebett angeschafft und das Pflegeangebot eingerichtet hat, konnte der Trip deutlich vereinfacht werden – und somit ein richtiger Urlaub.

Im Film erklärt Hotelleiter Kai-Uwe Kersten das Konzept seines Hauses und beschreibt, was er an seinem Team so schätzt.

Ein offenes Miteinander

Marjam Said arbeitet an der Rezeption. Die 23-Jährige hat eine Hörbehinderung. Das fällt den Gästen in der Regel nicht gleich auf, zumal ihre Hörgeräte unter ihrem Kopftuch verschwinden. Eine Glasfront an der Rezeption erschwert die Kommunikation zwischen Said und den Gästen manchmal zusätzlich. Aber auch solche Schwierigkeiten lassen sich durch ein kurzes Gespräch erklären und auflösen. „Manchmal müssen sich die Gäste eben wiederholen“, fasst es die Rezeptionistin zusammen. Aber da gebe es nie Probleme.

„Es geht auch um Selbstverständlichkeit“, findet die Inklusionsbeauftragte Sema Franke. Die entstehe, wenn beide Seiten offen mit dem Thema umgehen können. Franke erlebt die Gäste als aufgeschlossen und bereit für dieses offene Miteinander.

Perspektiven und Zukunftsmusik

Auch für die Belegschaft scheint das Konzept aufzugehen; die Umgestaltung 2009 sollte laut Franke schließlich auch die beruflichen Perspektiven der inklusiven Belegschaft grundlegend miteinbeziehen. Marjam Said wollte ursprünglich eine Ausbildung im Einzelhandel machen, bekam in dem Bereich aber keine Stelle. Mit Unterstützung des vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe beauftragten Integrationsfachdienstes fand sie einen Praktikumsplatz im Hotel und konnte eine Ausbildung zur Hotelfachfrau beginnen. Im Vergleich zu einer theoriereduzierten Ausbildung war dies eine Entscheidung für die deutlich größere Herausforderung, da ihr der Unterricht an der Berufsschule wegen ihrer Hörbehinderung schwerer fiel als ihren Mitschüler:innen. Doch es war ihr wichtig, durch die abgeschlossene Ausbildung später verschiedene Möglichkeiten zu haben, sich beruflich weiterzuentwickeln.

Während der Ausbildung wurde sie von Kolleg:innen im Betrieb unterstützt, danach übernahm das Hotel sie sofort. Da sie ein Händchen für Computer hat und gerne im Kontakt mit den Gästen ist, passt die Arbeit an der Rezeption perfekt zu ihr. Für die Zukunft hat sie viele Optionen, für den Moment ist sie aber mit ihrem Arbeitsplatz zufrieden: „Alles in allem macht es hier einfach Spaß.“

Mitarbeiterin Stefanie Frie bei der Arbeit
Stefanie Frie arbeitet schon seit 21 Jahren im Hotel. Foto: Kopfkunst/LWL

Stefanie Frie kann dem nur beipflichten. Sie arbeitet hauptsächlich im Service und ist schon seit 21 Jahren im Unternehmen. Sie steht im – noch leeren – Restaurant und macht die letzten Handgriffe mit einem Lächeln im Gesicht. „Ich habe einfach gerne Menschen um mich herum“, erzählt die 51-Jährige, „und wenn die Gäste morgens schon mit guter Laune zum Essen kommen, muntert das auf.“ Gerade, wenn man mal etwas platter zur Arbeit käme, sei das wichtig, ergänzt sie grinsend.

Gemeinsam nach vorne

Generell ist das Miteinander essenziell für das gute Arbeitsklima. „Wir unterstützen uns gegenseitig gut“, sagt Frie. Was dem einen vielleicht nicht so gut gelinge, könne jemand anders auffangen. „Wir achten darauf, die Teams so zusammenzusetzen, dass es sich gut ergänzt“, beschreibt Kersten das Tagesgeschäft. Darauf müssen sich alle einlassen und bereit sein, mit anzupacken.

In den kommenden Jahren sollen Teile des Gebäudes abgerissen und das umliegende Gebiet neugestaltet werden. Kersten freut sich insbesondere auf die neuen Berührungspunkte zwischen den einzelnen Einrichtungen und die Synergien, die sich entwickeln können. Wer Angehörige im Wohnheim besuchen will, kann im Hotel übernachten. Die Bewohner:innen der Einrichtungen können gemeinsam auch in den neuen Restaurants oder Bistros zu Abend essen. Insgesamt soll das Leben für die Gäste, die Bewohner:innen und die Menschen in Mauritz gemeinschaftlicher, inklusiver und offener werden. —




Zweites Leben für Laptop und Co.

Jutta Dieckmann sitzt an ihrem Schreibtisch in der geräumigen Aufbereitungshalle der AfB an der Otto-Stadler-Straße in Paderborn. Mit einem Heißluftfön löst sie Etiketten und Aufkleber von Netzteilen und Adaptern. „Ich sortiere die Netzteile nach Hersteller und Amperezahl“, erklärt sie. Neben ihrem Tisch stehen mehrere Kisten. Sind sie voll, werden sie ins Lager gebracht oder an eine andere AfB-Filiale verschickt.

Perfekt getaktetes System

Jutta Dieckmann und ihre Kollegen arbeiten nach einem bis ins Detail organisierten und perfekt getakteten System von Abholung, Datenvernichtung, Aufbereitung, Wiedervermarktung und Entsorgung von IT- und Mobilgeräten. Die AfB gilt als Europas erstes und größtes gemeinnütziges IT-Unternehmen – und befindet sich weiter auf strammem Wachstumskurs. Der Betrieb ist darauf spezialisiert, ausgemusterte IT-Geräte von Unternehmen, Versicherungen, Banken und öffentlichen Einrichtungen zu übernehmen und dabei so viele Geräte wie möglich wieder zu vermarkten.

Der vom LWL geförderte Inklusionsbetrieb bearbeitet jährlich mehr als 360.000 Geräte, die er von mehr als 1.000 Unternehmen zur Verfügung gestellt bekommt. Menschen mit Behinderung wie Jutta Dieckmann stellen fast die Hälfte der gut 357 Beschäftigten, am Standort Paderborn sind es 21 von 48 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Ein Teil des AfB-Teams in der großen Halle
Fast die Hälfte der Beschäftigten der AfB haben eine Behinderung. Eine von ihnen ist Jutta Dieckmann (links), hier mit einigen Kolleginnen und einem Praktikanten in der Halle der AfB. Foto: LWL/Paul Metzdorf

Nachhaltiges Geschäftsmodell

Der Markt für diesen Wiederverwendungskreislauf ist größer, als man meint. „Wir arbeiten mit Konzernen wie Siemens, Provinzial und Generali zusammen, aber auch mit regionalen Firmen, Behörden und Institutionen“, sagt Monika Braun. Die AfB-Prokuristin spricht dabei stets von „Partnern“. Und denen kann die AfB durchaus etwas bieten.

„Sämtliche Datenträger werden im Rahmen eines zertifizierten Prozesses nach höchsten Sicherheitsstandards gelöscht oder geschreddert. Die Geräte werden per IT-Sicherheitstransport durch unser eigenes Personal mit unserem eigenen Fuhrpark abgeholt und zur nächstgelegenen AfB-Niederlassung transportiert“, erläutert Monika Braun. Neben der Datenvernichtung werden die Geräte erfasst, getestet, gereinigt, mit neuer Software bespielt und anschließend verkauft – mit bis zu drei Jahren Gewährleistung. Nicht mehr vermarktbare Hardware wird unter höchsten ökologischen Standards zerlegt und recycelt. Der ursprüngliche Eigentümer der Geräte erhält alle relevanten Nachweise zur Datenvernichtung.

Fujitsu-Aus als Chance

Der Leiter der Paderborner AfB-Niederlassung, Dietmar Mormann, hat alle Arbeitsschritte im Blick. Er kam 2018 vom japanischen Technologiekonzern Fujitsu, als der sein Werk in Paderborn dicht machte. „Ich hatte schon vorher AfB-Gründer Paul Cvilak kennengelernt“, sagt Mormann. „Damals haben wir noch über eine mögliche Kooperation von Fujitsu und AfB gesprochen.“ Dann kam die Schließung des Fujitsu-Standorts. Mormann begriff das als Chance, die AfB nach Paderborn zu holen. „Wir haben dann eine Ausschreibung von Fujitsu gewonnen, eine weitere von Diebold Nixdorf, und dann ging alles ganz schnell“, sagt Mormann.

Man fand mit einer 3.200 Quadratmeter großen Halle eines ehemaligen Schulbuch-Verlags eine optimale Immobilie. Der neue Niederlassungsleiter brachte gleich noch eine ganze Reihe ehemaliger Fujitsu-Kollegen mit. „Wir haben 2018 mit zwölf Leuten hier angefangen“, erzählt Mormann. Um dann personell rasch aufzustocken. „Paderborn mit seinen IT-Unternehmen hat einfach das Potenzial.“

Echter Wettbewerbsvorteil

Eine Zusammenarbeit mit der AfB ist nicht nur gut für das soziale und ökologische Gewissen, sie kann ein echter Wettbewerbsvorteil sein. „Das durch eine Partnerschaft mit der AfB gezeigte gesellschaftliche Engagement kann am Point-of-Sale unserer Partner kommuniziert und somit als Vertriebsvorteil genutzt werden“, heißt es auf einem Imageflyer des Unternehmens. Der Zusatz „social & green IT“ im Firmentitel weist darauf hin. Sozial ist die inklusive Ausrichtung der AfB, grün sind etwa Einsparungen von CO2, Rohstoffen und Energie durch die Wiederverwertung der IT-Geräte.

Die AfB-Beschäftigten in Paderborn haben seelische, körperliche und Sinnesbeeinträchtigungen. Einer von ihnen ist Martin Gasse, der die Verteilung der Hardware am Wareneingang organisiert. Dort werden die firmeneigenen Transporter entladen. „Ich sortiere und erfasse die hereinkommenden Geräte“, sagt er.

Blick in die große Lagerhalle der AfB in Paderborn.
Die 3.200 Quadratmeter große Halle der AfB in Paderborn, das eines der ersten und zugleich größten gemeinnützigen IT-Unternehmen Europas ist. Foto: LWL/Paul Metzdorf

Hauseigenes Warenwirtschaftssystem

Bernd Schmelter kümmert sich um die Detailerfassung im hauseigenen Warenwirtschaftssystem. Und er schaut, ob die Datenlöschung tatsächlich vollständig erfolgt ist: „Ich bin so etwas wie die letzte Instanz.“ Thomas Müller wiederum löscht Server. Gut und gerne 20 pro Tag. Dann sortiert er sie und macht die Enderfassung für den Verkauf. Für ihn ein Traumjob: „Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, woanders zu arbeiten.“

Die aufbereiteten Server, PCs, Notebooks, Bildschirme, Drucker und Handys werden teilweise im Shop zum Verkauf angeboten. Zur Kundschaft zählen Privatpersonen, vor allem auch ältere Menschen, ebenso wie Steuerberater oder Zahnarztpraxen. Was sie alle am AfB-Shop schätzen, ist die ausführliche und persönliche Beratung. „Und sollte ein Käufer mit seinem Gerät daheim nicht klarkommen, dann fahren wir vorbei und helfen ihm“, sagt Niederlassungsleiter Dietmar Mormann.

Das AfB-Konzept baut auf flache Hierarchien. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter duzen sich, vom Firmengründer bis zum Praktikanten. Es gibt eine Niederlassungsleitung, eine Technische Leitung und die Teams – mehr nicht. Im Sommer wird oft gemeinsam gegrillt, der Zusammenhalt ist groß. Mehrmals im Jahr schaut auch AfB-Gründer Paul Cvilak in Paderborn vorbei. Er kennt fast alle Beschäftigten persönlich und nimmt sich Zeit für Gespräche. Seine Vision von 2004 ist längst Wirklichkeit geworden. In Paderborn und anderswo an einem der mittlerweile 23 Standorte in fünf europäischen Ländern. —





Wie Arztbesuche inklusiver werden können

Frau Sappok, warum braucht es eine eigene Medizin für Menschen mit Behinderung?

Menschen mit Behinderung werden in Deutschland oft noch nicht so gut medizinisch versorgt, wie es möglich und nötig wäre. Das liegt daran, dass sie häufig viele körperliche und auch psychische Erkrankungen haben und deswegen eine besonders hochwertige ärztliche Versorgung benötigen. Leider erschweren in unserem Gesundheitssystem aber viele Barrieren den Zugang zu einer solchen Betreuung. Und wenn sie dann in einer Arztpraxis oder im Krankenhaus behandelt werden müssen, sind viele Mitarbeiter:innen überfordert. Zum Beispiel, weil sich Ärzt:innen mit bei diesen Personen häufigen Krankheitsbildern kaum oder gar nicht auskennen. Oder schlicht, weil ein Mensch mit einer kognitiven Beeinträchtigung die übliche Eingangsfrage „Was führt Sie zu mir?“ nicht versteht oder nicht beantworten kann – der Arzt oder die Ärztin aber keinen anderen Zugang findet.

Wie wollen Sie das ändern?

In meinen Vorlesungen und Seminaren werde ich medizinisches Fachwissen vermitteln, zu Krankheitsbildern, die bei Menschen mit Behinderungen überdurchschnittlich häufig auftauchen. Um zum Beispiel bestimmte genetische Syndrome zu erkennen, müssen Mediziner:innen erst einmal damit vertraut sein. Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sind übrigens auch häufig im Autismusspektrum. Die Diagnose wird bei ihnen aber mit anderen oder angepassten Untersuchungsverfahren gestellt als bei Menschen ohne Lernbehinderung. Darüber hinaus möchte ich meine Studierenden auf den Umgang mit Patient:innen, die eine Behinderung haben, vorbereiten und sie für die Barrieren im Gesundheitswesen sensibilisieren.

Können Sie diese Barrieren genauer beschreiben?

Die erste große Hürde ist, überhaupt einen Arzttermin zu bekommen. Für Personen im Autismusspektrum ist es oft schon schwierig, in einer Praxis anzurufen. Hier kann helfen, wenn sie die Möglichkeit haben, online einen Termin zu buchen. Aber das ist bisher ja eher die Ausnahme. Ein weiteres Problem ist, dass Praxen und Kliniken Menschen mit Behinderung gar nicht erst als Patient:innen annehmen möchten oder rasch wieder aus der Behandlung entlassen. Deshalb suchen diese Patient:innen häufig Rettungsstellen auf, wo aber nur akute Erkrankungen untersucht und behandelt werden. Eine langfristige medizinische Versorgung ist so natürlich nicht möglich.

Warum lehnen Ärzt:innen denn Menschen mit Behinderung als Patient:innen ab?

Die Behandlung kann kompliziert und zeitintensiv sein, wenn Patient:innen bei bestimmten Untersuchungen Angst haben, etwa in der Gynäkologie oder Urologie. Manchmal wird auch gesagt, sie seien „nicht wartezimmerfähig“ oder in Kliniken „nicht führbar“.

Wie bitte?

Dahinter stecken Ängste und teilweise auch Vorurteile. Viele Ärzt:innen haben einfach kaum Erfahrung mit Menschen mit Behinderung. Sie sind verunsichert, weil sie zum Beispiel nicht wissen, wie sie mit Menschen umgehen und kommunizieren sollen, die nicht sprechen können. Auch das wollen wir ändern, indem unsere Studierenden an der Klinik von Anfang an mit Menschen mit Behinderung in Kontakt kommen. Wir möchten die Perspektive umkehren. Nicht die Patient:innen sollen sich anpassen, sondern Kliniken und Praxen müssen passende Rahmenbedingungen schaffen, etwa, indem medizinisches Personal die Leichte Sprache erlernt.

Der Bedarf für solche Veränderungen ist offenbar groß. Warum gibt es in Deutschland erst jetzt die erste Professur in diesem Fachgebiet?

Menschen mit Behinderung haben keine große Lobby. Und es gibt auch kein großes Interesse bei den Kostenträgern, weil eine individuelle und dadurch zeitintensivere Betreuung teurer ist. Aber eine gute Gesundheitsversorgung ist notwendig, um ein Höchstmaß an Lebensqualität und Teilhabe zu erreichen, so wie es etwa die UN-Behindertenrechtskonvention fordert. Das ist übrigens ein weltweites Problem. In Großbritannien und den Niederlanden gibt es zwar schon Lehrstühle für Behindertenmedizin und mehr Forschung als hier. Aber in den meisten europäischen Ländern oder auch in den USA, in Asien oder weniger entwickelten Ländern spielt das Themengebiet immer noch eine sehr untergeordnete Rolle.

Wie sind Sie selbst zu Ihrem jetzigen Spezialgebiet gekommen?

Das war ein Zufall. Während meiner psychiatrischen Facharztausbildung am Krankenhaus Königin-Elisabeth Herzberge in Berlin wurde ich auch im Behandlungszentrum für psychische Gesundheit bei Entwicklungsstörungen eingesetzt; dort werden psychisch erkrankte Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung behandelt. Dabei habe ich Feuer gefangen. Das Fachgebiet ist spannend und anspruchsvoll, und die Arbeit mit Menschen mit Behinderung hat mir sofort viel Freude gemacht. Bei der Behandlung bin ich immer wieder auf Fragen gestoßen, auf die ich in der Fachliteratur keine Antworten finden konnte. Also habe ich angefangen, mich damit zu beschäftigen und die Fragen selbst zu beantworten. Alle meine Forschungsthemen haben sich direkt aus dem Behandlungsalltag ergeben.

Können Sie ein Beispiel erzählen?

Anfang der 2000er-Jahre kam eine junge Frau mit einer Lernbehinderung zu uns. Ihr Arzt hatte ihr ein Medikament gegen Schizophrenie verordnet, was ihr nicht geholfen hat, denn die Diagnose war falsch – und entsprechend auch das Medikament. Ihre Mutter hat uns erzählt, dass sich die Tochter schon als Kind so verhalten habe wie später als junge Erwachsene. Schizophrenien entwickeln sich aber in der Regel erst im jungen Erwachsenenalter. Ich habe viel recherchiert, was es stattdessen sein könnte, und kam schließlich auf das Thema Autismus. Damals war noch gar nicht bekannt, dass Menschen mit kognitiven Behinderungen häufig Autist:innen sind, und es gab kaum Diagnostikmöglichkeiten für diese Patient:innen. Im Rahmen meiner Habilitationsarbeit habe ich verschiedene Untersuchungsinstrumente entwickelt oder für Menschen mit Behinderungen angepasst, die auch andere Ärzt:innen anwenden können. Seitdem werden seltener Schizophrenien diagnostiziert. Für die Patient:innen ist das sehr wichtig, weil sie keine falschen Medikamente mehr bekommen, sondern ihr Umfeld stattdessen autismusfreundlich gestaltet wird.

Sie treten Anfang 2023 nicht nur Ihre Professur an, sondern werden auch Direktorin der neuen Universitätsklinik für Inklusive Medizin am Krankenhaus Mara in Bethel. Was haben Sie in dieser Klinik vor?

Wir möchten das dortige Zentrum für Behindertenmedizin erweitern. Neben der internistischen und chirurgischen Abteilung wollen wir in Zukunft auch ein psychiatrisches Behandlungsangebot schaffen. Diese drei Stationen sollen aber nicht nebeneinander arbeiten, sondern Patient:innen gemeinsam betreuen. Je nach Diagnose wird natürlich ein:e Expert:in die Fallführung übernehmen, aber Fachleute aus allen Bereichen werden in gemeinsamen Visiten interdisziplinäre Behandlungspläne entwickeln und umsetzen.

Was muss bis Ende des Jahres noch passieren, damit Sie im Januar starten können?

Die Klinik wird für das zusätzliche psychiatrische Angebot umgebaut, wir brauchen Räume und Material für die Kreativ-, Musik- und Ergotherapie, für Einzel- und Gruppengespräche. Darüber hinaus werden wir einen geschützten Bereich einrichten, in dem wir Menschen mit schweren Verhaltensstörungen betreuen werden. Für all diese Angebote suchen wir gerade natürlich auch Personal, etwa Psycholog:innen, Psychiater:innen und Kreativtherapeut:innen.

Werden Sie auch Menschen mit Behinderung im Team haben?

Ja, wir planen, sowohl in der Klinik als auch in der Lehre und Forschung in inklusiven Teams zu arbeiten.

Zum Schluss ein Ausblick: In ein paar Jahren werden Ihre ersten Student:innen ihren Abschluss haben und in den Beruf starten. Wie können diese das Wissen aus Ihren Vorlesungen einsetzen?

Ich wünsche mir, dass sie sich freuen, wenn Menschen mit Behinderung in ihre Praxis oder Klinik kommen. Dass sie Menschen mit Behinderung mit offenen Armen empfangen und diese umgekehrt nicht mehr auf die vielen Schwierigkeiten stoßen wie jetzt. Und ich würde mich freuen, wenn einige Studierende das Fachgebiet so spannend finden, dass sie darin promovieren und ein immer regeres wissenschaftliches Leben entsteht. —




Exoskelette einfach erklärt: Körperliche Unterstützung bei der Arbeit und im Alltag (mit Video)

Herr Daub, der Begriff „Exoskelett“ klingt für Laien etwas technisch. Was steckt dahinter?

Ein Exoskelett ist ein Assistenzsystem, das direkt am Körper getragen wird. Es entlastet den Bewegungsapparat durch eine zusätzliche Kraftunterstützung. Unsere Muskeln und Gelenke sind auf dynamische Bewegungen ausgelegt, beispielsweise aufs Laufen. Wenn jemand aber immer wieder schwere Lasten heben oder den Bewegungsapparat lange in einer fast unbewegten Stellung halten muss, können die Muskeln schnell erschöpfen. Das kann ein Risiko für Verletzungen sein. Dem wirken Exoskelette entgegen.

Wo kommt diese Kraftunterstützung denn her? Werden Exoskelette mit einem Motor betrieben?

Mal ja, mal nein, es gibt passive und aktive Systeme. Die am weitesten verbreiteten industriellen Exoskelette arbeiten passiv. Sie haben Federn oder Expander, die unter mechanischer Spannung stehen und bei bestimmten Körperhaltungen ihre Energie wieder freisetzen. Dadurch geben sie bei bestimmten Bewegungen automatisch Kraft hinzu, die sonst die Muskeln im Körper allein aufbringen müssten. Bestimmte Körperbereiche werden so gezielt unterstützt und entlastet. Es gibt in dieser Kategorie noch weitere Unterschiede, manche Systeme haben etwa harte Schalen, manche bestehen fast nur aus elastischen Bändern und Bandagen. Letztere sind die so genannten soften Exoskelette oder – das ist der internationale Begriff – „Exosuits“. Es gibt aber immer häufiger auch aktive Systeme, die elektrisch betrieben sind.  

Wann ist welches System sinnvoll?

Das kommt darauf an. Wenn technische Maßnahmen oder eine Veränderung der Arbeitsabläufe nicht mehr ausreichen, um eine Person am Arbeitsplatz ausreichend zu entlasten, können Exoskelette eine gute zusätzliche Möglichkeit sein, egal, ob aktiv oder passiv. Aktive Exoskelette können aber vor allem dann sehr sinnvoll sein, wenn ein höherer Kraftaufwand bei einer Arbeit anfällt oder die benötigte Unterstützung individuell unterschiedlich ist. Das Exoskelett lässt sich nämlich viel genauer auf die Bedürfnisse der Person oder eine bestimmte Tätigkeit einstellen. Wenn etwa Gewichte stark variieren, also beispielsweise Pakete zwischen zwei und 25 Kilogramm bewegt werden müssen, kann die Unterstützung bei aktiven Systemen daraufhin angepasst werden. Mit solchen Anforderungen beschäftigt sich übrigens auch ein Teil unserer Forschung sehr intensiv.

Sie sagen, dass mit den Exoskeletten immer bestimmte Körperbereiche unterstützt werden. Es gibt also unterschiedliche Varianten, je nachdem, ob jemand zum Beispiel eher mit den Armen oder eher aus den Beinen arbeitet?

Ja, wobei die meisten Exoskelette darauf ausgelegt sind, den Oberkörper gerade und aufrecht zu halten – das sind die „Rückenexos“ – oder den Armen bei Überkopftätigkeiten die Last abzunehmen, das sind die „Schulterexos“. Es gibt darüber hinaus auch noch Systeme für den Nacken, den Daumen oder die Handkraft.

Bei welchen Arbeiten unterstützen die Rücken- und Schultersysteme?

Die Systeme für den Rücken werden dann eingesetzt, wenn schwere Bauteile oder Behälter angehoben oder abgelegt werden müssen, oder wenn jemand über längere Zeit in einer nach vorne geneigten Haltung arbeiten muss. Ein typisches Anwendungsfeld für Rückenexos ist zum Beispiel die Logistik, wie schon bei den aktiven Systemen erklärt: Dort müssen Menschen oft und häufig schwere Pakete heben und tragen. Die Schulter-Exoskelette helfen wiederum bei Tätigkeiten, bei denen die Arme lange oben gehalten werden, zum Beispiel bei Montage- oder Schweißarbeiten (→ siehe Video).

Wann gilt ein Exoskelett als „gelungen“, was muss es dafür alles erfüllen?

 Die Anwender:innen würden sagen: Das Exoskelett sollte am besten so gut wie gar nichts wiegen, beim Tragen nicht zu spüren sein, nicht einschränken und trotzdem möglichst stark unterstützen. Das klingt nach der sprichwörtlichen „eierlegenden Wollmilchsau“, die erst noch erfunden werden muss. So perfekt lässt sich das aus technischen Gründen natürlich nicht umsetzen – ein paar Kompromisse sind also immer nötig. Deshalb gibt es auf dem Markt derzeit auch mehr als 100 verschiedene Exoskelette zu kaufen: Keines ist rundum perfekt, jedes Einzelne löst aber für bestimmte Anwender:innen ganz konkrete Probleme und Anwendungsfälle sehr gut. Das bedeutet wiederum, dass jeweils das am besten geeignete Exoskelett gefunden werden muss.

Es gibt Exoskelette also schon in vielen verschiedenen Versionen und für fast jeden Anwendungsfall. Könnten sie dann nicht auch für Menschen interessant sein, bei denen es weniger um ein Verhindern von Verletzungen geht, sondern für die die unterstützende Funktion im Vordergrund steht – sprich, für Menschen mit einer körperlichen Behinderung?

Das ist ein sehr guter Gedanke. Exoskelette könnten tatsächlich Menschen mit Behinderungen im Berufsleben unterstützen, manchmal vielleicht sogar überhaupt erst eine Teilhabe ermöglichen. Auch die Exoskelett-Hersteller haben das erkannt, also dass in den Systemen noch eine ganz andere Chance abseits der industriellen Anwendung liegt. Menschen mit erworbenen oder angeborenen körperlichen Einschränkungen könnten davon nach meiner Einschätzung künftig sicher sehr profitieren – und so zum Teil entweder überhaupt wieder arbeiten können oder aber leichter.

Kennen Sie ein Beispiel, in dem das schon der Fall ist?

Ja, auf der Rehacare-Messe hatten wir in unserem Symposium „Technische Assistenz und berufliche Rehabilitation“ einen Vortrag, in dem es um einen Museumsmitarbeiter ging, der eine neurologische Erkrankung hat. Sein Beruf ist es, Scheren auf traditionelle Weise zu fertigen. Im Museumsbetrieb sind die Maschinen, die dafür verwendet werden, denkmalgeschützt. Technische Anpassungen daran, um ihm die Arbeit zu erleichtern, sind also ausgeschlossen. Seit über einem Jahr nutzt er bei seiner Arbeit nun ein Exoskelett, das seine Hand unterstützt und ihm so dabei hilft, die neurologisch bedingt fehlende Kraft auszugleichen. Laut seiner Aussage kann er seine Tätigkeit dadurch besser, länger und vor allem schmerzfrei ausführen. Dem Museum bleibt damit ein wertvoller Mitarbeiter erhalten – und er selbst kann seinen Job weiterhin ausführen. —


Tipp

Vergangenes Jahr haben wir für unseren Blog bereits mit Hans-Jürgen Schrage gesprochen, dem Scherenmonteur, um den es auch auf dem RehaCare-Symposium ging. Hier geht es zum Interview!






OmniAssist: Ein Pilotprojekt für mehr Inklusion durch digitale Assistenzsysteme

Herr Kuhn, Sie und Ihr Team haben verschiedene Assistenzsysteme entwickelt, die im Projekt OmniAssist ausprobiert werden sollen. Welche sind das und wie funktionieren sie?

Wir haben eine Art Baukasten aus verschiedenen Systemen zusammengestellt. Unternehmen und Organisationen können sich daraus mit ein paar Klicks genau die Funktionen zusammenstellen, die sie für ihre Prozesse brauchen. Es gibt zum Beispiel eine Variante für stationäre Arbeitsplätze, das Mitarbeiter:innen bei Montagearbeiten unterstützt. Menschen mit Lernbehinderung können damit selbstständig komplexe Arbeitsabläufe umsetzen: Das System zeigt ihnen mit Lichtprojektionen und kurzen Videos an, aus welchen Greifkästen sie Bauteile nehmen und wie sie diese zusammenbauen müssen (Anm. d. Red.: Ein solches System haben wir in diesem Beitrag mit einem Film schon einmal vorgestellt).

Welche Systeme gibt es noch, die Menschen in anderen Situationen und Branchen unterstützen können?

Ein System funktioniert zum Beispiel mobil und ist deshalb für viele verschiedene Arbeitsumgebungen geeignet. Wir nennen es ‚Assistenz für die Hosentasche‘. Es erlaubt Betreuer:innen oder Vorgesetzten, Aufgaben und Anleitungen darin zu hinterlegen, die Mitarbeiter:innen mit Behinderung dann auf ihrem Smartphone oder Tablet abrufen können. Das ist zum Beispiel im Pflegebereich sehr nützlich oder in Hotels, im Housekeeping oder im Service etwa. Die Mitarbeiter:innen können mit Hilfe der Assistenz nämlich selbst durch ihren Arbeitstag navigieren. Sie schauen nach, wann welche Aufgabe dran ist und wie sie diese erledigen müssen – zum Beispiel, wie sie in einem Hotelzimmer den Filter einer Klimaanlage wechseln sollen. Anschließend haben sie die Möglichkeit, mit einem Foto zu dokumentieren, dass sie die Aufgabe erledigt haben, und dieses ins System hochladen.

Sind Ihre Systeme nur für solche regelmäßigen Aufgaben und Arbeitsabläufe gedacht?

Nein, bei Bedarf lassen sich immer wieder neue Inhalte einspielen. Ein Garten- und Landschaftsbauunternehmen etwa nutzt unser mobiles System, um Mitarbeiter:innen dabei zu unterstützen, die Autos für tagesaktuelle Aufträge zu bestücken. Eine Verwaltungskraft hinterlegt vorher im System, wer bei welchem Job welche Tätigkeit übernehmen soll und welche Werkzeuge dafür gebraucht werden. Die Mitarbeiter:innen können bei Bedarf nachschauen, wie diese Werkzeuge aussehen und wo sie zu finden sind.

Die Systeme sind also schon in der Praxis im Einsatz und funktionieren auch gut. Wozu dann noch ein Pilotprojekt?

Um zu schauen, ob ein System wirklich in der Breite einsetzbar ist und wie das am besten klappt. Wir sind uns sicher, dass dadurch mehr Inklusion am ersten Arbeitsmarkt möglich wird, dass Assistenzsysteme außerdem eine größere Wertschöpfung und mehr sozialversicherungspflichtige Jobs schaffen könnten. Deshalb möchten wir sie für möglichst viele verschiedenen Tätigkeiten ausprobieren und dabei zugleich wissenschaftlich überprüfen, was unter welchen Umständen gut funktioniert und wo vielleicht noch etwas verbessert werden muss.

Wie bewerten Sie das?

Ein Qualitätsmerkmal wäre zum Beispiel, wenn weniger Fehler bei einem Arbeitsablauf passieren, weil ein Assistenzsystem im Einsatz ist. Wichtig sind aber auch die Erfahrungen der Mitarbeiter:innen, der Vorgesetzten und der sonstigen Beteiligten in den Unternehmen. Deshalb sprechen wir mit allen, die mit den Systemen arbeiten. Wenn Betreuer:innen während der Arbeitszeit zum Beispiel seltener Fragen beantworten müssen und sich dadurch stärker auf andere Kolleg:innen im Team konzentrieren können, wäre auch das ein Mehrwert. Anhand solcher Erfahrungen wollen wir die Systeme anschließend weiter verbessern, damit sie langfristig in immer mehr Unternehmen eingesetzt und irgendwann Standard werden.

Welche Betriebe oder Einrichtungen nehmen an dem Pilotprojekt teil und wie läuft es ab?

Für das Projekt können sich sowohl Inklusionsunternehmen bewerben als auch gewöhnliche Firmen, die neue Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung einrichten möchten und dafür schon Bewerber:innen haben. Weil die Systeme so flexibel sind, sind wir nicht auf eine bestimmte Branche festgelegt. Das Projekt an sich ist in zwei Phasen unterteilt. Im Oktober beginnen wir im ersten Schritt mit den sogenannten Potenzialanalysen, in denen wir gemeinsam mit den Unternehmen herausfinden, welche Arbeitsplätze sie mit einer digitalen Assistenz inklusiv gestalten könnten. In der zweiten Phase richten wir die Systeme in Betrieben ein und bewerten diese nach den beschriebenen Kriterien zusammen mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe und der Technischen Hochschule Lemgo – wir überprüfen also, ob sich das System in der Praxis für den jeweiligen Arbeitsplatz lohnt. In der ersten Phase sollen zehn Unternehmen teilnehmen, für die Machbarkeitsstudie in der zweiten Phase haben wir sechs Betriebe eingeplant.

Wie unterstützen Sie die Unternehmen während der zweiten Phase des Projekts, also bei der praktischen Anwendung?

Wir richten die Assistenzsysteme direkt an den jeweiligen Arbeitsplätzen ein und begleiten die Betriebe sehr eng. Das heißt, wir vom Projektteam sind immer wieder selbst vor Ort, geben Impulse und Tipps oder helfen dabei, die Systeme individuell einzurichten. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass diese Unterstützung gerade für kleine und mittlere Unternehmen sehr wichtig ist. Denn die Verantwortlichen dort befürchten oft, dass solche digitalen Systeme nur etwas für IT-Expert:innen sind. Wir möchten aber zeigen, dass sie auch ohne Vorwissen oder eine aufwändige Einarbeitung genutzt werden können. Und wir hoffen, dass wir so Firmen, die bisher noch keine Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung bei sich eingerichtet haben, dazu ermutigen können, diesen Schritt zu gehen und inklusives Arbeiten auszuprobieren. Das Projekt ist für die Unternehmen übrigens kostenlos. Sie müssen erst dann etwas zahlen, wenn sie sich dazu entscheiden, ein System nach Ende des Projekts zu behalten und im Alltag einzusetzen.


Neugierig geworden?

Kleine oder mittelständische Unternehmen können sich noch bis Ende September 2022 direkt per E-Mail beim Team von delta3 für das Pilotprojekt bewerben!






Inklusion durch Vielfalt und Teamarbeit

Frau Schell, in welcher Werkstatt waren Sie beschäftigt, bevor sie im Hotel angefangen haben? Und wie kam es, dass Sie gewechselt haben?

Ich war in den Werkstätten der Westfalenfleiß GmbH beschäftigt. Erst in einer Wäscherei, dann in einer Küche und dann in einer Näherei. Ich habe also schon vieles ausprobiert. Bei einem Außenarbeitsplatz der Werkstatt durfte ich außerdem einen Blick in den Service werfen. Dort habe ich zum Beispiel Teller und Besteck vorbereitet. Das Team von Westfalenfleiß hat mich dann gefragt, ob ich nicht noch einmal etwas komplett Neues kennenlernen und mich weiterentwickeln möchte. Ich fand den Vorschlag super und habe mich sofort auf eine neue Arbeit in einem neuen Umfeld gefreut. Seit November 2021 arbeite ich als Reinigungskraft im Tagungshotel Dunant. Das ist meine erste feste Arbeit auf dem Arbeitsmarkt, darauf bin ich sehr stolz.

Was ist im Hotel anders als in der Werkstatt?

Am besten gefällt mir hier, dass ich immer in Aktion bin und sehr viel Spaß dabei habe. In der Werkstatt war es mir leider irgendwann zu langweilig. Ich war ja viele Jahre dort und es gab irgendwann einfach nicht mehr viel Neues zu entdecken. Die Arbeit im Hotel dagegen ist schnelllebiger und vielseitiger, außerdem sind hier überall nur nette Menschen. Der Job ist außerdem eine komplett neue Herausforderung für mich. Hier darf ich Zimmer und Büros putzen, Wäsche wegräumen und die Putzwagen vorbereiten. Was auch toll ist: In der Reinigung arbeiten wir in Zweierteams zusammen, also immer eine Person mit und eine ohne Behinderung. Das funktioniert sehr gut und ich habe so immer jemanden, den ich fragen kann, wenn ich mal nicht weiterkomme.

Was gefällt Ihnen an der Arbeit besonders gut?

Ich liebe Hygiene, Ordnung und Sauberkeit und mag es, dafür verantwortlich zu sein. Am Putzen gefällt mir außerdem, dass ich beim Saubermachen in den Zimmern und Büros immer ganz viele Menschen treffe, also nie alleine bin. Und jede Person, die ich treffe, unterhält sich dann auch mit mir. Das mag ich sehr.

Gibt es Arbeiten, die Sie nicht so gerne machen?

Eigentlich gefallen mir alle meine neuen Aufgaben. Nur das Treppenhaus wische ich nicht ganz so gerne. Da laufen nämlich immer alle direkt wieder durch und es ist alles wieder schmutzig. Deshalb habe ich dabei nicht das Gefühl, Erfolg zu haben, weil das Ergebnis nicht so richtig sichtbar wird.

Hatten Sie Wünsche oder auch Sorgen, bevor Sie Ihre neue Stelle angefangen haben?

Ich war unsicher, ob ich mich gut einleben würde. Ein komplett neues Umfeld und so viele neue Menschen sind eine große Umstellung für mich. Ich bin vorher leider schon oft enttäuscht worden, deshalb war es mir besonders wichtig, herzlich aufgenommen zu werden. Zum Glück ist genau das der Fall gewesen. Deshalb fühle ich mich hier auch sehr wohl und bin gerne hier. Ich hatte vor allem gehofft, dass ich nicht alleine gelassen, sondern unterstützt werde. Und das ist in Erfüllung gegangen.

Gibt es Kolleginnen und Kollegen, die Sie besonders oft begleiten?

Zwei meiner Kolleginnen stehen mir sehr nahe, sie zeigen mir alles und leiten mich an. Das hat mir gerade beim Einstieg in die neue Arbeit sehr geholfen. Ich finde es außerdem wichtig, dass ich immer alles fragen kann. Das darf ich bei den beiden, aber auch bei den anderen im Team. Eigentlich hilft hier jeder jedem, denn wir sind wirklich eine bunte Mischung aus vielen verschiedenen Mitarbeiter:innen mit unterschiedlichen Stärken.

Gibt es Situationen, in denen Sie nicht so zufrieden sind?

Ja, denn manches fällt mir immer noch schwer. Dann wünsche ich mir manchmal, ich wäre anders. Ohne meine Behinderung wäre ich vielleicht schon etwas weiter.

Sie haben sich also weiterentwickelt, seit Sie Ihren neuen Job haben?

Oh ja, ich habe mich persönlich sehr verändert. Durch die neuen Aufgaben bei meiner neuen Arbeit bin ich viel selbstständiger geworden. Mir wird auch gesagt, dass ich erwachsener und reifer wirke als vorher. Besonders gut gefällt mir, dass ich offener geworden bin – denn durch die vielen Menschen um mich herum habe ich gelernt, auf andere zuzugehen. —





Selbst sprechen, selbst Themen setzen: Das Social-Media-Team des YouTube-Kanals „Behindert – so what!“

In vielen Medien wird zwar heute mehr über Inklusionsthemen berichtet als noch vor einigen Jahren, doch Menschen mit Behinderung kommen dabei nach wie vor eher selten selbst zu Wort. In der Social-Media-Redaktion der Hephata-Stiftung ist das anders. Fast alle Mitglieder des Teams haben eine Behinderung. Sie bestimmen die Themen mit, die sie anschließend eigenständig für den YouTube-Kanal umsetzen.

Das ZDF-Magazin 37 Grad hat für die Reportagereihe „einfach Mensch“ einen Blick hinter die Kulissen geworfen und das Social-Media-Team bei Redaktionssitzungen oder auch bei Filmdrehs begleitet, einer zum Beispiel im Stadion des Bundesligisten Borussia Mönchengladbach. Auch Alltagssituationen von Menschen mit Behinderung, die oft von Barrieren geprägt sind, sind auf dem YouTube-Kanal immer wieder Thema und werden kritisch in Frage gestellt.




„Viele Kinder müssen erst einmal herausfinden, was ihnen Spaß macht“

Frau Rilinger, wie können junge Menschen ihre Freizeit bei Ihnen verbringen?

Sie können bei uns jeden Nachmittag Billard spielen, kickern oder basteln. Außerdem haben wir einen Garten mit einem großen inklusiven Spielplatz, der durch seinen ebenerdigen Gummiboden für alle Kinder und Jugendlichen zugänglich ist und den alle jederzeit nutzen können. Neben diesen offenen Angeboten gibt es verschiedene Gruppen und Kurse, etwa Mädchen- und Jungengruppen, gemeinsames Kochen oder Comic-Workshops. Manchmal unternehmen wir auch Ausflüge.

Ihre Angebote sind inklusiv, richten sich also an Menschen mit und ohne Behinderung. Wie stellen Sie sicher, dass alle teilnehmen können?

Wir stellen uns zum Beispiel von Anfang an die Frage, wie wir mögliche Barrieren verhindern oder abbauen können oder ob ein Angebot wirklich für alle attraktiv ist. Dabei geht die Qualität immer vor. Im Zweifelsfall organisieren wir lieber ein tolles Angebot für 15 Jugendliche, die wir währenddessen wirklich gut betreuen können, als dass 40 Jugendliche genervt nach Hause gehen, weil wir für die Einzelnen nicht genügend Zeit hatten.

Gibt es Ausnahmen für die Teilnahme?

Grundsätzlich hat bei uns jeder junge Mensch das Recht, dabei zu sein und bei und mit uns seine Freizeit zu verbringen. Aber wenn ein Kind beispielsweise eine sehr intensive Pflege braucht oder häufig wegläuft, müssen wir schon schauen, was unser Team in welchem Zeitraum leisten kann. Wir fangen dann mit zwei Stunden pro Woche an. Und wenn wir einander besser kennengelernt haben, ist oft mehr möglich. Ich muss dazu aber auch sagen, dass Inklusion aus meiner Sicht vor allem von manchen Eltern falsch verstanden wird.

Wie meinen Sie das?

Teilhabe bedeutet für uns, dass wir es allen ermöglichen möchten, mitzumachen. Wenn wir zum Beispiel Eislaufen gehen, liegt es in unserer Verantwortung, das so zu gestalten, dass auch ein Kind mit einer Gehbehinderung mitmachen kann. Wenn ein anderes Kind nur mitkommen will, aber gar nicht auf die Eisbahn möchte, geht das auch, dann erweitern wir eben das Angebot. Das Kind kann zum Beispiel Fotos machen und einen Blogbeitrag über den Ausflug schreiben. Wir sind also sehr offen, aber das heißt nicht, dass alle zwingend auch alle Aktivitäten mitmachen müssen, damit es Inklusion ist. Das setzen wir unter Umständen auch im Interesse eines Kindes oder Jugendlichen gegen die Eltern durch.

Drängen manche Eltern ihre Kinder zum Mitmachen?

Es gibt Eltern, die unbedingt wollen, dass ihr Kind überall dabei ist – auch wenn es selbst vielleicht gar keine große Lust dazu hat. Die Eltern meinen das ja nur gut und sind meistens einfach froh, dass sie endlich ein inklusives Angebot gefunden haben. Aber weil so viele andere Einrichtungen und auch Vereine eben nicht inklusiv sind, haben viele der jungen Menschen bis zu ihrem Besuch bei uns kaum Hobbys oder Aktivitäten ausprobieren können. Wir erleben oft, dass sie anfangs mit der großen Auswahl überfordert sind und deshalb gar nicht mitmachen möchten. Sie müssen erst einmal herausfinden, was ihnen Spaß macht. Und dabei unterstützen wir sie.

Wie genau machen Sie das?

Vor unseren Ferienprogrammen vereinbaren wir mit den Familien, die neu bei uns sind, ein Treffen. So können wir uns in Ruhe kennenlernen. Die Kinder und Jugendlichen dürfen danach selbst entscheiden, ob sie hier wirklich ihre Ferientage verbringen möchten.

Und wie finanzieren Sie Ihre Arbeit?

Unsere Einrichtung ist als Träger der Jugendhilfe anerkannt und bekommt deshalb Geld von der Stadt Köln. Das reicht aber noch nicht aus, um unsere Kosten zu decken. Wir bekommen daher zusätzlich eine Förderung über die katholische Jugendagentur und beantragen auch regelmäßig Fördermittel für einzelne Projekte. Ein relativ großer Teil meiner Arbeit besteht sogar darin, Anträge zu stellen, damit wir unser komplettes Angebot finanzieren können.
Das ist etwas schade und ärgerlich, auch deshalb, weil ja eigentlich die gesamte Kinder- und Jugendarbeit in allen Einrichtungen inklusiv sein sollte. Das ist aber wohl nicht der Fall. Die Hälfte unserer Besucher:innen hat eine Behinderung, das ist viel mehr als der Anteil von Menschen mit Behinderung an der gesamten Bevölkerung. Ich kann mir das nur dadurch erklären, dass andere Einrichtungen eben nicht oder kaum inklusiv arbeiten, und deshalb so viele junge Menschen mit Behinderung zu uns kommen.

Wie viele Leuten arbeiten in Ihrem Team?

Zwei Mitarbeiter:innen sind hauptamtlich dabei und wir haben noch einige Honorarkräfte, die auf Stundenbasis in unserem Haus arbeiten. Wir organisieren uns so, dass immer drei bis vier aus dem Team da sind.

Haben Sie alle eine pädagogische Ausbildung?

Ich selbst bin Inklusionspädagogin, mein hauptamtlicher Kollege ist Sozialarbeiter. Unsere Honorarkräfte haben ganz unterschiedliche Berufsausbildungen, sie kommen zum Beispiel aus dem Management, studieren gerade Heil- und inklusive Pädagogik oder haben eine medizinische Ausbildung. Ein pädagogischer Hintergrund ist also kein Muss. Wir freuen uns aber immer, wenn jemand handwerkliches Geschick mitbringt, mit unseren Besucher:innen kreativ arbeiten oder das Programm mitgestalten kann.

Arbeiten bei Ihnen auch Menschen mit Behinderung?

Eine Honorarkraft und eine Projektmitarbeiterin bei uns haben jeweils selbst eine Behinderung. Und durch die Praktika, die wir anbieten, sind außerdem oft Schüler:innen von Förderschulen hier in Köln in unserem Team mit dabei. Oft haben diese Jugendlichen unsere Einrichtung vorher selbst besucht und möchten beim Praktikum unsere Arbeit von der anderen Seite kennenlernen. Das ermöglichen wir gerne und haben so immer mindestens fünf Praktikant:innen pro Jahr.
Manchmal absolvieren auch junge Menschen ihr Praxissemester bei uns, die Sozialpädagogik studieren. Sie gestalten und organisieren dann ein eigenes Projekt, das gehört zum Studiengang. Wir können diese Projekte zwar leider nicht vergüten, aber die Studierenden bleiben danach häufig als Honorarkräfte bei uns, verdienen etwas Geld und machen damit sozusagen nebenbei ihren Berufseinstieg.

Unterstützen Sie auch ihre Besucher:innen beim Start in den Beruf?

Ja, wir überlegen sogar meist gemeinsam mit den Familien, ob und wie die Person einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt finden könnte. Manchmal unterstützen wir auch bei der Suche und vermitteln Kontakte zu Betrieben, die wir kennen. Ein sehr schönes Beispiel: Eine ehemalige Besucherin, die eine geistige Behinderung hat, arbeitet jetzt als Betreuerin in einer inklusiven Kita.





„Menschen sind taktile Wesen, Berührungen sind für uns alle wichtig“

Herr Rapp, das Internet liefert unglaublich viele digitale Informationen. Aber nicht allen Menschen sind sie zugänglich. Blinde und Menschen mit Sehbehinderung können nur einen kleinen Teil davon überhaupt aufnehmen. Welche technischen Gründe hat das?

In zwei Sätzen erklärt: Weil es zwei verschiedene Technologien gibt, mit denen Informationen dargestellt werden können, Pixel und Taxel. Und eine davon ist deutlich weiterentwickelt als die andere.

Das müssen Sie erklären.

Dazu muss ich ein wenig ausholen und ein paar Grundlagen erläutern. Nehmen wir ein einfaches Beispiel aus der Physik, das jeder kennt: Strom. Um diesen von einem Ort zum anderen zu leiten, sind elektrische Leiter nötig, die aus einem Material mit vielen freien Elektronen bestehen, meistens sind das Metalle. Dann gibt es auch noch Nichtleiter, die Strom eben nicht leiten, weil in ihnen keine freien Elektronen vorhanden sind. Außerdem haben wir die Halbleiter, die irgendwo dazwischen liegen. Sie können durch äußere physikalische Einflüsse wie Wärme oder Licht zu Leitern werden. Das ist eine wichtige Eigenschaft, die man sich in der Elektrotechnik zunutze macht. Halbleiter sind zum Beispiel die Grundlage für bestimmte Bauelemente, etwa Dioden.
Damit sind wir beim Pixel, das auch aus so einem Bauelement besteht. Ein Pixel ist ein Leuchtpunkt, mit dem zum Beispiel auf einem Computerbildschirm die Inhalte dargestellt werden. Oder auch: eine LED, kurz für „lichtemittierende Diode“, also ein kleines Bauteil, das Licht aussendet. In den letzten Jahrzehnten gab es bahnbrechendende Entwicklungen in der Halbleitertechnik, daher lassen sich solche Bauteile inzwischen sehr effizient und stark verdichtet herstellen.

Und was ist ein Taxel?

Wenn es auch Menschen mit Sehbehinderung möglich sein soll, Displays zu nutzen, ist dafür eine ganz andere Technologie nötig. Visuelle Informationen durch Licht – also die Pixel – bringen hier ja nichts, die können Menschen mit Sehbehinderung nicht aufnehmen. Also brauchen wir ein „fühlbares“ oder „taktiles“ Pixel. In der Elektrotechnik nennt sich das ein „Taxel“. Das ist eine Art winziger Elektromotor, der einen kleinen Stift anhebt oder absenkt – und dadurch entstehen fühlbare Erhebungen auf einer ansonsten glatten Fläche. Sie sind die Grundlage für Braille-Displays.

Sie brauchen aber wahrscheinlich sehr viele dieser kleinen Elektromotoren, um überhaupt ein ausreichend großes, tastbares Display bauen zu können. Wie machen Sie das?

Genau das ist die große Schwierigkeit. Es ist viel leichter, eine LED, also ein Pixel, so stark zu verkleinern, dass sehr viele davon nebeneinander platziert werden können, wie es bei einem hochauflösenden Bildschirm gemacht wird. Elektromotoren sind sehr viel komplizierter im Aufbau und damit schwieriger zu verkleinern. Ihr eigenes Mobiltelefon ist ein sehr gutes Beispiel: Was bewegt sich daran überhaupt automatisch? Eigentlich gar nichts. Die einzige mechanische Bewegung, die ein Smartphone heute ausführen kann, ist der Vibrationsalarm. Und das ist eine Technologie, die schon mehr als 20 Jahre alt ist. Genau darin liegt die Herausforderung für uns: Die Verkleinerung sich automatisch bewegender Bauteile hat in den letzten Jahrzehnten sehr viel weniger Fortschritte gemacht als die Halbleitertechnik.

Das Foto zeigt einen kleinen, durchsichtigen Plastikkasten mit kleinen Löchern an der Oberfläche, durch die sich Metallstifte nach oben schieben lassen.
In einem frühen Prototypen des Displays wurde noch dieses mechanische Bauteil verwendet. Kleine Metallstifte werden hier durch einen Motor nach oben gedrückt und sind an der Oberfläche als Erhebungen tastbar. Im späteren Display übernimmt eine Flüssigkeit die Aufgabe der mechanischen Stifte: Sie wird in winzige, senkrechte Kanäle nach oben gedrückt und hebt eine dehnbare Oberfläche an den passenden Stellen an. Diese Technik heißt „Mikrofluidik“. (Foto: Universität Freiburg)

Ein Problem ist also die veraltete Technologie, mit der Sie arbeiten müssen?

Genau, und die Kosten. Wenn Sie heute ein normales Display in 4K-Auflösung bauen wollen, also mit 4000 Pixeln in der Breite, geht das dank der Halbleitertechnologie kostengünstig und ist noch dazu hocheffizient. Ein taktiles Display dagegen hat nur einen Bruchteil der Auflösung eines Nintendo Gameboys aus den 1990er Jahren, um einen anschaulichen Vergleich aus der Welt der Spielekonsolen zu nennen. Wir greifen bei unserem Projekt also notgedrungen auf eine Technologie zurück, die mehr als 30 Jahre alt ist und sich seither kaum weiterentwickelt hat.

Wenn die Technologie so langsam fortschreitet: Warum haben Sie sich gerade die besonders schwierige Aufgabe ausgesucht, ein Braille-Display zu entwickeln?

Die Idee für das Display verfolge ich bereits seit einigen Jahren. Ich interessiere mich sehr dafür, technologische Lösungen für Probleme des Alltags zu finden und „pain points“ abzumildern, also besonders dringende, tägliche Probleme von Menschen zu lösen. Genau so ein „pain point“ ist aus meiner Sicht, dass Menschen mit Sehbehinderung bis heute keine Möglichkeit haben, digitale Informationen ebenso gut aufzunehmen wie sehende Menschen. Dabei ist das ein sehr wichtiger Bestandteil unseres Zusammenlebens im 21. Jahrhundert. Hinzu kommt, dass alle Menschen von Grund auf sehr taktile Wesen sind. Wir ertasten und erfühlen gerade ganz am Anfang unseres Lebens unsere Umwelt ja viel mehr, als dass wir sie sehen oder hören. Jeder, der Kinder hat, weiß genau, was ich meine. Dass wir heute vergleichsweise viel über das Sehen und Hören wissen und so wenig über den Tastsinn, erscheint mir völlig widersprüchlich. Ich frage mich oft: Warum nutzen wir den allerersten unserer Sinne so wenig?

Wie weit sind Sie bei Ihrer Forschung gekommen?

Es gibt einen ersten Prototypen des Braille-Displays. Die Ingenieurin Elisabeth Wilhelm hat den allerersten Entwurf in meiner Arbeitsgruppe im Rahmen ihrer Promotion entwickelt. Nun sind wir aber mit den gleichen Herausforderungen konfrontiert wie viele andere neue Entwicklungen auch: Das Problem sind nicht die Materialien oder die Grundidee, sondern, dass wahnsinnig viele verschiedene Faktoren möglichst perfekt zusammenwirken müssen. Viele gute Ansätze scheitern daher vor allem an solchen Problemen, wenn sie im großen Maßstab hergestellt werden sollen. Das ist auch bei uns so. Es war sehr mühsam und fehleranfällig, den Prototypen zu produzieren. Wir werden später ein anderes Fertigungsverfahren brauchen.

Mit wem arbeiten Sie auf diesem langen Weg zusammen? Und wie beziehen Sie Blinde und Menschen mit Sehbehinderung in die Entwicklung mit ein?

In meinem Arbeitsfeld ist es sehr wichtig, viele unterschiedliche Fachrichtungen dabei zu haben. Mein Team ist deshalb mit ungefähr 50 Leuten nicht nur recht groß, sondern auch sehr divers. Bei uns arbeiten Materialwissenschaftler:innen, Ingenieur:innen, Physiker:innen, Biolog:innen und Chemiker:innen zusammen. Etwa zehn davon beschäftigen sich mit dem taktilen Display. Dazu holen wir uns auch noch Unterstützung von außen. Wir haben zum Beispiel das Glück, dass wir schon früh im Projekt mit den Kolleg:innen am Zentrum für digitale Barrierefreiheit und Assistive Technologien (ACCESS@KIT) zusammenarbeiten durften. Das ACCESS@KIT ist eine der führenden Forschungseinrichtungen bei Technologien für Menschen mit Sehbehinderung. Jeder unserer Prototypen wird direkt von einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter mit Sehbehinderung des Zentrums getestet und bewertet. Das machen wir regelmäßig im Abstand weniger Wochen. Die Kolleg:innen dort haben uns dabei immer ein sehr direktes und konkretes Feedback gegeben. Sobald wir mit dieser Unterstützung ein stabiles Produktdesign gefunden und die passende Fertigungstechnologie entwickelt haben, werden wir größere Studienreihen anfangen. Das haben wir uns von der Ethikkommission der Universität Freiburg schon genehmigen lassen.

Ein Team aus 50 Leuten und ein komplexes Forschungsthema: Das kostet Geld. Wie finanzieren Sie Ihr Projekt?

Aktuell werden wir durch einen so genannten „Consolidator Grant“ („Grant“ = englisches Wort für „Zuschuss“, Anm. d. Red.) des European Research Council (ERC) gefördert. Das ist eines der umfangreichsten und flexibelsten wissenschaftlichen Förderprogramme in Europa. Wir haben es vor allem dieser finanziellen Unterstützung zu verdanken, dass wir wirklich messbare Fortschritte in unserem Projekt machen können.

Wann, glauben Sie, werden Sie das erste Display auf den Markt bringen? 

Wir rechnen damit, dass wir noch mindestens zwei Jahre daran forschen und es weiterentwickeln müssen. Bei den Problemen, die wir gerade in der Herstellung lösen müssen, denken wir aber schon jetzt darüber nach, wie sich der Prozess später skalieren, also auch für die Produktion größerer Stückzahlen umsetzen lässt. Nur dann wäre ja eine industrielle Herstellung des Displays möglich. Weil wir schon jetzt so darauf schauen, bin ich mir relativ sicher, dass wir schon bald einen ersten Prototypen öffentlich vorstellen können. Die erste größere Studie mit Nutzer:innen bereiten wir gerade vor. Sie wird im Jahr 2023 starten.




Inklupreneur: Ein Projekt für mehr Inklusion in der Start-up-Szene

Herr Dreyer, was ist ein „Inklupreneur“?

Inklupreneure sind Unternehmer:innen und Gründer:innen, die sich für Inklusion einsetzen und in ihrem Unternehmen inklusive Arbeitsplätze schaffen. Für den Namen unseres Projekts haben wir deshalb die Begriffe „Inklusion“ und „Entrepreneurship“ (auf Deutsch: Unternehmertum) miteinander verbunden. Inklupreneure können aber auch Menschen mit Behinderung sein, die den mutigen Schritt gehen und sich bei Unternehmen bewerben, in denen sie berufliches Neuland betreten. Unser Programm ist also für Menschen und Unternehmen gedacht, die neue Wege gehen. Wir richten uns dabei vor allem an die Start-up-Szene.

Es gibt bereits viele Anlaufstellen für Gründer:innen, Unternehmen und Arbeitnehmer:innen. Braucht die Start-up-Szene trotzdem solche Beratungsangebote wie Ihres?

Unserer Erfahrung nach: ja. Firmen und Organisationen aus der Start-up-Szene haben eine ganz eigene Unternehmenskultur mit sehr dynamischen, also sich ständig verändernden Prozessen. Sie wachsen sehr schnell und brauchen viel Personal. Viele Beratungsangebote erfüllen nicht unbedingt das, was Start-ups tatsächlich brauchen. Hier setzen wir an. Wir möchten die Unternehmer:innen dabei unterstützen, Inklusion zu einem Teil ihrer Unternehmenskultur zu machen.

Warum ist das wichtig?

Ich glaube, dass langfristig nur noch Unternehmen am Markt eine Chance haben, die auch einen gesellschaftlichen Beitrag leisten. Daher finde ich, dass sich alle Gründer:innen überlegen sollten, wie dieser Beitrag in ihrer eigenen Organisation aussehen könnte. Ich selbst habe vor 15 Jahren ein Unternehmen gegründet und sehr positive Erfahrungen mit der Arbeit in einem inklusiven Team gemacht. Als wir damals gewachsen sind und Personal brauchten, hat uns die Agentur für Arbeit die Bewerbung eines Software-Entwicklers mit Behinderung übermittelt. Seine Qualifikationen passten zu unseren Anforderungen, wir wiederum haben uns auf seine Bedürfnisse eingestellt – und er hat sich darauf eingelassen, in einem Start-up zu arbeiten. Für alle, die später in der Firma angefangen haben, war Inklusion dann ganz selbstverständlich. Mein und unser gesellschaftlicher Beitrag ist, dass wir das auch anderen Start-ups ermöglichen möchten.

Mit was für einem Programm unterstützen Sie Unternehmen dabei?

Wer mitmachen möchte, muss auf unserer Website erst einmal einen „Pledge“ unterzeichnen, also ein Formular zur Selbstverpflichtung. Das Start-up beschreibt darin das eigene Unternehmen genauer und erklärt, wo im Betrieb Stellen für Menschen mit Behinderung eingerichtet werden sollen.

Was ist der nächste Schritt?

Wir beginnen immer mit einer Auftaktveranstaltung. Das sind zwei sehr intensive Tage, an denen alle Unternehmen, die mitmachen, ihre jeweils eigene Inklusionsstrategie erarbeiten. Wir begleiten die Gründer:innen und Unternehmen anschließend noch einige Monate mit einem Coaching.

Wer coacht die Firmen?

Das Projekt „Inklupreneur“ wird von der Hilfswerft gGmbH organisiert, die ich als Geschäftsführer leite. Wir bieten dort Workshops für angehende Sozialunternehmer:innen an und haben dafür ein großes Netzwerk von Mentorinnen und Mentoren aufgebaut, auf das wir nun auch für „Inklupreneur“ zurückgreifen können. Insgesamt beraten 20 Menschen mit Behinderung die Unternehmen auf ihrem Weg und geben ihnen Rückmeldungen dazu, wie sie in der Community wahrgenommen werden: Worauf schauen Bewerber:innen mit Behinderung auf der Website als erstes? Wie barrierearm ist das Unternehmen? Wer könnte dort arbeiten – und wer nicht? Zum Beispiel kann ja auch ein Büro in einer Altbauwohnung im zweiten Stock barrierefrei sein, nur eben nicht für Menschen mit einer Mobilitätseinschränkung. Das ist den Verantwortlichen in den Firmen aber oft gar nicht klar, weil viele erst einmal nur an bauliche Barrierefreiheit denken. Deshalb ist der Austausch mit den Coaches sehr wichtig. Ich glaube, durch diesen direkten Kontakt setzen wir am meisten in Bewegung.

Müssen die Unternehmen für die Beratung etwas bezahlen?

Nein, das Programm ist kostenlos. Wir erwarten nur, dass sie hinter ihrer Selbstverpflichtung stehen und es ihnen damit ernst ist. Es ist daher auch wichtig, dass sie sich vorher gut überlegen, wie viele inklusive Stellen sie ankündigen, denn wir nehmen sie da beim Wort.

Wie finanzieren Sie das Projekt?

Wir haben Fördergelder für drei Jahre vom Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) Berlin bekommen. Das ist das gleiche wie die Inklusionsämter in Nordrhein-Westfalen und in anderen Bundesländern.

Müssen Sie bestimmte Ziele erfüllen, um diese Förderung zu bekommen?

Ja, wir haben in Rücksprache mit dem Landesamt als Ziel formuliert, dass wir durch das Projekt 60 bis 120 neue inklusive Arbeitsplätze schaffen wollen. Unsere Hauptleistung dabei ist, Kontakt zu Unternehmen aufzubauen, die bereit dazu sind, und sie dabei zu unterstützen, diese Stellen zu definieren und auszuschreiben. Das zweite Ziel ist natürlich, diese Stellen auch zu besetzen. Dabei kooperieren wir unter anderem mit der Bundesagentur für Arbeit und dem Jobcenter.

Wie läuft das bisher?

Deutschlandweit haben bisher 42 Firmen die Selbstverpflichtung unterzeichnet. Sie wollen insgesamt 139 inklusive Stellen schaffen.

Sind diese Stellen schon vergeben?

Nein, das wird noch dauern. Für die Unternehmen ist der „Pledge“ am Anfang des Prozesses ein erster, wichtiger Schritt, mit dem sie sich im positiven Sinne selbst unter Druck setzen. Danach müssen sie aber oft noch viele offene Fragen klären, bevor es wirklich losgehen kann. Dabei unterstützen wir sie. Bisher haben die Inklupreneure in unserem Programm knapp 30 konkrete Stellen ausgeschrieben. Sechs davon sind schon besetzt.

Woran liegt es, dass bisher erst so wenige Arbeitsplätze besetzt sind? Finden die Unternehmen keine passenden Bewerber:innen?

Das ist tatsächlich eine Herausforderung. Unser Projekt läuft jetzt seit einem Jahr. Eine Erkenntnis aus dieser Zeit ist, dass auf der Unternehmensseite zwar ein sehr großes Interesse besteht, inklusive Stellen zu schaffen. Oft gehen dann aber gar keine Bewerbungen für die neu geschaffenen Arbeitsplätze ein. Offenbar reichen die bisher vorhandenen Angebote zur Vermittlung dieser Stellen noch nicht aus. Wir möchten deshalb in Zukunft eine eigene Inklupreneur-Gemeinschaft aufbauen und so Arbeitsuchende mit Unternehmen verknüpfen.
Die Unternehmen können sich im Rahmen unseres Angebots schon jetzt miteinander vernetzen und Wissen austauschen. Eigentlich arbeiten wir also daran, unser Programm irgendwann überflüssig zu machen. Das wird vermutlich nicht passieren, aber mit dieser Haltung gehen wir an das Projekt heran.

Bisher gibt es das Inklupreneur-Programm nur in Berlin und Bremen. Wollen Sie es später auch in anderen Bundesländern anbieten?

Ja, das können wir uns gut vorstellen. Unternehmen aus anderen Bundesländern können schon jetzt unseren „Pledge“ unterzeichnen. Wenn sich genügend Interessierte gemeldet haben, werden wir auf die zuständigen Inklusionsämter zugehen und versuchen, unser Programm auch dort auf den Weg zu bringen. Wir würden uns freuen, wenn mit der Zeit eine Art Bewegung daraus wird und Inklusion irgendwann ganz selbstverständlich zur klassischen Gründer:innenberatung dazugehört. Wenn es in solchen Gesprächen also künftig nicht mehr nur darum geht, wie ein Unternehmen finanziell über die Runden kommen kann, sondern auch gemeinsam überlegt wird, wie es einen gesellschaftlichen Beitrag leisten kann, hätten wir unser Ziel erreicht.