Inklupreneur: Ein Projekt für mehr Inklusion in der Start-up-Szene

Herr Dreyer, was ist ein „Inklupreneur“?

Inklupreneure sind Unternehmer:innen und Gründer:innen, die sich für Inklusion einsetzen und in ihrem Unternehmen inklusive Arbeitsplätze schaffen. Für den Namen unseres Projekts haben wir deshalb die Begriffe „Inklusion“ und „Entrepreneurship“ (auf Deutsch: Unternehmertum) miteinander verbunden. Inklupreneure können aber auch Menschen mit Behinderung sein, die den mutigen Schritt gehen und sich bei Unternehmen bewerben, in denen sie berufliches Neuland betreten. Unser Programm ist also für Menschen und Unternehmen gedacht, die neue Wege gehen. Wir richten uns dabei vor allem an die Start-up-Szene.

Es gibt bereits viele Anlaufstellen für Gründer:innen, Unternehmen und Arbeitnehmer:innen. Braucht die Start-up-Szene trotzdem solche Beratungsangebote wie Ihres?

Unserer Erfahrung nach: ja. Firmen und Organisationen aus der Start-up-Szene haben eine ganz eigene Unternehmenskultur mit sehr dynamischen, also sich ständig verändernden Prozessen. Sie wachsen sehr schnell und brauchen viel Personal. Viele Beratungsangebote erfüllen nicht unbedingt das, was Start-ups tatsächlich brauchen. Hier setzen wir an. Wir möchten die Unternehmer:innen dabei unterstützen, Inklusion zu einem Teil ihrer Unternehmenskultur zu machen.

Warum ist das wichtig?

Ich glaube, dass langfristig nur noch Unternehmen am Markt eine Chance haben, die auch einen gesellschaftlichen Beitrag leisten. Daher finde ich, dass sich alle Gründer:innen überlegen sollten, wie dieser Beitrag in ihrer eigenen Organisation aussehen könnte. Ich selbst habe vor 15 Jahren ein Unternehmen gegründet und sehr positive Erfahrungen mit der Arbeit in einem inklusiven Team gemacht. Als wir damals gewachsen sind und Personal brauchten, hat uns die Agentur für Arbeit die Bewerbung eines Software-Entwicklers mit Behinderung übermittelt. Seine Qualifikationen passten zu unseren Anforderungen, wir wiederum haben uns auf seine Bedürfnisse eingestellt – und er hat sich darauf eingelassen, in einem Start-up zu arbeiten. Für alle, die später in der Firma angefangen haben, war Inklusion dann ganz selbstverständlich. Mein und unser gesellschaftlicher Beitrag ist, dass wir das auch anderen Start-ups ermöglichen möchten.

Mit was für einem Programm unterstützen Sie Unternehmen dabei?

Wer mitmachen möchte, muss auf unserer Website erst einmal einen „Pledge“ unterzeichnen, also ein Formular zur Selbstverpflichtung. Das Start-up beschreibt darin das eigene Unternehmen genauer und erklärt, wo im Betrieb Stellen für Menschen mit Behinderung eingerichtet werden sollen.

Was ist der nächste Schritt?

Wir beginnen immer mit einer Auftaktveranstaltung. Das sind zwei sehr intensive Tage, an denen alle Unternehmen, die mitmachen, ihre jeweils eigene Inklusionsstrategie erarbeiten. Wir begleiten die Gründer:innen und Unternehmen anschließend noch einige Monate mit einem Coaching.

Wer coacht die Firmen?

Das Projekt „Inklupreneur“ wird von der Hilfswerft gGmbH organisiert, die ich als Geschäftsführer leite. Wir bieten dort Workshops für angehende Sozialunternehmer:innen an und haben dafür ein großes Netzwerk von Mentorinnen und Mentoren aufgebaut, auf das wir nun auch für „Inklupreneur“ zurückgreifen können. Insgesamt beraten 20 Menschen mit Behinderung die Unternehmen auf ihrem Weg und geben ihnen Rückmeldungen dazu, wie sie in der Community wahrgenommen werden: Worauf schauen Bewerber:innen mit Behinderung auf der Website als erstes? Wie barrierearm ist das Unternehmen? Wer könnte dort arbeiten – und wer nicht? Zum Beispiel kann ja auch ein Büro in einer Altbauwohnung im zweiten Stock barrierefrei sein, nur eben nicht für Menschen mit einer Mobilitätseinschränkung. Das ist den Verantwortlichen in den Firmen aber oft gar nicht klar, weil viele erst einmal nur an bauliche Barrierefreiheit denken. Deshalb ist der Austausch mit den Coaches sehr wichtig. Ich glaube, durch diesen direkten Kontakt setzen wir am meisten in Bewegung.

Müssen die Unternehmen für die Beratung etwas bezahlen?

Nein, das Programm ist kostenlos. Wir erwarten nur, dass sie hinter ihrer Selbstverpflichtung stehen und es ihnen damit ernst ist. Es ist daher auch wichtig, dass sie sich vorher gut überlegen, wie viele inklusive Stellen sie ankündigen, denn wir nehmen sie da beim Wort.

Wie finanzieren Sie das Projekt?

Wir haben Fördergelder für drei Jahre vom Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) Berlin bekommen. Das ist das gleiche wie die Inklusionsämter in Nordrhein-Westfalen und in anderen Bundesländern.

Müssen Sie bestimmte Ziele erfüllen, um diese Förderung zu bekommen?

Ja, wir haben in Rücksprache mit dem Landesamt als Ziel formuliert, dass wir durch das Projekt 60 bis 120 neue inklusive Arbeitsplätze schaffen wollen. Unsere Hauptleistung dabei ist, Kontakt zu Unternehmen aufzubauen, die bereit dazu sind, und sie dabei zu unterstützen, diese Stellen zu definieren und auszuschreiben. Das zweite Ziel ist natürlich, diese Stellen auch zu besetzen. Dabei kooperieren wir unter anderem mit der Bundesagentur für Arbeit und dem Jobcenter.

Wie läuft das bisher?

Deutschlandweit haben bisher 42 Firmen die Selbstverpflichtung unterzeichnet. Sie wollen insgesamt 139 inklusive Stellen schaffen.

Sind diese Stellen schon vergeben?

Nein, das wird noch dauern. Für die Unternehmen ist der „Pledge“ am Anfang des Prozesses ein erster, wichtiger Schritt, mit dem sie sich im positiven Sinne selbst unter Druck setzen. Danach müssen sie aber oft noch viele offene Fragen klären, bevor es wirklich losgehen kann. Dabei unterstützen wir sie. Bisher haben die Inklupreneure in unserem Programm knapp 30 konkrete Stellen ausgeschrieben. Sechs davon sind schon besetzt.

Woran liegt es, dass bisher erst so wenige Arbeitsplätze besetzt sind? Finden die Unternehmen keine passenden Bewerber:innen?

Das ist tatsächlich eine Herausforderung. Unser Projekt läuft jetzt seit einem Jahr. Eine Erkenntnis aus dieser Zeit ist, dass auf der Unternehmensseite zwar ein sehr großes Interesse besteht, inklusive Stellen zu schaffen. Oft gehen dann aber gar keine Bewerbungen für die neu geschaffenen Arbeitsplätze ein. Offenbar reichen die bisher vorhandenen Angebote zur Vermittlung dieser Stellen noch nicht aus. Wir möchten deshalb in Zukunft eine eigene Inklupreneur-Gemeinschaft aufbauen und so Arbeitsuchende mit Unternehmen verknüpfen.
Die Unternehmen können sich im Rahmen unseres Angebots schon jetzt miteinander vernetzen und Wissen austauschen. Eigentlich arbeiten wir also daran, unser Programm irgendwann überflüssig zu machen. Das wird vermutlich nicht passieren, aber mit dieser Haltung gehen wir an das Projekt heran.

Bisher gibt es das Inklupreneur-Programm nur in Berlin und Bremen. Wollen Sie es später auch in anderen Bundesländern anbieten?

Ja, das können wir uns gut vorstellen. Unternehmen aus anderen Bundesländern können schon jetzt unseren „Pledge“ unterzeichnen. Wenn sich genügend Interessierte gemeldet haben, werden wir auf die zuständigen Inklusionsämter zugehen und versuchen, unser Programm auch dort auf den Weg zu bringen. Wir würden uns freuen, wenn mit der Zeit eine Art Bewegung daraus wird und Inklusion irgendwann ganz selbstverständlich zur klassischen Gründer:innenberatung dazugehört. Wenn es in solchen Gesprächen also künftig nicht mehr nur darum geht, wie ein Unternehmen finanziell über die Runden kommen kann, sondern auch gemeinsam überlegt wird, wie es einen gesellschaftlichen Beitrag leisten kann, hätten wir unser Ziel erreicht.




„Unser Ziel ist mindestens eine Milliarde Euro“: Porträt auf Capital+ über die Gründer der Parkinson-Stiftung Yuvedo

Als Jens Greve die Diagnose Parkinson bekam, las er erst einmal zwei Jahre lang alles, was zu der Nervenkrankheit veröffentlicht worden war. Er machte sich so nach und nach selbst zum Experten seiner Erkrankung. Heute weiß er, dass diese irgendwann heilbar sein wird – und dazu will er einen Beitrag leisten. Er gründete gemeinsam mit dem Anwalt Jörg Karenfort und anderen die Parkinson-Stiftung Yuvedo. Die beiden Männer verbindet, dass sie die Diagnose schon mit Mitte 40 bekommen haben. Die 300.000 Erkrankten in Deutschland sind sonst vor allem ältere Menschen.

Yuvedo verfolgt drei Ziele: Mit einer App für Patient:innen, die es auch als Web-Anwendung gibt, sollen möglichst viele Daten über die Krankheit gesammelt werden. Das ist eine wichtige Grundlage für die weitere Parkinson-Forschung. Zweitens legte die Stiftung die Neuro-Initiative 4.0 auf, die die Bewegung von Erkrankten fördern sowie deren Diskriminierung und Stigmatisierung verhindern soll. Und nicht zuletzt will Yuvedo die Erforschung besserer Medikamente vorantreiben. Das ist ein besonders großes Vorhaben. Es gibt zwar bereits Arzneimittel, diese unterdrücken die Symptome aber nur zeitweise. Außerdem haben die Mittel Nebenwirkungen. Wer zum Beispiel zu lange Medikamente einnimmt, die die Ausschüttung von Dopamin im Hirn anregen, kann irgendwann bestimmte Impulse nicht mehr kontrollieren. Das kann zu Spiel-, Sex- oder Kaufsucht führen. „Es gibt etliche, die ihr Erspartes verzockt haben“, sagt Jörg Karenfort im Capital+-Artikel.

Wenn mehr Geld in die Forschung und Behandlung von Parkinson-Erkrankten fließen würde, könnten die Medikamente besser werden, davon sind Karenfort und Greve überzeugt. Sie legen deshalb gerade einen Fonds auf, um ab 2022 private Investoren mit ins Boot zu holen. „Unser Ziel ist es, mindestens eine Milliarde Euro zusammenzubekommen“, sagt Karenfort im Artikel. Dabei geht es ihm und seinen Mitstreiter:innen nicht um Spenden, sondern um Geldanlagen, die sich für die Investor:innen auszahlen sollen. Das Geld soll später in Forschung investiert werden oder an Pharmakonzerne und Start-ups gehen.

›› Den ganzen Artikel über die beiden Gründer, die Stiftung und deren Ziele lest ihr auf Capital+.




„Der Selbsttest gibt keine Entscheidung vor, sondern bringt Ordnung ins Chaos“ | Interview mit Veronika Chakraverty zum Online-Angebot „Sag ich’s?“, Teil 2

Frau Chakraverty, im ersten Teil unseres Interviews haben Sie uns erklärt, wie Ihr Angebot entstanden ist und wie Sie es finanzieren. Aber wie genau setzen Sie es um? Wie haben Sie zum Beispiel die vielen Fragen für den Selbsttest erarbeitet?

Wir haben zunächst Berufstätige mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen online zu ihren Erfahrungen mit der Entscheidung befragt, ihre Beeinträchtigung bei der Arbeit offenzulegen oder nicht. Das war eine wichtige Grundlage dafür, welche Schwerpunkte wir im Test setzen wollten. Für viele Befragte stand die Angst vor Diskriminierung sehr stark im Vordergrund. Mögliche positive Konsequenzen wiederum, die daraus ja auch entstehen können, gingen eher unter. In der Psychologie nennt sich das „Urteilsverzerrung“: Die meisten Menschen neigen unbewusst dazu, mögliche negative Folgen bei einer Entscheidung zu stark zu gewichten. Unsere Erkenntnisse aus der Befragung deckten sich also mit den wissenschaftlichen Theorien und Studien zum Thema.
Für uns stand daher fest: Wir wollen mit den Fragen im Selbsttest sicherstellen, dass nicht nur Bedenken und Ängste die Entscheidung beeinflussen, sondern auch positive Aspekte wie Hoffnungen oder persönliche Wertvorstellungen genug Raum bekommen. Denn es ist völlig nachvollziehbar, dass sich jemand vor Diskriminierung sehr fürchtet. Gleichzeitig kann diese Furcht aber dazu führen, dass eine Entscheidung fällt, die für einen selbst eigentlich gar nicht die beste ist.

Sie sprechen wissenschaftliche Studien an, die es zum Thema gibt. Was haben Sie damit noch herausgefunden?

Wir wollten zum Beispiel wissen, welche Faktoren sich später positiv oder negativ darauf auswirken können, ob die eigene Erkrankung offengelegt wird. Ein Beispiel ist die Frage danach, ob Menschen im allgemeinen starke negative Vorurteile gegenüber der Erkrankung oder Behinderung haben. Wenn ja, steigt tatsächlich das Risiko, diskriminiert zu werden. Ein anderes Beispiel: Wie wichtig ist es der Person, bei der Arbeit authentisch zu sein? Wenn das Bedürfnis danach sehr stark ist, kann es umgekehrt sehr belastend und stressig sein, die eigene Behinderung zu verschweigen.

Wie werden die Antworten ausgewertet?

Das ist relativ komplex, weil uns wichtig war, dass die Befragten ihre Auswertung sofort nach Ende des Selbsttests abrufen können. Die Ergebnisse sollten also nicht erst im Hintergrund von Hand ausgewertet werden müssen, denn das wäre sehr aufwändig und teuer gewesen. Die Auswertung gibt zunächst einen Überblick darüber, welche Aspekte eher für oder gegen eine Offenlegung sprechen. Jedes einzelne Thema kann dann noch einmal „aufgeklappt“ werden, um ausführlichere Informationen zu erhalten. Die Grundlage dafür sind verschiedene Textbausteine, die wir vorab entwickelt haben. Unsere Software fügt diese zusammen. Das geschieht unter anderem mit Hilfe von Durchschnittswerten über verschiedene Fragen hinweg. Je nachdem, welchen Wert jemand erreicht, wird später die dazu passende Auswertung angezeigt.

Bekomme ich in der Auswertung also eine Empfehlung „dafür“ oder „dagegen“?

Nein, die Auswertung ist bewusst keine abschließende Empfehlung. Aber sie hilft dabei, die eigene Situation besser zu verstehen und abzuwägen. Der Selbsttest bringt sozusagen Ordnung ins Chaos, indem er die Argumente für die Nutzer:innen in eine übersichtliche schriftliche Form bringt. So ein Überblick kann bereits sehr entlastend sein, weil die vielen Facetten des Themas nicht mehr alle gleichzeitig im Kopf herumschwirren und die Person vielleicht auch nicht mehr das Gefühl hat, etwas Wichtiges zu vergessen. Die Auswertung kann auch abgespeichert oder ausgedruckt werden. So kann man auch erst einmal in Ruhe drüber schlafen.

Gibt es Fragen, die wichtiger sind als andere und deshalb stärker in die Auswertung einfließen?

Die Themen im Selbsttest sind für die Befragten ja ganz unterschiedlich wichtig, deswegen gewichten wir sie alle gleich. In der Auswertung bieten wir den Nutzer:innen aber die Möglichkeit, selbst festzulegen, welche Aspekte stärker beachtet werden sollen und welche für sie persönlich nicht so entscheidend sind. Außerdem treffen ja nicht alle Menschen auf die gleiche Weise ihre Entscheidungen. Manche sind beispielsweise eher der Typ für Pro-und-Kontra-Listen, andere entscheiden lieber aus dem Bauch heraus. Beides hat seine Berechtigung. Wir geben auf der Website ein paar Tipps dazu, wie diese nächsten Schritte passend zum persönlichen „Entscheidungsstil“ aussehen können.

Und was geschieht, wenn ich mich entschieden habe?

Wenn eine Entscheidung gefallen ist, bieten wir auch hierfür weitere Informationen, die helfen können. Zum Beispiel dazu, wie man sich auf schwierige Gespräche vorbereitet oder sich einen guten Plan machen kann, wenn das Gefühl entstanden ist, dass man das nicht alles auf einmal schafft. Wir ermutigen die Nutzer:innen der Webseite außerdem an verschiedenen Stellen immer wieder, sich persönlich beraten und unterstützen zu lassen. Eine Online-Hilfe wie unsere ist sehr gut für eine erste Orientierung, sie kann aber ein persönliches Gespräch nicht ersetzen.

Sie und Ihre Kolleginnen haben den Selbsttest kürzlich mit einer digitalen Veranstaltung etwa 30 Interessierten vorgestellt. Welche Rückmeldungen kamen von den Teilnehmer:innen – und welche waren für Sie besonders wertvoll?

Es gab viel Lob und auch viele gute Hinweise, wie wir unser Angebot weiterentwickeln können. Einer davon war, dass wir im Social-Media-Bereich noch nicht gut aufgestellt sind. Das heißt: Eigentlich noch gar nicht. Es wurde aber gewünscht, dass wir künftig Beiträge in sozialen Medien zum Thema verfassen sollen, die dann geteilt werden können. Das greifen wir gerne auf.
Ein weiteres Thema war, dass Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen oft schon in der Bewerbungsphase für einen Arbeitsplatz vor der Frage stehen, ob und wie sie ihre Beeinträchtigung ansprechen sollen. Der Wunsch im Plenum war, auch diese Zielgruppe auf der Website künftig zu berücksichtigen. Und einige meldeten uns zurück, dass unser Angebot noch sprachliche Hindernisse enthält, zum Beispiel für Menschen, die gar nicht oder nicht gut Deutsch lesen oder verstehen können. Jugendliche sind sowieso eine ganz andere Art der Ansprache gewöhnt, für sie passt der derzeitige Stil also auch nicht so ganz.

Das bedeutet, dass Sie Ihr Angebot umfangreich weiterentwickeln müssten, um die Bedürfnisse der vielen verschiedenen Zielgruppen noch besser zu erfüllen. Ist das mit der derzeitigen Finanzierung des Projektes abgedeckt?

In dieser Form und in diesem Umfang noch nicht, nein. Die technische Betreuung der Website und des Selbsttests ist bis 2024 gesichert. Kleinere inhaltliche Anpassungen können wir aus Mitteln unseres Lehrstuhls finanzieren. Weiterentwicklungen sind im bisherigen Budget nicht vorgesehen. Wir finden die Anregungen aber sehr gut, deshalb haben wir ja auch zum Gespräch eingeladen. Einiges davon hatten wir vorher schon intern diskutiert. Wir suchen zum Beispiel seit einer Weile nach Finanzierungsquellen, um die Software technisch anpassen zu können, damit wir verschiedene Versionen sowohl der Webseite als auch des Selbsttests anbieten können. Darüber hinaus benötigen wir aber noch weitere Mittel für Übersetzungen, etwa in Leichte Sprache, und für inhaltliche Anpassungen des Selbsttests für die von den Gästen angesprochenen neuen Zielgruppen. Da liegt also noch einiges vor uns. Aber wir sind guter Dinge und hoffen, dass sich unser Angebot weiter herumsprechen wird. Vielleicht ergeben sich dadurch in Zukunft die finanziellen Möglichkeiten, unsere Angebote weiterzuentwickeln und so noch inklusiver zu gestalten. –


Teil 1 des Interviews verpasst?

Hier geht es zum ersten Teil, in dem Veronika Chakraverty das Projekt als solches vorstellt und erklärt, an wen sich das Angebot richtet und wie es finanziert wird.





„Ein persönliches Beratungsgespräch ist für viele ein Hindernis“: Interview mit Veronika Chakraverty zum Online-Angebot „Sag ich’s?“, Teil 1

Frau Chakraverty, wie entstand die Idee für das Projekt?

Wir alle im Team haben das Thema schon sehr lange auf dem Schirm, aus wissenschaftlicher genauso wie aus persönlicher Sicht. Einige von uns standen zum Beispiel selbst schon vor der Frage, wie offen man mit einer Erkrankung am Arbeitsplatz umgehen möchte. Das Thema begegnete uns auch in Projekten und in der Lehre immer wieder. Von einem späteren Kooperationspartner des Projekts kam schließlich Impuls, eine Online-Entscheidungshilfe zu entwickeln und am besten kostenfrei anzubieten. Bis die Webseite sag-ichs.de daraus entstanden war, sind noch einmal rund sechs Jahre vergangen.

Für wen haben Sie Ihr Angebot entwickelt?

Wir richten uns vor allem an Berufstätige mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen, die noch nicht wissen, ob und wie sie darüber mit Kolleg:innen oder Vorgesetzen sprechen möchten. Viele Erkrankungen oder Behinderungen sind ja auf den ersten Blick nicht zu sehen. Wenn am Arbeitsplatz niemand davon weiß außer einem selbst, kann das zu schwierigen Situationen führen. Beispielsweise, wenn Arbeitsaufgaben nicht oder nicht mehr so gut erledigt werden können, man häufiger fehlt oder während der Arbeitszeit oft Termine mit Ärzt:innen oder Therapeut:innen hat. Davon abgesehen fühlt es sich für viele aber auch einfach nicht gut an, diesen Teil des eigenen Lebens zu verbergen. Das kostet oft viel Kraft. Und wenn der Leidensdruck größer wird, überlegen viele irgendwann, ob sie es nicht doch offen ansprechen sollten. Aber das ist einfacher gesagt als getan.

Was macht die Entscheidung so schwierig?

Niemand kann in die Zukunft schauen, deshalb ist es gar nicht so einfach, herauszufinden, mit welcher Entscheidung jemand langfristig zufriedener sein wird. Viele verspüren zwar den Wunsch oder auch den Druck, über die Beeinträchtigung offen zu sprechen – aber zugleich ist da auch immer die Befürchtung, diskriminiert zu werden oder plötzlich Nachteile in der beruflichen Entwicklung zu erfahren. Und was am Ende eintreten wird, weiß ja niemand.

Es gibt bereits Anlaufstellen und Angebote für Menschen, die sich Unterstützung holen möchten. Zum Beispiel helfen betriebsärztliche Dienste, Schwerbehindertenvertretungen, Inklusionsämter oder Inklusionsfachdienste weiter. Wie unterscheidet sich der Selbsttest von diesen Angeboten?

Die Anlaufstellen, die Sie genannt haben, haben meist viel Erfahrung mit der Beratung und Unterstützung von Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen, das sind also gute und wichtige Angebote. Sie alle setzen aber in der Regel ein persönliches Gespräch voraus – für viele ist das schon ein erstes Hindernis. Wer lieber (noch) keine persönliche Beratung möchte, kann sich auf unserer Website erst einmal in Ruhe informieren, sich über den Selbsttest allein mit dem Thema auseinandersetzen und sich einer Entscheidung langsam annähern. Ein Online-Angebot kann natürlich nie das direkte Gespräch ersetzen, deshalb beschreiben wir auf sag-ichs.de auch sehr ausführlich, welche Anlaufstellen zu welchen Themen beraten und welche davon beispielsweise an eine Schweigepflicht gebunden sind. Unsere Hoffnung ist, dass so die Hemmschwelle sinkt und die Eine oder der Andere vielleicht doch den Schritt geht, eine persönliche Beratung in Anspruch zu nehmen.

Woher wissen Sie, ob Ihr Test tatsächlich die „echten“ Fragen, Bedürfnisse und Herausforderungen von Menschen mit Behinderung und chronischen Erkrankungen abbildet?

Weil wir unser Projekt von Anfang so aufgebaut haben, dass wir das sicherstellen konnten. In den entscheidenden Projektphasen saßen zum Beispiel immer Expert:innen in eigener Sache mit am Tisch, also Berufstätige mit verschiedenen chronischen Erkrankungen und Behinderungen. Mit diesem Gremium haben wir immer wieder kritische Fragen rund um die Entwicklung der Website und des Selbsttests besprochen. Es ging beispielsweise um eine passende Bezeichnung für das Thema insgesamt, um den Tonfall, die Art der Sprache in den Texten, ob alle wichtigen Themen im Selbsttest abgefragt wurden und ob die Nutzer:innenführung verständlich ist. Außerdem leben ja auch manche unserer Teammitglieder selbst mit einer chronischen Erkrankung oder Schwerbehinderung.

Welche fachlichen Impulse gab es von außen und wie sind sie in das Projekt eingeflossen?

In den verschiedenen Phasen waren Psychologinnen, eine Kommunikationsdesignerin, eine Rehabilitationswissenschaftlerin und eine Soziologin mit dabei, außerdem hat ein Jurist geholfen, ein User Experience Designer (auf Deutsch: Nutzererlebnis-Gestalter), ein IT-Experte und eine Motion-Designerin (auf Deutsch: Bewegtbild-Gestalterin) dabei. Auch unsere Projektpartner:innen und ein Beirat haben uns beraten und unterstützt, also immer wieder den „Blick von außen“ auf das Projekt geworfen – beispielsweise Krankenkassen, andere Wissenschaftler:innen oder Expert:innen für Datensicherheit.

Der Selbsttest, den Sie anbieten, ist kostenlos. Wie finanzieren Sie das?

Die Kosten für die Entwicklung der Webseite haben wir zur Hälfte aus Mitteln des Ausgleichsfonds des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) gedeckt. Die andere Hälfte hat unser Kooperationspartner AbbVie finanziert. Aus diesem Budget können wir das Angebot technisch noch für drei Jahre weiterbetreuen – also noch bis März 2024. Inhaltliche Anpassungen finanzieren wir im Moment aus den Mitteln des Lehrstuhls. Übrigens hatten weder das BMAS noch Abbvie Einfluss auf die Inhalte der Webseite, die Finanzierung läuft also klar getrennt von unserer inhaltlichen Arbeit im Projektteam. –

Im zweiten Teil des Interviews erklärt Veronika Chakraverty, wie der Selbsttest genau funktioniert, was er leisten kann und was nicht.


Neugierig geworden? Hier geht es direkt » weiter zum Selbsttest





Wie der Kunstmarkt inklusiver werden könnte

Bei „Touchdown 21“ arbeiten Menschen mit und ohne Down-Syndrom zusammen. Sie sammeln zum Beispiel Informationen über das Down-Syndrom und bereiten sie auf, vernetzen Forschende aus der ganzen Welt und unterstützen sich gegenseitig bei ihrer eigenen Arbeit. Mit dabei sind auch einige Künstler:innen, die sich in Workshops über ihre Werke und Ideen austauschen und vom Netzwerk des Projekts profitieren.

Für Katja de Bragança, die mit dem Goethe-Insititut über das Thema gesprochen hat, ist die Vermittlung von Kontakten zu Museen und anderen Ausstellungsorten eine gute Möglichkeit, Künstler:innen mit Behinderung zu unterstützen. Warum auch Geld und eine gute persönliche Verbindung wichtig sind, erklärt sie im Interview, das es hier zu lesen gibt:




Podcast-Tipp »Sag’s einfach«: „Mari Lang, warum bist du nicht behindert?“

Zu Besuch bei „Sag’s einfach“ ist in einer Folge die Journalistin und Autorin Mari Lang, die selbst den Podcast „Frauenfragen“ moderiert. Der Name ist dabei Programm: Sie stellt Männern Fragen, die sonst nur Frauen zu hören bekommen. Zum Beispiel: „Wie lassen sich Kinder und Karriere vereinbaren?“ oder „Wie ist das mit den Falten und dem Älterwerden?“.

Mari Langs Idee hat den Journalist:innen von „andererseits“ so gut gefallen, dass sie die Autorin eingeladen und deren Konzept für ihren „Sag’s einfach“-Podcast in etwas abgewandelter Form übernommen haben. Moderatorin Yuria Knoll fragt Mari Lang zum Beispiel: „Wie wohnst du?“, „Hast du Hilfe in deiner Wohnung?“ oder „Warum bist du nicht behindert?“.

Das ungewöhnliche Interview zeigt, wie absurd viele der oft gestellten Fragen sind. Die beiden Frauen tauschen sich in dem hörenswerten Gespräch außerdem darüber aus, wie es ist, nicht zur Mehrheitsgesellschaft zu gehören, und welche Parallelen es zwischen sexistischen und behindertenfeindlichen Aussagen gibt.

Die ganze Folge könnt ihr euch hier anhören.




Neue Geschichten erzählen: Das journalistische Projekt „andererseits“

Frau Kreutzer, warum heißt Ihr Projekt „andererseits“?

Die Redaktionen großer Medien, die öffentliche Debatten prägen und abbilden, arbeiten meistens noch nicht inklusiv. Im Journalismus fehlen deshalb viele Perspektiven, zum Beispiel die von Menschen mit Behinderung. Meine Kolleginnen Katharina Brunner, Katharina Kropshofer und Clara Porak haben im Frühjahr 2020 „andererseits“ gegründet, um diesen Perspektiven Raum zu geben. Wir möchten Sichtweisen abbilden und Geschichten erzählen, die bisher kaum oder gar nicht vorkommen – die andere Seite eben.

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass so viele Redaktionen noch nicht inklusiv arbeiten?

Ja, wir sehen zwei große Hürden für inklusive Arbeit. Eine davon ist der hohe Zeitdruck, der in vielen Redaktionen herrscht. Oft müssen Texte wenige Tage nach einem Interview fertig sein, und gleichzeitig sind noch andere Aufgaben zu erledigen. Das kann für manche Menschen mit Behinderung schwierig sein. Und die zweite Hürde sind die recht strengen Vorgaben für journalistische Texte, mit denen nicht alle zurechtkommen.

Und wie könnte sich das ändern?

Wir wünschen uns, dass Redaktionen und natürlich auch die Leser:innen offener werden für Texte, die anders sind als das bisher Gewohnte. So etwas ist spannend zu lesen und macht auch einfach Spaß. Und gerade diese Vielfalt ist aus unserer Sicht etwas, das Journalismus ausmacht, auszeichnet und stark macht.

Wie arbeiten Sie bei „andererseits“?

Wir nehmen uns Zeit für unsere Texte, Grafiken und Bilder. Normalerweise arbeiten an allen Aufgaben jeweils inklusive Teams, die aus zwei Journalistinnen oder Grafikdesignern mit und ohne Behinderung bestehen. Je nachdem, um welches Thema es geht und wie viel Erfahrung die Beteiligten haben, tauschen wir uns während der Recherchen und der Arbeit an den Texten viel miteinander aus.

Sie haben bestimmte sprachliche Vorgaben erwähnt, die es bei traditionellen Medien gibt. Klingen Ihre Texte anders als die in großen Zeitungen oder Magazinen?

Ja, bei uns sind ungewöhnliche und überraschende Formulierungen nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Wir weisen in unserem Newsletter mit einer eigenen Rubrik sogar besonders darauf hin. Dort stellen wir Worte oder Formulierungen vor, die Autor:innen aus unserem Team erfunden haben. „Ich kriege einen Zuckaus“, sagt unserem Redakteurin Hanna beispielsweise, wenn sie aus der Haut fährt.

Um welche Themen geht es in Ihren Artikeln und Podcasts?

Zuletzt haben wir zu zwei sehr unterschiedlichen Schwerpunkten gearbeitet: Mut und Handysucht. Zu solchen Themen entstehen jeweils mehrere Beiträge, die informativ, aber auch sehr persönlich sein können. Tatsächlich stehen oft Gefühle im Mittelpunkt, auch das ist etwas Besonderes bei uns. Der Grund ist, dass Emotionen sich oft auf politische Umstände zurückführen lassen und damit im Grunde selbst auch politisch sind. Je nachdem, in welcher Rolle eine Person ist und wie viel gesellschaftlichen Einfluss sie hat, wird diese politische Dimension aber nicht unbedingt wahrgenommen. Das möchten wir ändern.

Welche Leser:innen oder Hörer:innen erreichen Sie mit Ihren Beiträgen?

Bisher bekommen wir vor allem Nachrichten und Rückmeldungen von Menschen, die selbst Berührungspunkte mit dem Thema Behinderung haben. Und von Journalist:innen, die sich dafür interessieren, was sich in der Branche gerade so tut. Wir hoffen, dass sich unser Projekt mit der Zeit weiter herumspricht und auch Menschen ohne Behinderung oder ohne Bezug dazu unsere inklusiven Texte lesen möchten. Um eine größere Zielgruppe zu erreichen, kooperieren wir übrigens auch mit anderen Medien, etwa der Monatszeitschrift Datum, dem SZ-Magazin, dem Magazin period. oder Ö1.

Wie finanzieren Sie das Projekt?

Bisher arbeiten wir ehrenamtlich. Wir haben alle einen Hauptberuf, mit dem wir unseren Lebensunterhalt verdienen, oder wir studieren noch. Für die Anfangszeit ist dieses Modell in Ordnung, denn die Arbeit für „andererseits“ macht Spaß und ich sehe darin sehr viel Sinn. Unser Ziel ist es natürlich, dass auf lange Sicht alle ein faires Gehalt oder Honorar für ihre Arbeit bekommen.

Werden die Inhalte von „andererseits“ demnächst kostenpflichtig?

Nein, unsere Beiträge sollen gratis bleiben. Wir planen stattdessen ein Abo-Modell, bei dem unsere zahlenden Abonnent:innen mit ihrem Beitrag unseren redaktionellen Betrieb finanzieren und dafür beispielsweise exklusiv an Veranstaltungen teilnehmen können, die wir organisieren werden. Wir werden außerdem Workshops für Unternehmer:innen und Teams anbieten, die lernen möchten, inklusiv zu arbeiten und zu denken. Daran besteht großes Interesse, nicht nur im Journalismus. All das müssen wir aber noch konkreter ausarbeiten. Wir haben gerade ein Finanzierungsteam aufgestellt, das in den nächsten Monaten ein Modell entwickeln wird, mit dem wir hoffentlich erfolgreich sein werden.

Was war bisher Ihr größter Erfolg?

Wir haben gezeigt, dass inklusiver Journalismus von der Grundidee her funktioniert. Es ist möglich, so zu arbeiten, es macht Spaß und es kommen gute Texte dabei heraus. —




Hoffnung auf bessere Aussichten nach dem Corona-Knick: Das Inklusionsbarometer Arbeit 2021

Frau Greskamp, die Aktion Mensch gibt seit 2013 zusammen mit dem Handelsblatt Research Institute jährlich das Inklusionsbarometer Arbeit heraus. Was genau untersuchen Sie damit?

Der Name des Inklusionsbarometers Arbeit sagt es schon: Wir untersuchen die Lage der Inklusion auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Dafür werten wir die Daten der Bundesagentur für Arbeit und der Inklusionsämter aus und setzen diese in ein Verhältnis zueinander. Es gibt dabei zehn Anhaltspunkte, mit denen wir zusammengenommen ein Bild der Situation zeichnen können. Etwa die Arbeitslosenquote, der Anteil an Langzeitarbeitslosen unter Menschen mit Behinderung oder die Quote der Arbeitsplätze, die Arbeitgeber:innen eigentlich gesetzlich verpflichtend mit Menschen mit Behinderung besetzen müssen, es aber oft nicht tun. Das Ziel unserer Studie ist es, verschiedene Ansatzpunkte zu finden, um die Inklusion auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern und voranzutreiben.

Ihre Studie aus dem letzten Jahr hat gezeigt, dass Menschen mit Behinderung besonders von der Corona-Pandemie betroffen waren. Von ihnen wurden viele arbeitslos. Jetzt sind wir im zweiten Pandemie-Jahr. Hat sich am Beschäftigungsverhältnis von Menschen mit Behinderung etwas verbessert?

Die Arbeitslosigkeit bei Menschen mit Behinderung ist zwar etwas langsamer angestiegen als bei Menschen ohne Behinderung. Das Problem liegt aber auch an anderer Stelle. Sobald Menschen mit Behinderung einmal arbeitslos geworden sind, suchen sie deutlich länger nach einer neuen Stelle als Menschen ohne Behinderung. Deshalb ist die Arbeitslosigkeit hier auch so gravierend. Im Inklusionsbarometer 2020 haben wir einige teilweise pandemiebedingte Gründe entdeckt, zum Beispiel wurden befristete Verträge nicht verlängert oder Auszubildende nach der Ausbildung nicht übernommen. Wegen Corona konnten außerdem viele Qualifizierungs- oder Beschäftigungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit nicht stattfinden.

Wie viel länger sind Menschen mit Behinderung durchschnittlich arbeitslos im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung?

Menschen mit Behinderung suchen im Schnitt rund 100 Tage länger nach einer neuen Stelle als Menschen ohne Behinderung. Schon im letzten Jahr waren knapp 70.000 Menschen mit Behinderung mindestens ein Jahr ohne Beschäftigung. 35.000 davon waren sogar länger als zwei Jahre arbeitslos. Langzeitarbeitslosigkeit war schon vor Corona ein großes Problem. Das verschärft sich nun leider weiter.

Welche Möglichkeiten gibt es für Arbeitgeber:innen, die Lage von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern?

Das ist eigentlich einfach. Sie müssten mehr Menschen mit Behinderung einstellen. Es gibt hierfür viele hilfreiche Angebote und Zuschüsse. Beispielsweise helfen Land und Bund bei den Lohnkosten oder wenn Investitionen anfallen, und es gibt Zuschüsse, um Beschäftigungsverhältnisse zu sichern oder einen Arbeitsplatz passend auszustatten. Letzteres können teilweise auch die Arbeitnehmer:innen selbst beantragen, genauso wie eine Assistenz, die im Arbeitsalltag unterstützt. Auch für Fahrtkosten gibt es Zuschüsse, oder auch Finanzierungsangebote für den behinderungsgerechten Umbau eines Autos. Die Integrationsfachdienste, Arbeitsagenturen und Jobcenter beraten dazu sowohl Arbeitgeber:innen als auch Arbeitnehmer:innen kostenlos.

Es gibt also viele finanzielle Anreize und kostenlose Angebote, die doch eigentlich dazu führen müssten, dass Arbeitgeber:innen mehr Menschen mit Behinderung einstellen. Woran liegt es, dass das insgesamt trotzdem zu selten der Fall ist?

Als Aktion Mensch betreiben wir viel Aufklärungsarbeit in diesem Bereich. Wir haben dabei festgestellt, dass viele Unternehmen und Arbeitgeber:innen gar nicht wissen, welche Fördermöglichkeiten, Unterstützungsleistungen und Beratungsangebote es gibt. Zwar haben wir in Deutschland seit vielen Jahren eine gute Infrastruktur mit Inklusionsberatungen, Integrationsfachdiensten oder den Technischen Beratungsdiensten, die beispielsweise bei der Arbeitsplatzausstattung helfen. Der Zugang soll aber ab nächstem Jahr einfacher werden. Dabei spielt das Teilhabestärkungsgesetz eine wichtige Rolle, das im April 2021 im Bundestag verabschiedet wurde. Es legt unter anderem fest, dass ab Anfang 2022 einheitliche Ansprechstellen in Deutschland geschaffen werden sollen, die Arbeitgeber:innen bei der Ausbildung, Anstellung und Beschäftigung von Menschen mit Behinderung unterstützen. Das ist eine Entwicklung, die wir als Aktion Mensch begrüßen.

Es gibt noch einen anderen Punkt, der für ein inklusives Arbeitsleben sehr wichtig ist: Die Barrierefreiheit in Betrieben. Wie hat sich das entwickelt?

Die Kostenträger haben in den letzten zehn Jahren auf jeden Fall weniger Geld dafür ausgegeben, Barrierefreiheit in Betrieben zu schaffen, weil das von den Unternehmen offenbar seltener beantragt wird. Das kann natürlich auch daran liegen, dass einige Unternehmen bereits ausreichend Barrierefreiheit geschaffen haben – diese nutzt dann ja auch zukünftigen Beschäftigten mit Behinderung und oft auch den Angestellten ohne Behinderung. Dennoch gibt es hier sicherlich noch Luft nach oben. Insgesamt sollten Unternehmen sich idealerweise nicht erst dann um Barrierefreiheit bemühen, wenn sie einen Menschen mit Behinderung einstellen, sondern schon vorher die Rahmenbedingungen dafür schaffen. Das umfasst übrigens sowohl bauliche als auch digitale Barrierefreiheit.

Wie lautet ihre Prognose für das Inklusionsbarometer Arbeit 2022?

Laut Prognosen der Wirtschaftsinstitute wird sich der Arbeitsmarkt erst im Laufe des Jahres 2022 erholen. Grundsätzlich bleiben die Trends am Arbeitsmarkt bestehen: Aufgrund des demografischen Wandels sinkt das Fachkräfteangebot, sodass die Chancen für Fachkräfte mit Behinderung steigen.
Die besten Chancen haben Arbeitskräfte im Öffentlichen Dienst, aber auch in der Erziehung, im Gesundheitssektor, im Handel, im Verkehr sowie im Gastgewerbe. Dort zum Beispiel könnten 2022 insgesamt über 400.000 zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. In diesen Wirtschaftszweigen sind schon jetzt rund 45 Prozent der Menschen mit Behinderung beschäftigt, die einen Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt haben.
Die Erfahrung lehrt uns allerdings auch, dass sich der Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung langsamer entwickelt als für Menschen ohne Behinderung – das gilt während eines Abschwungs genauso wie in Zeiten des Aufschwungs. Dass sich der Arbeitsmarkt erholt, wird sich für Menschen mit Behinderung also positiv auswirken, aber voraussichtlich langsamer als für Menschen ohne Behinderung.

Wenn Sie drei Wünsche frei hätten: Was würden Sie ändern, um das Ergebnis des nächsten Inklusionsbarometers zu verbessern?

Mein erster Wunsch ist, dass die Ausgleichsabgabe deutlich erhöht wird. Das ist der Betrag, den in Deutschland alle Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeiter:innen zahlen müssen, deren Arbeitsplätze zu weniger als fünf Prozent mit Menschen mit Behinderung besetzt sind. Ich würde mir diese Erhöhung zumindest für die Unternehmen wünschen, die derzeit noch gar keine Menschen mit Behinderung beschäftigen.
Zweitens sollten Arbeitgeber:innen künftig viel niedrigschwelliger beraten und begleitet werden als jetzt. Diese Entwicklung erhoffe ich mir aber schon von den bereits genannten einheitlichen Ansprechstellen, die ab nächstem Jahr geschaffen werden sollen. So steht es ja auch im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP. Ich hoffe, dass die neue Regierung das auch umsetzt.
Und zu guter Letzt brauchen wir noch mehr gute Beispiele und Vorbilder – also mehr Unternehmen, die zeigen und darüber reden, dass und wie Menschen mit Behinderung ihre Stärken am Arbeitsplatz für beide Seiten positiv einsetzen können. So, wie es für Menschen ohne Behinderung ja längst selbstverständlich ist. —




Expert:innen in eigener Sache: Dozierende mit Behinderung als Inklusionstrainer:innen

Am Annelie-Wellensiek-Zentrum für inklusive Bildung an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg lehren und forschen Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam. Anna Neff, Helmuth Pflantzer und Thorsten Lihl sind drei der sechs neuen Dozent:innen mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung.
Vor ihrer Anstellung an der Hochschule haben sie alle in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet. Sie qualifizierten sich dann im Rahmen des Projektes „Inklusive Bildung Baden-Württemberg“ innerhalb von drei Jahren zur Bildungsfachkraft weiter und wechselten im November 2020 an das Annelie-Wellensiek-Zentrum.

Jetzt haben sie ein eigenes Büro, werden nach Tarif bezahlt und sind gleichwertige Mitarbeitende. Das ist bisher einmalig an deutschen Hochschulen.

In ihren Seminaren erzählen die Dozent:innen ihren Studierenden von ihrem Leben mit Behinderung. Wie es dazu gekommen ist, welchen Vorurteilen sie dadurch ausgesetzt werden und was sie sich von einer guten Inklusion wünschen. So soll die Inklusionskompetenz der angehenden Pädagog:innen gestärkt werden. Und das zeigt Wirkung. Viele Studierende haben vorher noch nie mit einem Menschen mit Behinderung gesprochen. Sie erkennen durch die Gespräche an der Uni, dass viele Menschen mit Behinderung oft eine komplexe Vorgeschichte haben, die nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist.

Dieser ZEIT-CAMPUS-Artikel (mit Abo lesbar) zeigt am Beispiel der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, wie alle von Inklusion profitieren können und erklärt, welche Anreize dazu führen könnten, dass mehr Hochschulen Bildungsfachkräfte einstellen.




„Die Beratung soll immer eine Begegnung auf Augenhöhe sein“

Frau Gühne, was unterscheidet Ihr Projekt von anderen Beratungsangeboten?

Wir bieten Eins-zu-eins-Patenschaften an, dadurch ist die Beratung sehr individuell. Und wir setzen keine zeitliche Grenze. Es dauert so lange, wie eine Person eben Unterstützung braucht. So etwas bieten sonst eigentlich nur professionelle Coaches an, die dafür aber hohe Honorare abrechnen. Unser Angebot dagegen ist für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kostenlos. Das Projekt wird nämlich von der Aktion Mensch gefördert.

Wie unterstützen die Jobpatinnen und -paten Menschen mit Behinderung?

Das hängt ganz davon ab, welche Ziele die oder der Arbeitssuchende hat. Für viele steht an erster Stelle, sich im Berufsleben neu zu orientieren, weil sie wegen einer Erkrankung ihren Job aufgegeben oder ihre Ausbildung unterbrochen haben. Wenn jemand wegen eines Burnouts oder einer Depression pausiert hat, geht es oft um die Frage: Gehe ich zurück in meinen Beruf oder komme ich mit einer Erwerbsminderungsrente aus? Manchmal kann das Ziel auch sein, als Ergänzung zur Erwerbsminderungsrente ein passendes Ehrenamt zu finden. Das ist also wirklich ganz unterschiedlich. Deshalb beginnt die Beratung auch immer damit, dass die Teilnehmer:innen und die Pat:innen zusammen das Ziel ganz klar formulieren. Anschließend suchen sie gemeinsam nach passenden Stellenangeboten, schreiben Bewerbungen oder recherchieren, welche Fort- oder Weiterbildung ein guter nächster Schritt wäre.

Für wen ist das Angebot gedacht?

Wir haben die Zielgruppe bewusst weit gefasst. Bei uns können sich Menschen mit Behinderung, einer seelischen Erkrankung oder anderen Einschränkungen anmelden. Und zwar ausdrücklich auch dann, wenn sie ihre Schwerbehinderung nicht haben anerkennen lassen oder gerade noch darüber nachdenken, ob sie das tun wollen. Manche Menschen entscheiden sich bewusst dagegen. Aber das ist kein Hindernis, sie können trotzdem am Projekt teilnehmen.

Wer sind die Patinnen und Paten?

Einige unserer Pat:innen sind schon im Ruhestand, die meisten stehen aber selbst noch im Berufsleben. Sie haben ganz unterschiedliche Jobs. Neben Unternehmensberater:innen und Coaches sind zum Beispiel auch ein Polizist und eine Kapitänin und Nautikerin dabei. Das sind tolle Leute und es macht mir viel Spaß, mit ihnen zu arbeiten. Die meisten hatten vor dem Projekt gar keinen Bezug zur Zielgruppe. Sie möchten einfach etwas in die Gesellschaft zurückgeben und Menschen unterstützen, die es nicht so einfach haben. Viele finden es auch spannend, andere Menschen kennenzulernen und über ihren eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Und für manche ist es eine Motivation, in unserem Projekt Fähigkeiten einzubringen, die sie in ihrem Beruf nicht einsetzen können.

Gibt es eine Art Einstiegsvoraussetzung für dieses Ehrenamt?

Ich treffe mich mindestens zweimal mit allen Interessent:innen, um über das Projekt und das Ehrenamt zu sprechen. Anschließend nehmen die Pat:innen an einer Einstiegsqualifizierung teil, bei der wir ihnen ein paar Tipps für die Beratung geben. Wir haben außerdem einen Ehrenkodex, der für alle gilt. Wir achten zum Beispiel sehr auf Pünktlichkeit und auf Respekt für religiöse, sexuelle und herkunftsbezogene Besonderheiten. Die Beratung soll immer eine Begegnung auf Augenhöhe sein. Unsere Pat:innen sind also handverlesen. Für die Teilnehmer:innen in unserem Projekt geht es ja um sehr wichtige Entscheidungen. Das kann manchmal auch für Pat:innen eine große Herausforderung sein. Wir bieten ihnen deshalb regelmäßig Workshops an, bei Bedarf auch eine Supervision.

Zu Ihrem Projekt gehören auch Weiterbildungen für Menschen mit Behinderung. Um welche Themen geht es dabei?

In unserem Einstiegsworkshop informieren wir über die Rechte von Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt. Viele wissen darüber nämlich recht wenig. Wir beantworten in dem Kurs deshalb ganz grundlegende Fragen: Muss ich meine Behinderung offenlegen, wenn ich mich auf eine Stelle bewerbe? Wie viele Urlaubstage bekomme ich? Ist es sinnvoll, meine Schwerbehinderung anerkennen zu lassen? Wie viel Rente werde ich später bekommen?
Wir bieten außerdem Workshops an, in denen die Teilnehmer:innen lernen, auch in Stresssituationen achtsam mit sich umzugehen und sich nicht so stark unter Druck zu setzen. So etwas ist ja sehr wichtig, um im Beruf erfolgreich und auch glücklich zu sein. Und ein- oder zweimal im Monat können sich die Teilnehmenden bei uns treffen, sich bei einem Kaffee kennenlernen und sich untereinander austauschen.

Wie viele Menschen haben mit Hilfe der „Jobbrücke“ schon eine neue Stelle gefunden?

Wir sind Anfang 2020 gestartet und bekommen drei Jahre lang Fördergelder von der Aktion Mensch. Das Ziel ist, insgesamt 75 Teilnehmer:innen zu erreichen. 2020 haben sich 25 Menschen angemeldet, das ist eine gute Zwischenbilanz.
Mit den Bewerbungen lief es durch die Corona-Pandemie natürlich etwas schleppender an als erwartet. Drei Menschen haben aber schon Arbeitsverträge unterschrieben und sind glücklich in ihren neuen Jobs. Einer von ihnen hat sogar die Aussicht, in seinem Unternehmen später eine Weiterbildung zu machen. Ein anderer Teilnehmer hat eine Ausbildung begonnen. Einige weitere wollen noch ihre Corona-Impfung abwarten, bevor sie einen neuen Job anfangen. Und bei den übrigen läuft die Patenschaft derzeit noch, sie brauchen noch etwas Zeit.

Wie sind Sie zu Ihrem Job bei dem Projekt gekommen?

Ich bin Seiteneinsteigerin, deshalb war ich gewissermaßen prädestiniert für diese Stelle. Ich habe mich nämlich auch ganz neu orientiert, als ich Anfang 40 war. Bis dahin hatte ich viele Jahre lang in der Kulturbranche gearbeitet und wollte gerne in einen sozialen Beruf wechseln. Dafür habe ich eine Ausbildung im Bereich Social Marketing und Fundraising gemacht. Ein Job soll ja Spaß machen und erfüllend sein – das gilt für mich genauso wie für die Menschen, die wir hier beraten. —