„Wir sind eine unfassbar laute Band“

Experimentierfreudig, verspielt, laut: So ist die Musik der Hamburger Krautrock-Band Station 17. In wechselnder Besetzung proben unter diesem Namen seit 30 Jahren Musiker mit und ohne Behinderung, spielen Konzerte und veröffentlichen Alben.
Die Aufschrift „Stop – Hier wird gearbeitet“ an der Tür des Probenraums ist dabei wörtlich zu nehmen, denn die Band ist viel mehr als ein Hobby. Die Musiker sind beim inklusiven Netzwerk Barner 16 fest angestellt und erwirtschaften ihr Einkommen durch ihre Kunst. Wie das klingt und aussieht, erzählt die taz in dieser Reportage.




Eine Software für menschlichere Computerschrift

Die Digitalisierung macht’s möglich: Durch Untertitel können auch taube Menschen oder Menschen mit schweren Hörbehinderungen Filme, Dokus, Serien und Videos schauen und verstehen.

Doch die Computerschrift, die dafür eingesetzt wird, hat auch ein großes Manko: Im Gegensatz zu gesprochener Sprache hat sie nichts menschliches und emotionales, sie drückt keine Betonungen, kein Tempo und keine unterschiedlichen Lautstärken aus.

Der Unternehmer Tim Schlippe möchte das mit seiner Software „Wavefont“ ändern. Sie verändert das Aussehen von Computerschrift so, dass die Leser sich anhand dessen vorstellen können, wie sich die geschriebenen Worte gesprochen anhören würden. Gründerszene.de hat den Unternehmer und seine Idee in diesem Artikel vorgestellt.




„Wir möchten mit gutem Beispiel vorangehen“

Ihr beiden, wie kamt ihr auf die Idee, aus „Zurück zu den Wurzeln“ ein inklusives Festival zu machen?

Christian: Das war im Grunde ein großer Zufall. Wir haben schon früher Open-Airs im Wald oder in Berliner Industrieruinen organisiert. Bei einer Veranstaltung trafen wir einen Gast mitten im Wald, der mit Rollstuhl unterwegs war. Aus Interesse fragten wir ihn, wie er es bis zur Bühne geschafft hatte. Die Antwort: Seine Freunde hatten ihn geschoben und getragen. Er war also komplett auf andere angewiesen, um an so einer Kulturveranstaltung überhaupt teilnehmen zu können – das hat uns sehr beschäftigt. Nach dieser Begegnung haben wir angefangen, uns mit der Frage zu befassen, wie Menschen mit Behinderung eigentlich Festivals erleben und wie wir als Veranstalter darauf reagieren sollten.

Björn: Wir stellten dann schnell fest, dass das Thema Inklusion für die meisten anderen Festival-Verantwortlichen völlig uninteressant ist. Das finden wir überhaupt nicht gut, aber aus wirtschaftlicher Sicht können wir es auch irgendwie verstehen. Um ein Festivalgelände behindertengerecht umzubauen, muss man einfach enorm viel investieren. Es klingt hart, aber wenn am Ende nur 150 bis 200 zahlende Gäste mit Behinderung zur Veranstaltung kommen, ist das rein finanziell betrachtet ein Verlustgeschäft. Wir selbst haben uns trotzdem dazu entschieden – wir machen das für‘s Karma! (lacht) Nein, wir finden das Thema einfach sehr wichtig und möchten mit gutem Beispiel vorangehen. Und wir hoffen, dass wir so auch anderen Menschen aus der Musikszene, die Veranstaltungen organisieren, die Augen für inklusive Fragen öffnen können.

Barrierefreie gestalteter Weg auf dem Wurzelfestival.
Foto: Höme – Magazin für Festivalkultur/Sascha Krautz

Euer Festivalgelände ist also seit dem vergangenen Jahr für Menschen, die mit Rollstuhl oder mit Gehhilfen unterwegs sind, komplett barrierefrei gestaltet. Was bedeutet das genau?

Björn: Unser Anspruch ist, dass Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer jede Bühne selbstständig erreichen können sollen. Für uns heißt das in der Vorbereitung: Wir ebnen den Waldboden, damit richtige Wege entstehen, und legen Schwerlastplatten aus, wie sie auch auf Baustellen verwendet werden. Diese Platten sind geriffelt, so dass die Reifen eines Rollstuhls guten Halt darauf haben und nicht wegrutschen. Nach dem Festival bauen wir alles wieder zurück und lockern auch den Boden wieder auf. Das ist viel Arbeit, aber sehr wichtig für die Umwelt.

Christian: Zur Barrierefreiheit gehören natürlich auch rollstuhlgerechte Duschen und Toiletten, die es bei uns ebenfalls gibt. Wir richten außerdem ein so genanntes „Inklusionscamp“ auf unserem Gelände ein, wo große Zelte mit Betten, einer Küche und Kühlschränken für Medikamente stehen. Wenn jemand Unterstützung braucht, kann sie oder er sich an unsere Heilerziehungspflegerinnen und -pfleger im Camp wenden, die ständig dort sind. Auf dem gesamten Gelände sind auch Inklusionslotsen unterwegs, die wir liebevoll „Buddys“ nennen. Sie begleiten unsere Gäste mit Behinderung während der ganzen Festivalzeit, wenn diese das möchten. Bei uns soll niemand allein gelassen werden.

Das klingt wirklich nach großem Aufwand. Wie hoch sind die Kosten für diese Maßnahmen?

Christian: Da kommen schon so rund 80.000 Euro zusammen. Die Inklusionslotsen arbeiten zwar ehrenamtlich für uns, und beim Aufbau helfen uns 400 Freiwillige. Aber die müssen ja auch was essen und trinken in der ganzen Zeit, was wir natürlich zahlen – und zwar drei Wochen lang. Dazu kommen die Kosten für den Bagger, der den Boden ebnen muss, und die Miete für die Schwerlastplatten. Die allein kosten schon 22.000 Euro.

Blick auf einen Rollstuhl in einem Übernachtungszelt.
Blick in eines der großen Zelte, die im Inklusionscamp des Festivals jedes Jahr aufgestellt werden. Foto: Höme – Magazin für Festivalkultur/Sascha Krautz

Diese Ausgaben lassen sich ja wahrscheinlich nicht komplett über Eintrittsgelder wieder reinholen. Wie finanziert ihr das?

Björn: Wir setzen zumindest für einen Teil der Kosten auf das Engagement und die Zuwendung von Menschen, die unser Konzept gut finden und unterstützen wollen. Für die Miete der Platten zum Beispiel haben wir eine Crowdfunding-Kampagne gestartet und konnten so mehr als 11.000 Euro einsammeln, hatten damit also schon mal die Hälfte gedeckt. Außerdem haben wir einen Zuschuss von 25.000 Euro für die Errichtung des Inklusionscamps vom Berliner Musicboard bekommen – das ist eine GmbH des Landes, die im Auftrag des Senats Musikprojekte fördert. Den Rest, also immer noch mehr als die Hälfte der Gesamtkosten, müssen wir aus den Eintrittsgeldern stemmen. Deshalb haben wir die Preise entsprechend angepasst. Wir betrachten das als eine Art Solidarbeitrag: Wenn es in unserer Gesellschaft schon überhaupt Geld kosten muss, dass Menschen mit Behinderung mitmachen können und nicht ausgegrenzt werden, dann müssen das alle gemeinsam stemmen, finden wir. Das sehen unsere Festivalgäste zum Glück ganz genauso.

Christian: Ja, und das haben wir auch schon bei der Crowdfunding-Kampagne beobachtet: Selbst Menschen, die sowieso sehr wenig haben – wie Hartz-IV-Empfängerinnen und -empfänger – haben sich daran beteiligt und ein paar Euro gespendet. Aber das ist auch das Besondere an unserem Festival. Alle helfen sich gegenseitig, packen beim Zeltaufbau mit an, laden ihre Nachbarinnen und Nachbarn zum Essen ein. Und sie sind auch finanziell sehr solidarisch, was nicht weniger wichtig ist, damit jede und jeder dabei sein kann.

Wie sieht es mit der Crew und den Künstlerinnen und Künstlern aus? Beschäftigt und bucht ihr auch Menschen mit Behinderung?

Björn: Natürlich. Unsere Kollegin Julie Rabong – wir sind im Büro-Team zu viert – hat zum Beispiel eine Gehbehinderung. Und im vergangenen Jahr hat zum ersten Mal Jan Haufe aka DJ Eltron bei uns aufgelegt – er lebt seit einigen Jahren mit Rollstuhl. Beide haben uns viele wichtige Tipps gegeben, wie wir die Barrierefreiheit auf unserem Festival weiter verbessern können. Ob unter unseren vielen freiwilligen Helfern auch Menschen mit Behinderung sind oder nicht, darüber habe ich ehrlich gesagt gar keinen Überblick. Im Grunde spielt das für uns auch gar keine Rolle, denn genau das bedeutet ja für uns Gleichberechtigung. Über eine Behinderung sprechen wir erst dann, wenn es irgendwo Schwierigkeiten gibt.

Festivalbesucher spielen auf dem Gelände des Festivals.
Foto: Höme – Magazin für Festivalkultur/Sascha Krautz

Welche Hinweise haben Julie und Jan euch gegeben – und was habt ihr daraufhin verändert?

Christian: Jan hat im vergangenen Jahr mit seinem Rollstuhl unsere Wege getestet und festgestellt, dass die Platten verrutscht und dadurch Lücken entstanden sind. Das wird für Rollstuhlfahrer natürlich schnell zum Problem. Deshalb haben wir in diesem Jahr andere Platten gemietet. Sie sind größer als die bisherigen und werden jetzt fest im Boden verankert.

Björn: Was wir auch nicht bedacht hatten: Die Tresen an den Bars waren im vergangenen Jahr zu hoch für Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer. Sie mussten sich ihre Getränke deshalb von anderen Gästen holen lassen. Darauf hat Julie uns aufmerksam gemacht, das war ein sehr wertvoller Hinweis, weil wir selbst darüber einfach noch gar nicht nachgedacht hatten. In diesem Jahr haben wir anders geplant und bauen die Bars jetzt so auf, dass alle Gäste selbstständig ordern können. An diesem Beispiel sieht man sehr gut, dass das ein Prozess für uns ist. Wir lernen immer mehr dazu und müssen manchmal damit leben, dass wir nicht alles perfekt machen können – und oft improvisieren wir auch einfach. Was uns sehr dabei hilft, ist die gemeinnützige Gesellschaft ‚Inklusion muss laut sein‘, die sich für die Barrierefreiheit von Kulturveranstaltungen engagiert und uns super bei der Festivalplanung berät. Wir sind ja selbst keine Experten für das Thema, sondern hatten einfach Bock auf das Projekt.

Welche Pläne habt ihr für die Zukunft?

Christian: Wir möchten unser Festival irgendwann auch für Menschen mit Sehbehinderung barrierefrei gestalten, dafür fehlt uns im Moment aber leider noch das Geld. Die erste große Barriere für die Gäste ist unsere Website, die ganz neu aufgebaut werden muss. Das wird 3.000 bis 4.000 Euro kosten. Auch unser Festivalgelände müssen wir anders gestalten, wir brauchen ein taktiles Leitsystem mit genoppten Bodenplatten, wie man sie von Bahnhöfen oder modernen Straßenbahnhaltestellen kennt. Dafür müssen wir mit 50.000 bis 80.000 Euro rechnen. Was auch toll wäre: akustische Signale, die den Gästen den Weg zur Bühne oder zu den sanitären Anlagen weisen. Die Kosten dafür wissen wir aber noch nicht.

Björn: Menschen mit Sehbehinderung sind natürlich trotzdem schon jetzt herzlich willkommen bei uns, auch wenn wir die barrierefreie Ausstattung für sie noch nicht finanzieren können. Wenn sie allein zum Festival kommen möchten, sind unsere Inklusionslotsen gern für sie da und begleiten sie. Wir wissen, dass das noch nicht optimal ist – wie gesagt, das Ganze ist ein Prozess, der oft leider nicht so schnell geht, wie wir es uns wünschen würden. Aber wir machen jedes Jahr einen weiteren Schritt nach vorn.






Lehren und Lernen auf Augenhöhe

Frau Groß, „Institut für Inklusive Bildung“ klingt für Laien etwas trocken. Wie würden Sie einem Außenstehenden Ihre Arbeit erklären?

Wir setzen uns dafür ein, dass Inklusion in der Bildung, im Arbeitsleben und auch in anderen Lebensbereichen in der Praxis besser funktioniert. Ein Beispiel aus dem Schulkontext: Kinder mit einer Behinderung sollen im inklusiven Unterricht genauso gut lernen wie alle anderen Schülerinnen und Schüler in der Klasse. Das wird zwar heute schon umgesetzt, die Lehrkräfte sind aber fast immer Menschen, die selbst keine Behinderung haben und sich zugleich mit dem Thema in der Ausbildung kaum auseinandersetzen mussten. Das finden wir schwierig, denn gerade die Lehrkräfte spielen ja bei der Inklusion eine wichtige Rolle. Sie müssen also eine bessere Idee davon bekommen, was in Menschen mit Behinderung vorgeht, wie sie die Welt sehen, welche Bedürfnisse sie im Unterricht haben. Und genau hier kommt das Institut für Inklusive Bildung ins Spiel.

Wie erreichen Sie die künftigen Lehrerinnen, Lehrer und anderen Bildungsfachkräfte?

Wir entwickeln Seminare für Hochschulen, Fachschulen und andere Bildungseinrichtungen, in denen wir angehende Lehrerinnen und Lehrer, Bildungsfachkräfte sowie Fachschülerinnen und -schüler in der Ausbildung genau dafür sensibel machen.
Wir sprechen aber zum Beispiel auch Führungskräfte und Personalverantwortliche in Betrieben an. Das Besondere an unserem Konzept ist, dass wir uns zwar gezielt an Menschen ohne Behinderung richten, unsere Lehrkräfte aber immer Menschen sind, die selbst eine Behinderung haben. Sie wissen nämlich am besten, wie ihre Lebenswelt aussieht und was sie brauchen, sind also „Experten in eigener Sache“. Sie müssen aus unserer Sicht deshalb gerade in der Bildung unbedingt mitreden.
Um sie für diese Tätigkeit fit zu machen, bilden wir sie wie gesagt speziell für die inklusive Bildungsarbeit mit Menschen „aus, die ohne leben. Das Ziel ist, die Barrieren in den Köpfen abzubauen. Wir wollen erreichen, dass sich eines Tages alle Menschen auf Augenhöhe begegnen und mehr miteinander anstatt übereinander sprechen. Genau so lautet auch unser Motto: „Nicht über uns ohne uns!“

Wie sind diese Idee und das Institut entstanden?

Das Ganze hat mit einem Innovations-Workshop angefangen, der im Jahr 2008 von der Stiftung Drachensee durchgeführt wurde. Daraus entstand die gute Idee, Menschen aus Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) in die Ausbildung angehender Lehr- und Fachkräfte einzubinden. Im Studiengang „Soziale Arbeit“ an der Fachhochschule Kiel gab es kurz danach ein erstes Seminar namens „Meine Welt“, das von 13 Menschen mit Behinderung und drei Sozialpädagoginnen ins Leben gerufen wurde.

Haben die Studierenden das Angebot gut angenommen?

Ja, sehr gut sogar! Das Seminar lief drei Jahre lang, bis 2012. Leider konnte es dann so nicht mehr weitergehen. Der Aufwand und die Barrieren für diejenigen, die das Seminar veranstalteten, waren hoch. Alle Beteiligten machten das ja neben dem normalen Arbeitsalltag. Dazu kam, dass die Menschen mit Behinderungen, die am Seminar beteiligt waren, eigentlich gar nicht an der Hochschule sein durften – schon gar nicht als Lehrende. Außerdem merkten viele, wie anspruchsvoll und anstrengend Bildungsarbeit sein kann. Das schöne Konzept drohte zu scheitern.

Blick in einen vollen Hörsaal
Ein Team vom Institut für Inklusive Bildung erklärt Studierenden im Audimax-Hörsaal der Europa-Universität in Flensburg, was diese später zum Thema Inklusion in ihren Berufen wissen müssen. Foto: Institut für Inklusive Bildung

Wie ging es weiter?

Die Stiftung Drachensee entschied kurzerhand, das Angebot professioneller aufzustellen. Sie begann, Menschen mit geistigen Behinderungen zu Bildungsfachkräften auszubilden – und das wurde mit dem Institut für Inklusive Bildung dann nochmal auf ganz neue Beine gestellt.

Und wie genau bilden Sie Menschen mit Behinderung zu Bildungsfachkräften aus?

Wir arbeiten immer mit Menschen, die aktuell noch in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) tätig sind. Die Qualifizierung bei uns dauert drei Jahre und findet in Vollzeit statt, das Konzept ähnelt also einer klassischen Ausbildung etwa an einem Berufskolleg. Wer die Ausbildung erfolgreich absolviert, hat nach der Prüfung eine gute Chance auf einen festen Arbeitsplatz in der Bildungsarbeit bei uns. Das war uns von Anfang an sehr wichtig. Damit die Qualifizierung nach festen Standards verläuft, haben wir ein eigenes Modulhandbuch entwickelt, das bestimmte Ziele, Inhalte und Prüfungsanforderungen festlegt.

Wie organisieren Sie die Sensibilisierungs-Seminare?

Meistens führen zwei Bildungsfachkräfte gemeinsam ein Seminar durch und werden dabei von einer pädagogischen Assistenz unterstützt. Manchmal arbeitet aber auch nur eine einzelne Bildungsfachkraft mit einer hauptamtlichen Lehrkraft zusammen, also zum Beispiel mit einer Professorin an der Uni oder einem Lehrer an der Schule. Das nennen wir Co-Teaching. So können wir ganz gewöhnliche Seminare über ein komplettes Semester hinweg anbieten.
Wir bieten ansonsten aber auch einzelne Vorlesungen oder Workshops an, sind als Gastdozentinnen oder -dozenten bei Konferenzen dabei oder machen Bildungsarbeit bei anderen großen Veranstaltungen. Unser Bildungs-Teams kommen also immer dann ins Spiel, wenn über kurz oder lang neue Strukturen, Abläufe und Denkweisen geschaffen werden sollen, die gut zu den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung passen, damit sie gleichberechtigt an verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft teilhaben können.

Wenn es nicht nur in Schulen, sondern auch auf dem Arbeitsmarkt inklusiv zugehen würde, könnten Menschen mit Behinderung eigenständig und selbstbestimmt ihren Lebensunterhalt verdienen anstatt in einer Werkstatt nur ein „Taschengeld“ zu bekommen. Wie trägt Ihre Arbeit dazu bei, diese Entwicklung voranzutreiben?

Genau das ist der Kern unseres Angebots. Auf der einen Seite schaffen wir ein breites Bewusstsein bei unseren Zielgruppen, auf der anderen Seite bieten wir mit unserem Qualifizierungsangebot Menschen in Werkstätten eine echte Perspektive auf einen unbefristeten, dauerhaften und nach Tarif bezahlten Job bei uns im Institut. Im November 2016 fingen bei uns die ersten fünf Bildungsfachkräfte auf festen Stellen zu arbeiten an, heute gestalten sie aktiv die Bildungslandschaft von Schleswig-Holstein im Sinne der Inklusion mit.
Unser Institut hat außerdem Kontakt zu über 60 Hochschulen aus dem In- und Ausland aufgebaut, die entweder gern Erfahrungen mit uns austauschen wollen oder die Leistungen unserer Bildungsfachkräfte in Anspruch nehmen möchten. Wir streuen also unser Wissen. Im Wintersemester 2017/2018 starteten zum Beispiel sieben neue Menschen mit Behinderung in Baden-Württemberg an der Uni Heidelberg ihre Ausbildung zur Bildungsfachkraft – und es sind noch mehr an anderen Orten geplant.

Welche Projekte planen Sie sonst noch?

In den nächsten fünf Jahren wollen wir 60 neue Qualifizierungsplätze für Menschen mit Behinderungen an zehn deutschen Hochschulstandorten schaffen. So wollen wir mit unserer inklusiven Bildungsarbeit jedes Jahr 20.000 angehende Lehrkräfte und andere Zielgruppen direkt erreichen. Bei diesem Vorhaben werden wir von der Aktion Mensch Stiftung und der Software AG Stiftung mit Fördergeldern unterstützt.
Darüber hinaus haben wir in Nordrhein-Westfalen kürzlich eine gemeinnützige GmbH gegründet („Institut für Inklusive Bildung NRW gGmbH“). Über diese „Zweigstelle“ starten wir ab April 2019 eine Kooperation mit der Technischen Hochschule Köln, an der wir zunächst sechs weitere Menschen mit Behinderungen zu Bildungsfachkräften ausbilden wollen – vorausgesetzt, die Mittel dafür werden bewilligt.

Wenn Sie noch weiter in die Zukunft schauen könnten: Wo würden Sie gern in zehn Jahren stehen?

Ich wünsche mir, dass das Konzept des Instituts in zehn Jahren weltweit (Hoch-)Schule gemacht hat!






Reisen für Alle!

Im Urlaub wollen die meisten Menschen Sonne, ein schönes Reiseziel, Spaß, Entspannung und Erholung – und dazu gehört auch, dass eine Reise keinen unnötigen Stress verursacht.

Für viele Menschen mit Behinderung ist genau das allerdings oft schon bei der Planung der Fall. An fremde Orte zu fahren ist meist schwierig, wenn man mit Rollstuhl oder Gehhilfe reist, eine Sehbehinderung hat oder gehörlos ist: Viele Angebote sind nicht darauf eingerichtet, dass auch Menschen mit Behinderung zu ihren Gästen zählen könnten und genauso eigenständig und ohne Hilfe verreisen möchten wie andere Menschen auch.

Damit der nächste Ausflug oder Urlaub entspannt wird, ist also vor allem eins wichtig: verlässliche Informationen über die Voraussetzungen am Reiseziel. Seit 2014 findet ihr genau das auf dem Portal „Reisen für Alle“ für Ziele innerhalb Deutschlands. Alle Übernachtungs- und Gastronomiebetriebe, Unterhaltungs- und Freizeitstätten, die hier gelistet sind, erfüllen unabhängig geprüfte Standards der Barrierefreiheit.

Dabei wird ein Kennzeichnungssystem eingesetzt, das einige wichtige Grundvoraussetzungen festlegt:

  1. Die Angebote (etwa ein Hotel oder ein Freilichtmuseum) dürfen nicht selbst einschätzen, wie barrierefrei sie sind. Sie müssen sich von speziell geschulten Experten auf Herz und Nieren prüfen lassen, bevor sie in die Liste aufgenommen werden.
  2. Alle Angaben zur Barrierefreiheit der Orte im Detail aufgeführt, so dass die Urlauberinnen und Urlauber schon bei der Planung ganz genau wissen, was sie erwartet.
  3. „Reisen für Alle“ sicher, dass mindestens eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter pro Betrieb oder Angebot eine Schulung zum Thema „Barrierefreiheit als Qualitäts- und Komfort-Merkmal“ besucht hat.




Die Millionenidee

Schwarze, weiße oder graue Socken? Langweilig, fand John Cronin. Der junge Mann hatte sich schon sich als Kind gerne über besonders farbenfrohe Kleidung ausgedrückt. Diese Leidenschaft wollte der 21-Jährige mit anderen Menschen teilen und gründete gemeinsam mit seinem Vater Mark das Start-up John’s Crazy Socks. Auf der Website verkaufen die beiden seit Ende 2016 die von John entworfenen knallig-bunten Produkte. Inzwischen arbeiten sie zusammen mit 15 Mitarbeitern, zehn davon haben wie der junge Chef eine Behinderung. Und der Erfolg ist riesig: Im ersten Jahr verkaufte die Firma mehr als 42.000 Paare und nahm mehr als 1,7 Millionen Dollar ein. Unser Linktipp der Woche!




Viel Unterstützung für andere leisten

Konzentriert blickt Anja Grune auf die Liste, die vor ihr an der Wand hängt. Aufgeführt sind dort die Bewohnerinnen und Bewohner des Pflegeheims »Wohlbehagen im Lukaspark«. In der blitzsauberen Küche schaut sie gerade nach, wer Fleisch isst und wer sich lieber vegetarisch ernährt, wer eine spezielle Diät einhalten muss oder bestimmte Nahrungsmittel nicht essen darf. „Das ist immer unterschiedlich“, sagt die junge Frau mit der Brille und der roten Schürze. „Bei 120 Menschen, die mittags hier zum Essen kommen, müssen wir schon aufpassen, dass jeder das Richtige bekommt.“

Anja Grune ist eine von 32 Menschen mit psychischen, körperlichen oder geistigen Handicaps, die für das Integrationsunternehmen Dienstleistungen für Gesundheitswesen GmbH (DfG) arbeiten. Der Betrieb betreut im Auftrag des Pflegeunternehmens »Wohlbehagen« vor allem demente ältere Frauen und Männer in insgesamt vier Pflegeeinrichtungen in Hagen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderungen arbeiten mit den Beschäftigten des Pflegheims im Stadtteil Eckesey eng zusammen und sind mit vollem Einsatz und Spaß dabei. Alle duzen sich gegenseitig und die Stimmung auf den drei Etagen des gemütlich eingerichteten Hauses wirkt ausnehmend gut. Sie übernehmen sämtliche Dienste rund um die Verpflegung der Bewohnerinnen und Bewohner, geben Essen aus, bereiten das Kaffeetrinken vor, spülen Geschirr.

Stetiger Ausbau seit 2010

Das Pflegeunternehmen »Wohlbehagen «, das vor 22 Jahren mit ambulanten Diensten startete, beschäftigt mittlerweile 330 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ein fünftes Heim entsteht Anfang Juli diesen Jahres. Auch für die neue Einrichtung will Willi Strüwer wieder auf die integrativen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von DFG setzen. Das Unternehmen wird vom LWL unterstützt, indem es Leistungen zum Ausgleich für Minderleistung der Menschen mit Behinderung und, oder einen Zuschuss zum Besonderen Betreuungsaufwand erhält. „Wir werden dann sicherlich noch sechs bis acht weitere Beschäftigte mit Behinderungen einstellen“, sagt der Betriebsleiter der DFG und Mitglied der Geschäftsführung des Gesamtunternehmens. 

Entstanden ist die DFG aus einer langjährigen Zusammenarbeit des Pflegedienstes mit einem bestehenden Integrationsunternehmen. Die dort angestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter übernahm das neu gegründete Unternehmen DFG im Jahr 2009 und baute seither kräftig aus. Seit 2012 zum Beispiel ist Dennis Behrendt dabei, ein aufgeschlossener 28-Jähriger, der ebenfalls in der Küche Essen vorbereitet, aber auch an anderen Stellen eingesetzt werden kann. „Dennis ist sehr flexibel“, sagt Willi Strüwer, der auf Probebeschäftigung und eine intensive Einarbeitung Wert legt. Den jungen Mann beobachtet der Sozialpädagoge gerne bei der Arbeit. „Es ist einfach sehr schön zu sehen, wie ein Mensch, der allgemein als hilfsbedürftig betrachtet wird, seinerseits sehr viel Unterstützung für andere leistet.“ Für die Seniorinnen und Senioren zum Beispiel, denen Dennis Behrendt mit einem Lächeln und ein paar Worten das Essen an den Tisch bringt, aber auch für die Pflegekräfte und Krankenschwestern, die sich dank der Unterstützung des ortsansässigen Hageners mehr Zeit für ihre Aufgaben nehmen können.

Engmaschige Betreuung

Dieses Miteinander findet Willi Strüwer sehr wichtig. Das Unternehmen schafft es zudem, kleinere Konflikte, die hier wie an jedem Arbeitsplatz entstehen, durch eine engmaschige Betreuung schnell beizulegen. Monatliche Teamtreffen sorgen für Kontinuität. Zudem hat die DFG einen Pfarrer freiberuflich beschäftigt, der die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderungen auch schon aus dem Vorgängerunternehmen kennt. „Er ist Ansprechpartner und steht allen zur Verfügung, wenn es mal Reibereien gibt“, sagt Willi Strüwer. „Die Stimmung darf nicht leiden. Denn am Ende arbeiten wir alle dafür, dass sich unsere Bewohnerinnen und Bewohner wohlfühlen können.“




Auf Sperrmülltour im Kreis Lippe

Der Entsorgungsbetrieb hat 48 Mitarbeiter, viele von ihnen haben eine Behinderung oder waren lange arbeitslos. „Der Job war für mich ein echter Glücksgriff“, freut sich Frank Garz, der sich zuvor vier Jahre lang mit Zeitarbeit durchgeschlagen hat. Eine feste Stelle war auch für Björn Richter zuvor nicht drin, er sortierte und verkaufte früher Bücher. Der 43-Jährige ist ebenfalls froh, dass es heute anders ist: Er und seine Kollegen sind fest und unbefristet bei der AGA angestellt.

Frank Garz steuert den weißen Siebeneinhalb-Tonner, mit dem die kleine Truppe bei ihren Fahrten einen strammen Plan schafft. Zehn verschiedene Orte sind es durchschnittlich pro Tour, die angefahren werden müssen. „Wir entlasten uns bei der Arbeit gegenseitig und passen aufeinander auf“, sagt Garz und blickt zu seinem Kollegen Klaus-Dieter Weiß, der auf dem Beifahrersitz Platz genommen hat und zustimmend nickt. Der 52-Jährige hat eine angeborene Sprachstörung, Konzentrationsschwierigkeiten und ein stark eingeschränktes Arbeitstempo, er darf nur leichte bis mittelschwere Arbeiten erledigen. Für das Team ist das kein Problem: Jeder hilft einfach dort, wo der andere Schwierigkeiten hat.

Zusätzlich werden die Routen von der AGA bewusst so geplant, dass die Mitarbeiter nach einer körperlichen Belastung längere Ruhepausen einlegen können. Ein Prinzip, das auch Björn Richter schätzt, der ebenfalls eine Behinderung hat. Er kann nicht gut sehen und muss sich wegen seiner Diabetes-Erkrankung regelmäßig Spritzen setzen. Mit dem Job ist das aber gut zu vereinbaren. Und: „Die anderen haben immer eine Auge darauf, dass ich mich nicht übernehme.“ Der 43-Jährige sitzt zwischen seinen beiden Kollegen in der Fahrerkabine des Lasters, einem von sechs Fahrzeugen, die im Kreis Lippe fünf Tage die Woche unterwegs sind. Mit dem Fuhrpark werden pro Jahr 162.000 Kilometer zurückgelegt, immer im Team aus einem Fahrer und zwei Beifahrern.

Drei AGA-Mitarbeiter vor einem weißen LKW, der vor einem großen Gebäude steht
Björn Richter, Klaus-Dieter Weiß und Frank Garz (von links) sind für die AGA im Kreis Lippe unterwegs. Foto: Thorsten Arendt.

Die AGA ist eines der ältesten Integrationsunternehmen in Westfalen-Lippe. Es begleitet seit der Gründung im Jahr 1987 Jugendliche und Erwachsene dabei, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. ‚Integration durch Arbeit‘ ist das Motto der Firma, die vorwiegend Menschen mit Behinderungen, psychischen Problemen oder nach einer Langzeitarbeitslosigkeit beschäftigt. „Bei anderen Firmen bekommen diese Menschen oft keine Chance, obwohl sie gute Arbeit leisten“, erklärt Jens Fillies, einer der Geschäftsführer. Auch sein Kollege Ulrich Schlotthauer weiß: „Es geht nicht so sehr um die Kraft des einzelnen Mitarbeiters, sondern um das ‚Gewusst wie‘“. Damit kennen sich beide Chefs gut aus. Sie sind Experten in der Entsorgungsbranche, wissen, wie die Teams organisiert, worauf dabei geachtet und welche Fähigkeiten vermittelt werden müssen: „Dann können drei Leute mit Sackkarren und einer Ladebordwand auch schon mal ganze Möbelberge versetzen.“

Guter Ruf in der Region

Das Unternehmen erfüllt eine wichtige Aufgabe, die zugleich dem gesamten Gebiet dient. „Die AGA ist politisch gewollt und wird von einem breiten gesellschaftlichen Konsens in der Region getragen“, bestätigt Dr. Axel Lehmann, der Landrat des Kreises Lippe. Seit zwanzig Jahren sorgt das Unternehmen nicht nur dafür, dass Sperrmüll abgefahren wird, sondern übernimmt auch die Verwertung und Entsorgung im hauseigenen Recyclinghof. Bis zu 35 Tonnen weiterverwendbare Wertstoffe kommen hier jeden Tag zusammen, die meist mit vielen Leuten aufwändig in Handarbeit zerlegt und sortiert werden.

Die AGA ist damit auch ein Beschäftigungsprojekt, sagt Jens Fillies. Zugleich arbeitet es ökologisch, weil sehr viele Schadstoffe sauber entsorgt werden können. Unter dem Strich rechnet sich das Unternehmen sogar besser für die Menschen in der Region, weil es so nachhaltig ist. Der Kreis Lippe arbeitet eng mit dem zertifizierten Entsorgungsfachbetrieb zusammen. Vor zwei Jahren wurden die Verträge verlängert, die die Aufgabenverteilung zwischen den Entsorgungsbetrieben regeln. Der AGA sichert diese Vereinbarung bis 2024 zu, dass sie die Sperrmüll-Abfuhr und -Verwertung für den Kreis übernehmen darf.

Landrat Dr. Axel Lehmann und AGA-Geschäftsführer Jens Fillies vor einem weißen LKW mit AGA-Aufschrift
Landrat Dr. Axel Lehmann (links) und Geschäftsführer Jens Fillies arbeiten eng zusammen. Foto: Thorsten Arendt

Der Leiter des Recyclinghofs Roy Schnormeier beobachtet vor allem, dass seine Teams durch die Arbeit Tugenden wie Pünktlichkeit, Fleiß und Teamarbeit an sich wiederentdecken – und ergänzt, dass Angestellte wie Frank Garz hier auch das Führen und Delegieren lernen. Viele seiner Leute seien wirklich fit für den ersten Arbeitsmarkt, unterstreicht der Betriebsleiter. Er selbst wechselte aus der freien Wirtschaft in das Integrationsunternehmen. Die Handicaps der Mitarbeiter waren für ihn nie ein Problem – im Gegenteil: „Für mich ist das neu, das ein Unternehmen auf diese Weise soziales Engagement mit Wirtschaftlichkeit verbindet. Das ist für mich eine sehr faszinierende Erfahrung.“




Gemeinsam wachsen

Günter Bruns stützt sich mit der linken Hand auf einen Stapel kantiger Stahlprofile, der auf einem Laster vor seiner Werkshalle liegt. Mit der anderen Hand streicht der Unternehmer über die Innenseite eines der Profile. Er prüft dabei ein massives Metallteil, das in den dünnen Spezialstahl geschweißt ist. „Der Einsatz ist sehr sauber gearbeitet“, sagt der Geschäftsführer von Metallbau Bruns zufrieden. Das muss auch so sein, denn später werden die fertigen Stahlprofile zu Teleskop-Auslegern für Auto- und Anhängerkrane, Hubarbeitsbühnen und Radlader zusammengesetzt und müssen große Lasten tragen.

Die Einsätze bezieht der 67-Jährige vom Unternehmen Transfair Montage, das gleich gegenüber von Bruns’ eigener Werkshalle im Ortsteil Maria Veen der Gemeinde Reken liegt. Das Besondere: Die Firma ist ein Integrationsunternehmen. 41 der 71 Mitarbeiter haben eine Behinderung. Hinter der Firma steht die Josefs-Gesellschaft aus Köln, die rechtlich unabhängig von Transfair ist, aber dennoch eng mit dem Integrationsbetrieb zusammenarbeitet. Weil diese Kooperation so gut funktioniert, hat Günter Bruns, der sich vor 13 Jahren selbstständig machte, seine Firma mit dem Integrationsunternehmen zum „Fachzentrum Metall“ zusammengeschlossen. Seitdem wachsen die Firmen Wand an Wand – und davon profitieren alle. „Das hier ist wie mehrmals sechs Richtige“, findet Bruns.

Günter Bruns prüft ein fertig gearbeitetes Metallteil
Günter Bruns ist Geschäftsführer von Metallbau Bruns, ein Unternehmen, das eng mit Transfair Reken kooperiert. Hier prüft er ein fertig gearbeitetes Metallteil. Foto: Thorsten Arendt

Auch für Alexander Ulrich ist die Arbeitsweise des Fachzentrums ein echter Gewinn. Der heute 28-jährige Mitarbeiter bei Transfair hat bei einem Autounfall seinen rechten Arm verloren. Dank einer computergesteuerten Fräsmaschine kann er aber weiterhin seinen Job machen. Das hochmoderne Gerät schaffte der Integrationsbetrieb unter anderem mit Mitteln des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe an. In einer schallgeschützten Kabine fräst die CNC-Maschine alle Werkstücke exakt so, wie Ulrich und seine Kollegen es vorher programmiert haben. Auch die althergebrachten Fräsen kann der junge Mann selbst bedienen – für kompliziertere Musterstücke ist das nach wie vor gefragt. Transfair Montage gibt es schon seit zwei Jahrzehnten. Während dieser Zeit ist es auch in anderen Bereichen gewachsen und hat sein Repertoire ständig erweitert. „Wir können heute E-Technik, Stahl und Eis“, beschreibt Jürgen Böbisch, seit sechs Jahren technischer Geschäftsführer, das vielseitige Unternehmen. Der Grund für diesen Satz: Der Betrieb hat vor gut einem Jahr mitten im Dörfchen Maria Veen eine hochmoderne Eisdiele eröffnet – die Eis Lounge. Auch diese jüngste Tochter ist ein Integrationsunternehmen.

Lange Geschichte und neue Pläne für die Zukunft

Im E-Technik-Bereich von Transfair wiederum hat Recep Öztürk aus Borken einen neuen Arbeitsplatz gefunden. Mit drei Jahren erkrankte er an Kinderlähmung, seither lebt der 43-Jährige mit Rollstuhl. Er arbeitet heute in einer hellen und modernen Halle, die das Unternehmen einen Steinwurf entfernt vom Metall-Zentrum errichtet hat. Der Industrie-Elektroniker und seine Kollegen bestücken und löten hier mit großer Sorgfalt Platinen und Netzteile und verdrahten Schaltungen. Die Platinen werden später beispielsweise in Schaltschränken und Kabelbäumen von Hubsteigern verbaut.

Recep Öztürk bearbeitet in der Transfair-Werkstatt Schaltungen
Recep Öztürk verarbeitet Platinen, Netzteile und Schaltungen. Der Rollstuhlfahrer ist im Elektrotechnikbereich von Transfair tätig. Foto: Thorsten Arendt

Neben der Qualität der Produkte müssen natürlich auch die Zahlen stimmen. Darum kümmert sich seit fünf Jahren Thomas Spaan als kaufmännischer Geschäftsführer des Unternehmens. Der gelernte Banker und Betriebswirt führt zusammen mit einem Kollegen außerdem die Muttergesellschaft von Transfair Montage, den katholischen Träger Benediktushof. Seit über einem Jahrhundert bildet diese Organisation Menschen mit Behinderungen aus und ist seit noch längerer Zeit ein Partner der Wirtschaft. Die große Erfahrung von Spaan und seinen Kollegen ist auch für die Kunden ein Argument. „Metallbau Bruns ist nicht unser einziger Industrie-Kunde, aber auf jeden Fall einer der wichtigsten für die Entwicklung des Integrationsunternehmens“, unterstreicht der kaufmännische Geschäftsführer. Und das soll auch in Zukunft so bleiben.

Günter Bruns hat seinerseits viel vor mit dem wachsenden Gewerbegebiet in Maria Veen, das durch eine Bahnstrecke und große Autobahnen gut an die Umgebung angebunden ist. Die Voraussetzungen für eine Erweiterung sind also optimal – auch für Transfair Montage, das wie die anderen Firmen künftig weiter wachsen und noch mehr hochwertige Arbeitsplätze für Menschen mit und ohne Behinderung anbieten will. –




Nicht in die Werkstatt, sondern auf den Arbeitsmarkt

Alles begann mit einem Praktikum bei der katholischen Kirchengemeinde St. Urbanus in Dorsten. Niklas Grewing, der eine inklusive Schule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung besuchte, schaffte von dort aus im Jahr 2014 den Sprung in seinen Traumjob. Heute sorgt der 20-Jährige als Küster dafür, dass bei Gottesdiensten, Beerdigungen, Hochzeiten oder Taufen in der Dorstener Kirche alles rund läuft, erledigt die Garten- und Pflegearbeiten rund um das Gebäude und ist für das Waschen und Bügeln der kirchlichen Gewänder zuständig. Er verdient sein eigenes Geld und will sich bald eine eigene Wohnung und einen KFZ-Führerschein finanzieren.

Damit solche Lebenswege und Freiheiten für möglichst viele Menschen mit Schwerbehinderungen möglich werden, gibt es für Förderschülerinnen und -schüler in Deutschland verschiedene Programme, die von unterschiedlichen Organisationen und Institutionen getragen werden. In Nordrhein-Westfalen ist das beispielsweise das Angebot „Schule trifft Arbeitswelt“, kurz „STAR“, mit dem auch Niklas Grewing gefördert wurde (siehe Infokasten).

Niklas Grewing steht am Altar und zündet eine Kerze an.
Niklas Grewing hat seinen Traumberuf gefunden: Er ist Küster in einer Kirche in Dorsten. Das war auch mit Hilfe des Programms STAR möglich. Foto: LWL

Das erklärte Ziel dieses Programms: Es soll Förderschülerinnen und -schülern den Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt ermöglichen. Bei STAR funktioniert das so: Die Jugendlichen werden bereits drei Jahre vor ihrem Schulabschluss von Experten aus so genannten Integrationsfachdiensten eng begleitet. Die jungen Menschen überlegen und planen dabei gemeinsam mit den Experten, welcher Beruf für sie später in Frage kommt, welche Fähigkeiten sie mitbringen oder noch weiterentwickeln könnten und welche Voraussetzungen der künftige Arbeitsplatz erfüllen müsste. Die Schülerin oder der Schüler kann auch erste Praktika in Betrieben oder bei Organisationen absolvieren, die sie oder er interessant findet, und wird dabei stets eng begleitet und beraten. Auf Wunsch können die Jugendlichen auch weitere Angebote nutzen: Sie können Seminare zur Berufsorientierung besuchen, kommunikative Hilfen in Anspruch nehmen, ein Mobilitätstraining oder ein betriebliches Arbeitstraining (Jobcoaching) machen oder technische Arbeitshilfen beantragen.

Diese Angebote hat auch Niklas Grewing wahrgenommen. Bei der Einarbeitung half zum Beispiel eine Arbeitstrainerin mit, die ihn mit einem Jobcoaching in der ersten Phase unterstützte. Sein Arbeitgeber, die St. Urbanus Kirchengemeinde, bekam darüber hinaus eine Einstellungsprämie und weitere finanzielle Hilfen zur Verfügung gestellt. Heute sind beide sehr zufrieden: Niklas Grewing in seinem Traumberuf, die Kirche mit ihrem hoch engagierten Küster.