Ein alter Beruf und ein modernes Hilfsmittel: Wie ein Scherenmonteur mit bionischer Unterstützung arbeitet

Herr Schrage, in welchem Beruf arbeiten Sie und wann haben Sie damit begonnen?

Ich habe 1978 mit meiner Ausbildung zum Scherenmonteur angefangen. In diesem Beruf habe ich 21 Jahre lang gearbeitet. Im Jahr 1999 habe ich ins LVR-Industriemuseum Gesenkschmiede Hendrichs gewechselt. Dort habe ich von Solinger Handwerksmeistern auch noch das Schleifen von Messern gelernt.

Bei so viel Erfahrung passt es sehr gut, dass Sie im LVR-Industriemuseum Gesenkschmiede Hendrichs heute den Schleif- und Reparaturservice betreuen. Warum hat das Museum so einen Service und was ist Ihr Job dort?

Der damalige Museumsleiter wusste um meine langjährige Berufserfahrung und hatte deshalb die Idee, in der Gesenkschmiede nicht nur Führungen anzubieten, sondern zusätzlich auch noch einen Besucherservice, zu dem die Leute ihre Scheren und Messer mitbringen und bei uns schärfen lassen können. Wir haben seinerzeit sogar eine eigene Schere für das Museum entwickelt. Meine Hauptaufgabe ist aber eigentlich nicht das Schleifen, vor allem betreue, begleite und führe ich die Besucherinnen und Besucher der Gesenkschmiede.  

Sie arbeiten also nicht nur handwerklich, sondern vermitteln auch Wissen?

Genau, ich arbeite sehr viel museumspädagogisch. Zum Beispiel, wenn Kindergärten, Schulklassen und Erwachsenengruppen zu Besuch kommen, oder an Aktionstagen wie dem „Girlsday“ oder dem „Boysday“. Dann zeige ich jungen Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen die Ausstellung, damit sie einen Eindruck der jeweils vielleicht eher geschlechteruntypischen Berufe in der Schmiede bekommen können. Ich führe auch Jugendliche im Rahmen des „MINT-Mädchen“-Projekts des Bundesministeriums für Bildung und Forschung durch die Gesenkschmiede, also junge Frauen, die sich für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften oder Technik interessieren. Und ich gebe Workshops zu verschiedenen Themen, beispielsweise zum Bau von Taschenmessern.

Wenn Sie wieder am Schleifstein sitzen, benutzen Sie ein Hilfsmittel, einen bionischen Handschuh. Wie funktioniert diese Technik und wofür nutzen Sie sie?

Ich kann meine rechte Schulter und den Daumen der rechten Hand nur sehr eingeschränkt benutzen. Der Handschuh unterstützt mich und gleicht die fehlende Kraft aus. Er hat Sensoren, die die Bewegung meiner Finger erkennen. Und die Elektronik im dazugehörigen Rucksack verstärkt mit einem Motor die Kraft der Finger. Dadurch kann ich Messergriffe und die Scheren beim Schleifen sicher halten, Scherenklingen mit einem Hammer abrichten und Scheren montieren. Ohne den Handschuh könnte ich diese Arbeiten nicht präzise ausführen.

Wie sind Sie auf diesen Handschuh gekommen?

Das war nicht ich, sondern Norbert Poqué vom technischen Beratungsdienst des LVR-Inklusionsamtes. Er kannte meinen Fall und hat mir den Handschuh empfohlen. Finanziert wurde das Hilfsmittel dann über die Fachstelle für Menschen mit Behinderung im Arbeitsleben in Solingen.

Kommen Sie gut damit klar oder würden Sie gern etwas daran verbessern?

Der Handschuh unterstützt mich sehr gut in der täglichen Arbeit. Die Sensorik reagiert aber natürlich schon ein wenig träger als der Körper selbst. Ich spüre durchaus einen Unterschied zwischen der linken und der rechten Hand. Wenn es künftig möglich wäre, das zu verfeinern, fände ich das toll. Aber der Handschuh ist wie gesagt auch so ein tolles Hilfsmittel. Ich benutze ihn auch zu Hause bei vielen alltäglichen Arbeiten, bei denen ich Kraft zum Greifen brauche. Zum Beispiel im Garten, wenn ich Pflanzen ins Beet setzen will.

Bei der A+A-Messe führen Sie am gemeinsamen Infostand des LVR und LWL Ihre Fähigkeiten an einem alten Schleifstein vor. Unterscheidet sich diese alte Schleiftechnik von der heutigen Art, Messer und Scheren zu schärfen?

Ein Reparaturservice funktioniert sowieso nur von Hand, daher gibt es hier kein Alt und Neu. Das LVR-Industriemuseum will ja außerdem die Arbeitsbedingungen in der Solinger Schneidwarenindustrie aus dem vergangenen Jahrhundert zeigen. Ich arbeite also auch noch mit der Technik von früher, die heutige Art des Schärfens kann ich daher nicht direkt beurteilen. Ich weiß, dass die Solinger Schneidwarenindustrie inzwischen oft mit computergesteuerten Schleifmaschinen arbeitet. Es gibt aber auch weiterhin einige Betriebe, die besonders hochwertige Schneidwaren herstellen und auch heute noch von Hand schleifen – genauso wie vor 100 Jahren.






Inklusives Kita-Tanzprojekt der Villa Kunterbunt gewinnt den LWL-Sonderpreis „Vorbild Inklusion“

Seit 2015 arbeitet Anja Wagner 15 Stunden pro Woche in der Villa mit, hilft in Küche und Garten, spielt mit den rund 60 Kindern mit und ohne Behinderung, die hier von insgesamt 14 Mitarbeiter:innen betreut werden – und sie entwickelt und trainiert im Rahmen des Tanzprojekts „Keep on dancing – Anders ist normal“ Choreografien mit den Kleinen, die zwischen zwei und sechs Jahren alt sind. Zum Beispiel den Superhelden-Tanz mit passender Verkleidung (siehe Foto).

Die 26-Jährige hat selbst eine Behinderung und ist durch das Projekt „Neueinstellung“ der AWO-Tochter Bildung+Lernen gGmbH zur Villa Kunterbunt gekommen. Weil die Einrichtung damit vorbildlich dazu beiträgt, Menschen mit Schwerbehinderung den Einstieg in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu erleichtern, hat sie dafür in diesem Jahr den LWL-Sonderpreis „Vorbild Inklusion“ (Infos siehe Kasten unten) gewonnen.
Beworben hatte sich die Villa zusammen mit Anja Wagner und ihrem Tanz- und Theaterprojekt, das inzwischen fest zum Arbeitsalltag der Kita gehört. Die Auszeichnung gebührt also ebenso der 26-Jährigen selbst, die sich sehr über den Entschluss des Villa-Teams freut, das Preisgeld von 8.000 Euro direkt wieder in das Projekt „Neueinstellung“ zu investieren. „Damit noch mehr Menschen mit Down-Syndrom oder Handicap ein Praktikum machen können“, erklärt sie. Denn so könnten bald, so wie sie selbst, noch mehr Menschen einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt finden. 





Video-Eventtipp: Ausbildungen und Karrieremöglichkeiten in der Justiz

Das nächste Video-Event trägt den Titel „Arbeiten bei der Justiz.NRW – Inklusion inklusive“, startet am Dienstag, den 27. Oktober um 15 Uhr und dauert etwa 30 Minuten*. Wie der Name schon sagt, richtet sich dieses Event gezielt an Menschen mit Behinderung, die über einen juristischen Beruf nachdenken und sich dazu informieren möchten.

Alle „HeimRechts“-Events laufen immer ähnlich ab: Angestellte aus den verschiedenen Einrichtungen und Fachrichtungen sitzen mit in der Konferenz und erzählen aus ihrem Arbeitsalltag. Wer am Meeting teilnimmt, kann ihnen live Fragen stellen.
Bei der Veranstaltung zum Thema Inklusion im Justizdienst zum Beispiel sind eine Mitarbeiterin des Amtsgerichts Krefeld und ein Mitarbeiter des Amtsgerichts Bochum mit dabei und erzählen von ihrer Arbeit. Beide haben eine Behinderung.

In den weiteren Events geht es um die Ausbildung zur Justizfachangestellten (4. November) und um die Ausbildung zur Mitarbeiterin im Krankenpflegedienst (26. November).


*Da das Event inzwischen vorbei ist, haben wir euch hier den Zusammenschnitt der Veranstaltung verlinkt (YouTube-Video).




Vier Fragen an… Christoph Beyer

#1: Herr Beyer, welche Aufgaben hat eine Schwerbehindertenvertretung – und warum ist das ein anspruchsvoller Job?

Die Vertrauenspersonen müssen sich zum Beispiel in sehr unterschiedliche Themen einarbeiten und ein gewisses Verhandlungsgeschick mitbringen. Außerdem müssen sie sich durchsetzen können, denn sie vertreten ja die Interessen ihrer Kolleginnen und Kollegen mit Behinderung und der Personen, die ihnen gleichgestellt sind. Das ist nicht einfach. Diese Aufgaben beginnen schon an dem Tag, an dem ein Arbeitsverhältnis anfängt, also mit der Einstellung, und können sich bis zu einem Verfahren um eine mögliche Kündigung ziehen. Die Schwerbehindertenvertretungen vermitteln dabei ständig zwischen der Arbeitgeberin oder dem Arbeitgeber, den Beschäftigten und oft auch externen Partnern, zum Beispiel dem Inklusionsamt, der Arbeitsagentur oder der Rentenversicherung. Vor allem am Anfang stoßen sie dabei manchmal auf Widerstände und müssen sich dann dem Arbeitgeber gegenüber behaupten. Wenn das aber erst einmal geschafft ist, können die Vertrauenspersonen sehr viel bewegen.

#2: Welche Fragen oder Schwierigkeiten tauchen bei Schwerbehindertenvertretungen im Moment besonders häufig auf?

In jedem Betrieb sind die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Schwerbehinderung unterschiedlich – und so sind auch die Herausforderungen immer andere, mit denen die Vertrauenspersonen konfrontiert sind. Es gibt aber einige Punkte, die für alle Schwerbehindertenvertretungen derzeit schwierig sind. Im Moment bauen zum Beispiel viele Unternehmen in Deutschland Stellen ab, obwohl die Wirtschaft seit Jahren im Aufschwung ist. Von solchen Kündigungen sind auch viele Menschen mit Schwerbehinderung betroffen. Ihre Vertreterinnen und Vertreter haben deshalb alle Hände voll zu tun, damit möglichst viele ihren Job behalten können oder eine andere Stelle im Unternehmen finden.
Eine andere große Herausforderung ist, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den meisten Unternehmen immer älter werden. Dadurch steigt auch das Risiko einer Schwerbehinderung. Die Vertrauenspersonen wollen ihre Kolleginnen und Kollegen natürlich dabei unterstützen, gesund zu bleiben. Das ist zusätzliche Arbeit, denn sie setzen sich ja auch weiterhin dafür ein, den Arbeitsplatz des Mitarbeiters oder der Mitarbeiterin zu erhalten, wenn dann doch eine Schwerbehinderung eintritt.

#3: Bei einigen Veranstaltungen auf dem A+A-Kongress, die Sie moderieren, geht es auch um die Digitalisierung. Welche Rolle spielt dieses Thema für die Inklusion?

Die Arbeitswelt verändert sich durch die Digitalisierung sehr stark. Das birgt Risiken, mit denen wir uns dringend auseinandersetzen müssen, aber auch Chancen. Spezielle Roboter und digitale Systeme zum Beispiel können Menschen mit Behinderung am Arbeitsplatz unterstützen, anstatt sie zu ersetzen. Die Maschine übernimmt dann nur noch die Aufgaben, die der Mitarbeiter aufgrund seiner Behinderung nicht erledigen kann. In Zukunft können so ganz neue Arbeitsfelder entstehen. Risiken entstehen durch die Digitalisierung vor allem für Menschen mit Behinderung, die schon längere Zeit im Beruf sind: Wenn sich ihr Arbeitsplatz sehr stark verändert, müssen sie neue Abläufe einüben oder lernen, mit neuer Soft- oder Hardware umzugehen. Das ist für viele oft schwierig.

#4: Was können die Inklusionsämter des LVR und des LWL tun, um Unternehmen, Betriebe und die Schwerbehindertenvertretungen bei diesem Wandel zu unterstützen?

Die Technischen Beratungsdienste der Inklusionsämter sind gute und kompetente Ansprechpartner, sowohl für die Betriebe als auch für die Schwerbehindertenvertretungen. Sie helfen mit Informationen und unterstützen Menschen mit Behinderung und ihre Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Sie sind aber auch eine Art Schnittstelle zwischen den Unternehmen und bestimmten Abteilungen der Landschaftsverbände, die zum Beispiel Fördermittel bewilligen.
Wenn ein Unternehmen schon dabei ist, sich digital zu verändern, kann es auch einen der Integrationsfachdienste (IFD) in der Region ansprechen. Unter bestimmten Voraussetzungen können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderung von den IFD finanziell dabei unterstützt werden, zum Beispiel eine Weiterbildung zu machen. Außerdem können die Integrationsfachdienste Jobcoaches vermitteln, die am Arbeitsplatz neue Abläufe mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einüben.






Wie Roboter Menschen mit Behinderung bei der Arbeit unterstützen können

Herr Schrapper, was hat ein Roboterarm mit Inklusion am Arbeitsplatz zu tun?

Ein Roboterarm kann Menschen mit Behinderung zum Beispiel bei der Montage unterstützen und sich immer wieder flexibel auf neue Aufgaben einstellen. Der Prototyp, den wir auf der RehaCare-Messe 2019 gezeigt haben, kann Werkstücke festhalten und sie sehr präzise so drehen, dass zum Beispiel auch ein Mensch gut daran arbeiten kann, der nur einen Arm hat.
Das allein wäre aber nichts Neues, denn solche Systeme gibt es schon recht oft. Die Innovation bei unserem Roboterarm ist, dass er nach der Fertigung mit Hilfe einer Kamera überprüft, ob der jeweilige Arbeitsgang richtig ausgeführt wurde. Das System meldet auf einem Bildschirm zurück, wenn etwas schiefgelaufen ist – und die Person am Arbeitsplatz kann den Fehler sofort korrigieren (siehe Video weiter unten). Das ist vor allem für Menschen mit geistigen Behinderungen sehr wichtig. Bisher lag der Fokus in der technischen Beratung von Unternehmen eher darauf, Menschen mit körperlichen Behinderungen zu unterstützen. Das neue System ist für beide Gruppen nützlich.

Was ist nötig, um ein technisch so komplexes System zu entwickeln?

Neben Forschungsgeldern braucht es vor allem Fachwissen und Erfahrung – und zwar sowohl in der Technik als auch beim Thema Inklusion am Arbeitsplatz. Das technische Wissen und die Erfahrung in der Montage kommt von der IBG Group aus Neuenrade, einem Unternehmen, das auf die Herstellung von Produktions- und Montageanlagen mit Hilfe der Robotik spezialisiert ist. Wir vom Technischen Beratungsdienst bringen unsere Erfahrung aus der Zusammenarbeit mit Menschen ein, die eine Behinderung haben und an ihren Arbeitsplätzen Unterstützung brauchen. Wir wissen also genau, was die späteren Nutzerinnen und Nutzer eines solchen Systems wirklich brauchen.

Frank Schrapper erklärt in diesem kurzen Film, wie der Roboterarm nicht nur bei der Montage unterstützen kann, sondern auch Fehler bei einzelnen Arbeitsschritten bemerkt.

Welches Ziel verfolgen Sie mit dem Prototypen des Roboterarms?

Wir wollen vor allem zeigen, dass so etwas möglich ist und technische Assistenzsysteme auch Menschen mit geistiger Behinderung am Arbeitsplatz unterstützen können. Darüber wollen wir mit Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern ins Gespräch kommen und gemeinsam überlegen, ob und wie so ein System künftig in Betrieben eingesetzt werden und vielleicht neue Arbeitsplätze schaffen könnte. Bisher stößt diese Idee auf sehr großes Interesse.

In welchen Branchen kann der Roboterarm eingesetzt werden?

In eigentlich allen Bereichen, die mit Montage und Handwerk zu tun haben. Massenproduktionen fallen raus, denn die werden häufig vollständig von Maschinen übernommen oder laufen in sehr hohem Tempo. Unser Prototyp ist vor allem für Arbeitsplätze mit einfachen Montagetätigkeiten und kleineren Stückzahlen geeignet. Ein Beispiel: Ein Unternehmen fertigt 500 Stück eines bestimmten Bauteils an und wechselt danach zu einer anderen Montageschleife. Nach weiteren 500 Stück dieses neuen Teils kommt wieder eine neue Aufgabe auf die Mitarbeiterin oder den Mitarbeiter zu. Der Roboterarm kann den jeweiligen Menschen mit Behinderung bei diesen verschiedenen Aufgaben optimal unterstützen, weil er immer wieder neu konfiguriert werden kann.

Welche Kosten kommen auf ein Unternehmen zu, wenn es einen Roboterarm für einen Menschen mit Behinderung anschaffen will?

Der Prototyp, den wir im Moment auf Messen wie der RehaCare präsentieren, kostet rund 100.000 Euro – nach oben sind dem allerdings keine Grenzen gesetzt, denn der Preis hängt auch davon ab, welche Ausstattung der Roboter haben soll. Die Summe klingt erst einmal recht hoch, allerdings können sich Betriebe so eine Investition bezuschussen lassen, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen.

Der IBG-Roboter in einer Messehalle der RehaCare
Der Roboterarm könnte auch Menschen mit einer geistigen Behinderung künftig in der Montage unterstützen. Foto: LWL/Windhausen

Welche Voraussetzungen sind das – und wie hoch ist die Fördersumme?

Das ist je nach Einzelfall ganz unterschiedlich. Verbände wie der Landschaftsverband Westfalen Lippe (LWL) und der Landschaftsverband Rheinland (LVR) fördern entsprechende Ausstattungen für Arbeitsplätze zum Beispiel über das Budget für Arbeit. Wir schauen im ersten Schritt, ob solch eine Investition für den jeweiligen Betrieb wirtschaftlich ist oder nicht. Wenn das zutrifft, hängt die Höhe der Förderung noch von anderen Faktoren ab: Von der Quote des jeweiligen Arbeitgebers etwa, also davon, wie viele Menschen mit Behinderung sie oder er im Unternehmen beschäftigt. Daher können es mal nur 30 Prozent sein, aber auch mal 80 Prozent der Anschaffungskosten, die bezuschusst werden.

Lohnt es sich denn, so hohe Fördersummen in die Ausstattung für einen einzigen Arbeitsplatz zu stecken?

Ja, auf jeden Fall. Gesellschaftlich betrachtet gleicht sich der im Moment noch recht hohe Anschaffungspreis für so ein System schnell aus. Die Frage ist ja, was stattdessen mit einem Menschen passiert, der womöglich sehr gut für die Tätigkeiten an diesem Arbeitsplatz geeignet wäre, aber eine passende Unterstützung braucht. Sie oder er wird oder bleibt entweder arbeitslos oder fängt in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) an, die keine sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse bietet. Beides kostet den Staat und damit auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler im Zweifel mehr Geld als ein entsprechend ausgestatteter Arbeitsplatz für einen Menschen mit Behinderung.

Warum ist das System im Moment noch so teuer, und welche Chancen sehen Sie, dass es in Zukunft günstiger wird?

Die Kosten hängen vor allem mit der Programmierung des Systems zusammen, die im Moment noch recht aufwändig ist. Wir arbeiten gerade daran, das intuitiver zu gestalten. Konkret würde das heißen: Der Roboterarm müsste künftig nicht mehr von Fachleuten mit Programmiersprache aufgesetzt und im Betrieb immer wieder an neue Gegebenheiten und Aufgaben angepasst werden, sondern er könnte einfach von Hand zu den jeweiligen Schritten geführt werden, die er ausführen soll – und die merkt er sich dann. Damit sind wir im Bereich der Künstlichen Intelligenz, übrigens auch eine Technologie, die eine Menge Möglichkeiten bietet. Man bräuchte dann keine aufwändige Entwicklungsarbeit und auch keine externen Experten mehr. Wenn uns dieser Schritt gelingt, werden die Kosten für so ein System sinken, weil jede Arbeitgeberin und jeder Arbeitgeber das Gerät sehr einfach selbst vor Ort und ohne besonderes Fachwissen einrichten könnte.







Barrierefrei und inklusiv: die Bundesgartenschau Heilbronn 2019

Herr Reinwald, was ist Ihr Job bei der Bundesgartenschau?

Uns war es von Anfang an wichtig, dass alle Menschen die BUGA erleben und genießen können – ob sie eine Behinderung haben oder nicht. Meine Aufgabe ist es, alles dafür Nötige zu organisieren. Ich war und bin noch bis Oktober an allen Planungen beteiligt, die das Gelände und die Veranstaltungen der Gartenschau betreffen. Ich betreue und koordiniere zum Beispiel die Arbeitsgruppe „aktiv-inklusiv!“, die sich dafür eingesetzt hat, die BUGA inklusiv und barrierefrei zu gestalten. Dafür haben wir unter anderem mit Behindertenverbänden, Vereinen, Werkstätten, Schulen und der Inklusionsbeauftragten der Stadt Heilbronn zusammengearbeitet.

Wo beginnt für Sie Barrierefreiheit bei einer solchen Veranstaltung, die noch dazu im Grünen stattfindet?

Mit der Anreise, denn die muss einwandfrei funktionieren, damit unsere Besucherinnen und Besucher entspannt bei uns ankommen können und nicht vorher übermäßig viel selbst planen müssen. Für Menschen, die mit Rollstuhl unterwegs sind, gibt es in der Nähe des Eingangs „Wohlgelegen“ viele Behindertenparkplätze, außerdem verkehren zwischen den weiter entfernten Parkplätzen und dem Eingang rollstuhlgerechte Shuttle-Busse.
Für einen barrierefreien Kartenkauf haben wir abgesenkte Kassenschalter eingerichtet. Für Menschen mit Sehbehinderung stehen am Eingang taktile Lagepläne bereit, damit sie sich eigenständig orientieren können. Und für Menschen mit Hörbehinderung haben wir einen Infopoint eingerichtet, an dem geschulte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Deutscher Gebärdensprache Auskunft geben.

Ein Shuttlebus an einem Bussteig, im Hintergrund ein großes Parkhaus. Foto: BUGA Heilbronn 2019 GmbH
Barrierefreiheit beginnt schon bei der Anreise: zwischen den weiter entfernten Parkplätzen und den Eingängen verkehren mehrere Shuttle-Busse. Foto: BUGA Heilbronn 2019 GmbH

Zusätzlich haben wir an der größten Bühne auf dem Gelände – der Sparkassenbühne – eine Induktionsschleife eingerichtet, über die Menschen mit Hörhilfen und Cochlea-Implantaten die Tonsignale der Mikrofone störungsfrei und verstärkt empfangen können. Dazu kommt unser digitales Angebot: Auf unserer Homepage stehen unter dem Punkt „Service“ und der Rubrik „Barrierefreiheit“ Informationen zur Bundesgartenschau in Leichter Sprache bereit, außerdem kann dort ein Info-Film in Gebärdensprache und mit Untertiteln angeschaut werden.

Auch unterwegs können diese Angebote über die App „Actionbound“ abgerufen werden, in der wir einen eigenen Bound (frei auf Deutsch übersetzt: „Umgrenzung“) namens „BUGA 2019 barrierefrei“ angelegt haben. Wir bieten darin zusätzlich zu den Texten in Leichter Sprache und den Gebärdensprachvideos auch noch Audiodateien an, die sich die Besucherinnen und Besucher während ihres Rundgangs anhören können.

Wie barrierefrei ist das Gartenschaugelände selbst?

Nahezu komplett. Lediglich an einer Treppe auf einer Insel, der „Forscherinsel“, gibt es aus baulichen Gründen keinen Zugang für Menschen mit Rollstuhl. Überall sonst kommen Menschen mit Gehbehinderung gut weiter. Zwar können sie nicht immer die allerkürzesten Wege nutzen, aber es gibt Zugänge zu allen Ausstellungsbereichen. In den Themengärten etwa haben wir darauf geachtet, dass der Untergrund mit Rollstühlen befahrbar ist.

Auch die Aussichtsplattformen und die Holzstege an den Seen und am Neckar sind ohne bauliche Hindernisse zugänglich. Dort gibt es für Menschen mit Sehbehinderung außerdem so genannte Aufmerksamkeitsfelder: Noppen aus Metall markieren dort gefährliche Stellen wie zum Beispiel Absturzkanten, an denen sie besonders gut auf den Weg achten müssen. Die Restaurants, Cafés und Ausstellungsräume auf dem Gelände sind mit Rampen ausgestattet, die Türen und Flure der Gebäude sind breit genug gebaut, damit Rollstühle bequem hindurchpassen. Die Theken und Tische in den Restaurants und Cafés sind außerdem unterfahrbar. Und unsere Speisekarten haben wir für Blinde und Menschen mit Sehbehinderung in Brailleschrift gedruckt.

Buntes Blumenbeet aus Tulpen und anderen Blumen, dazwischen ragen lange, gelbe Stäbe auf. Foto: BUGA Heilbronn 2019 GmbH
In den Themengärten wurde darauf geachtet, dass die Untergründe der Wege mit Rollstühlen befahrbar sind. Foto: BUGA Heilbronn 2019 GmbH

Wie Sie beschrieben haben, können sich die meisten Besucherinnen und Besucher gut auch ohne Begleitpersonen auf Ihrem Gelände bewegen und orientieren. Welche Angebote halten Sie für Menschen mit Behinderung bereit, die die Gartenschau dennoch nicht allein besuchen können oder möchten?

Wir bieten Führungen in Leichter Sprache und in Gebärdensprache an. Blinde Besucherinnen und Besucher oder Menschen mit starken Sehbehinderungen können sich von einer Person aus unserem Team bei ihrem Rundgang über das Gelände begleiten lassen. Und Menschen mit Rollstuhl, die nicht allein fahren können oder wollen, können ehrenamtliche Helfer als Schiebehilfe anfragen. Außerdem vermieten wir gegen eine Gebühr elektrische Rollstühle, der Preis richtet sich nach der Nutzungsdauer. Ein besonderes Angebot sind unsere Tandem-Führungen, bei denen Menschen mit und ohne geistige Beeinträchtigungen als Team andere Besuchergruppen über das BUGA-Gelände führen.

Das klingt nach einem vorbildlichen Konzept und zugleich nach sehr großem Aufwand. Ist so eine barrierefreie Gestaltung teurer als nicht-inklusive Konzepte, auch wenn sie von Anfang an mit geplant wird? Und gibt es Fördertöpfe dafür?

Mehrkosten lassen sich oft vermeiden, wenn Barrierefreiheit bereits in der Planung des Geländes berücksichtigt wird und auch bauliche Aspekte wie zum Beispiel breitere Türen und Flure frühzeitig mit eingeplant werden. Durch zusätzliche Angebote wie die Toilette für alle, die wir mit einem Lifter und einem Wickeltisch für Erwachsene ausgestattet haben, wird die barrierefreie Gestaltung dagegen tatsächlich teurer. Auch für die individuelle Begleitung von Menschen mit Behinderung fallen natürlich Mehrkosten an. Diese Angebote wurden im Rahmen des Förderprogramms „Impulse Inklusion 2018“ des Ministeriums für Soziales und Integration Baden-Württemberg finanziell unterstützt, das auch 2019 weiterläuft.

Sie beschäftigen dieses Jahr erstmals auch Menschen mit Behinderung sozialversicherungspflichtig in Ihrem Team. Wie viele Menschen arbeiten bei Ihnen und in welchen Bereichen sind diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingesetzt?

Insgesamt beschäftigen wir 16 Frauen und Männer mit Behinderung fest bei uns, die vorher in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) gearbeitet haben. Sie arbeiten je nach Vorliebe und Fähigkeiten in ganz verschiedenen Bereichen: in der Grünpflege, im Hausmeisterservice, am Einlass, in der Busfahrerlounge, im Kurierdienst, im Fahrradparkhaus oder an unseren Verleihstationen für Bollerwagen und Rollstühle. Der Stadt- und Landkreis Heilbronn bezuschusst alle 16 Stellen im Rahmen des Programms „Budget für Arbeit“.

Wie kam es dazu, dass diese neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Werkstatt zu Ihnen gewechselt haben?

Wir wollten von Anfang an auch Menschen mit Behinderung bei der BUGA beschäftigen und haben vorab die möglichen Tätigkeiten abgesteckt. In Zusammenarbeit mit Stadt und Landkreis Heilbronn, der Werkstatt der Stiftung Lichtenstern und der Lebenswerkstatt Heilbronn haben wir in den beiden Werkstätten nach Interessenten für diese Jobs gesucht. Die 16 Menschen mit Behinderung, die wir eingestellt haben, wurden vor dem Start der Gartenschau während ihrer Einarbeitungsphase von Jobcoaches betreut und begleitet. Diese haben zum Beispiel mit ihnen Arbeitsabläufe trainiert. Außerdem wurden die Abläufe und Arbeitsplätze so organisiert und strukturiert, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderung ihre Aufgaben gut erfüllen können. Dabei werden sie jetzt noch von den Jobcoaches unterstützt und bis zum Ende der BUGA auch weiterhin.

Wie geht es für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderung nach dem Ende der Bundesgartenschau weiter?

Ein wichtiges Ziel unseres Pilotprojektes ist es, Menschen mit Behinderung den Einstieg in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Sie fassen bei der BUGA Fuß und sammeln wichtige Erfahrungen. Da viele dieser Arbeitsplätze sehr eng an die Bundesgartenschau selbst geknüpft sind, enden die Arbeitsverhältnisse mit dem Ende der Veranstaltung. Wir unterstützen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aber schon jetzt dabei, eine passende Anschlussbeschäftigung zu finden – sofern sie das möchten.
Wir haben dazu unsere Partner und Sponsoren, Firmen aus der Region, die Stadt und den Landkreis Heilbronn schon angesprochen, die entsprechende Stellen schaffen oder vermitteln können. Wer keinen neuen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt möchte, kann übrigens auch wieder an seinen Werkstatt-Arbeitsplatz zurückkehren – dafür hat sich aber bisher noch niemand entschieden.






Innovationen für ein selbstbestimmtes Leben und Arbeiten

Aussteller aus der ganzen Welt zeigen bei der Messe unter anderem Hilfsmittel und Spielzeug für Kinder mit Behinderung, aber auch Alltagshilfen für Erwachsene. Daneben werden viele interessante Neuheiten rund um die Themen Kommunikation und barrierefreies Wohnen präsentiert.

Der Schwerpunkt der Fachmesse liegt in diesem Jahr auf Entwicklungen für Menschen mit Mobilitätseinschränkung: Die Gäste können zum Beispiel neue Rollstühle, Gehhilfen und behindertengerecht ausgestattete Kraftfahrzeuge kennenlernen und ausprobieren.

Blick in die Zukunft der Arbeitswelt: Messestand von LWL und LVR

Unter anderem sind auch die beiden großen Landschaftsverbände aus Westfalen (LWL) und dem Rheinland (LVR) im Themenpark „Menschen mit Behinderung und Beruf“ mit einem gemeinsamen Messe-Stand vertreten. Dort können die Besucherinnen und Besucher zum Beispiel einen Blick in die Zukunft der Arbeitswelt werfen: Wie können Roboter Menschen mit Behinderung am Arbeitsplatz unterstützen? Wie helfen digitale Assistenzsysteme im Arbeitsalltag? Welche neuen Arbeitsplätze und Aufgabenfelder eröffnen solche Lösungen für Menschen mit Behinderung?

Roboterarm und digitale Assistenzsysteme

Auf diese und weitere Fragen gibt es am Stand von LWL und LVR theoretische und praktische Antworten. Die Gäste können am Stand zum Beispiel einen Roboterarm der Firma IBG bestaunen, der Menschen mit Behinderung bei der Montage von Werkstücken unterstützt. Außerdem präsentiert die wertkreis Gütersloh gGmbH gemeinsam mit dem Fraunhofer Institut aus Lemgo zwei digitale Assistenten für Menschen mit geistigen oder psychischen Behinderungen. Dabei überprüfen zum Beispiel Kameras, ob bei der Montage eines Werkstücks jeder Arbeitsschritt richtig ausgeführt wurde. Falls dabei etwas verkehrt läuft, können die Nutzerinnen und Nutzer des Assistenten auf einem Bildschirm sehen, wie sie eventuell entstandene Fehler korrigieren können.

Beratung und Vorträge

Darüber hinaus können sich die Messe-Besucherinnen und -Besucher am Stand der Inklusionsämter aus Westfalen und dem Rheinland auch rund um das Thema Beruf beraten lassen. Im „Treffpunkt REHACARE“ finden außerdem verschiedene Vorträge zum Thema statt, die für alle Gäste kostenfrei zugänglich sind.




Forderungen, Demonstrationen und viele Bilder: #missioninklusion

Am Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen beteiligten sich viele Verbände und andere Organisationen in ganz Deutschland. Die Berichterstattung in den Medien war aber eher schmal. Was wir finden konnten, haben wir hier für euch zusammengetragen:

  • Jürgen Dusel forderte anlässlich des Protesttages per Pressemittteilung die steuerliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. „Der Pauschalbetrag für Menschen mit Behinderungen im Einkommensteuerrecht ist seit 44 Jahren – seit 1975 – nicht erhöht worden“, sagte der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. „Das widerspricht der wirtschaftlichen Realität, ist niemandem zu vermitteln und schlichtweg ungerecht. Ich appelliere an die Bundesregierung, sich dieses Themas anzunehmen und den Pauschbetrag deutlich zu erhöhen.“
  • Einen kleinen Überblick über die Aktionen am Protesttag – auch über weitere in den kommenden Tagen – ist bei den Kobinet-Nachrichten zu lesen.
  • Ein wenig bunter geht es bei Instagram zu, wo ihr unter dem Hashtag #missioninklusion viele Eindrücke zum Protesttag finden könnt.



Bald auf dem Markt: preisgekrönte Gebärden-Lern-App für Kinder

Anke, wie bist du auf die Idee gekommen, eine inklusive App zu entwickeln?

Durch meinen Sohn Lasse. Er hat das Down-Syndrom, ist neun Jahre alt und besucht eine Regelschule in Hamburg. Er spricht noch unverständlich, deshalb brauchen er und seine Mitschülerinnen und Mitschüler viel Geduld, um sich miteinander zu verständigen. Im Moment müssen die anderen Kinder häufig Lasses Sprachcomputer zu Hilfe nehmen, oder sein Schulbegleiter muss für ihn dolmetschen. Das ist eine große Barriere, die die anderen Kinder frustriert und Lasse oft traurig macht. Seine Sonderpädagogin hat deshalb damit angefangen, mit der ganzen Klasse Gebärden der Deutschen Gebärdensprache zu lernen.

Und um das zu unterstützen, entwickelt ihr die EiS-App?

Genau, denn mein Sohn braucht für alles, was er lernen will, mehr Wiederholungen als seine Mitschüler. Im Schul- oder Familienalltag lässt sich dieses zeitintensive Lernen nicht immer in dem Umfang unterbringen, den er benötigt. Lasse wiederholt Lerninhalte aber sehr gern für sich allein und in seinem Tempo, am liebsten mit Videos. Er schaut sie sich immer wieder an und ahmt sie nach. Ich wollte ihn beim Gebärdenlernen mit Videos unterstützen, habe aber keine adäquate kindgerechte Software gefunden.

Wie bist du an das Projekt herangegangen?

Ich habe meine Idee 2017 beim Hackathon „Die Zukunft der Bildung“ vorgestellt. Das war ein Wettbewerb der Wochenzeitung „DIE ZEIT“, der sich um Bildung im Zeitalter der Digitalisierung drehte. Dort habe ich mein Team kennengelernt: Luisa Heinrich, Marcus Willner, Ron Drongowski und Saskia Heim.
Luisa kümmert sich als Grundschullehrerin – mit viel Erfahrung in Inklusionsklassen und mit Kindern mit Migrationshintergrund – gemeinsam mit mir um das Inhaltliche und Pädagogische. Marcus ist Entwickler und Geschäftsführer der tapLab GmbH, er kennt sich mit Softwareentwicklung aus. Ron leitet die Backend-Entwicklung bei ZEIT ONLINE. Die beiden kümmern sich um die Programmierung der App. Saskia leitet das Team Bildungsmarketing im ZEIT-Verlag und übernimmt zusammen mit mir die Aufgabe, die App bekannt zu machen und zu vertreiben. Es war ein echter Glücksfall für mich, so ein tolles Team zu finden. Gemeinsam haben wir den Hackathon gewonnen. Damit hatten wir ein Startkapital.

Anke Schöttler hebt den Finger im Gespräch mit einer Kollegin, die nicht im Bild zu sehen ist.
Anke Schöttler im Bootcamp zur Digital Imagination Challenge 2018. Die EiS-App war unter den fünf Finalisten und hat den Wettbewerb gewonnen.
Foto: Andi Weiland/gesellschaftsbilder.de

Wie funktioniert die App und wie ist sie aufgebaut?

Wir haben eine Basis-Version entwickelt, die rund 200 Begriffe enthält. Jeder diese Begriffe ist in vier Varianten in der App hinterlegt: als geschriebenes Wort, als METACOMSymbol, als Audio-Datei und als Gebärden-Video. So haben die Kinder unterschiedliche Zugänge und können zum Lernen die Variante wählen, mit der sie am besten kommunizieren können. Zugleich ist die App sehr einfach und klar strukturiert. Auch Kinder mit kognitiven Einschränkungen können sie leicht bedienen und nutzen. Überhaupt kann jeder mit dem Programm einen Grundwortschatz an Gebärden lernen, egal ob sie oder er besser lesen, schreiben, hören oder sprechen kann.

Und wie habt ihr die Begriffe ausgewählt, die in der Basis-Version enthalten sind?

Wir haben uns an der Arbeit von Prof. Dr. Jens Boenisch und Dr. Stefanie Sachse orientiert. Die beiden Wissenschaftler von der Uni Köln haben herausgefunden, dass Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung in 80 Prozent ihrer Unterhaltungen nur rund 200 Wörter verwenden. Wir haben uns also auf genau diese Begriffe konzentriert. Das sind zum Beispiel Worte wie „ich“, „du“, „wollen“, „können“ oder „nicht“. Die komplexe Grammatik der Deutschen Gebärdensprache können wir dabei allerdings nicht abbilden, die sollte man sowieso von Muttersprachlerinnen und Muttersprachlern lernen. Einige Landesverbände des Deutschen Gehörlosen-Bunds und viele Volkshochschulen bieten dazu entsprechende Kurse an.

Die App richtet sich also speziell an Kinder?

Ja, sie ist als Alltagshilfe für Kinder gedacht, die unterstützt kommunizieren, also eine Ergänzung zur Lautsprache brauchen. Wir möchten aber auch Kinder unterstützen, die Deutsch als Zweitsprache lernen, Sprachentwicklungsverzögerungen haben oder sich einfach noch nicht trauen, zu sprechen. Auch ihre Familien und Freunde können so einen Grundwortschatz an Gebärden erlernen. Und natürlich Erzieherinnen, Assistenten und alle anderen, die diese Kinder beim Lernen begleiten.

Wie erreicht ihr diese junge Zielgruppe?

Wir wenden uns mit unserem Angebot vor allem an Kitas und Schulen. In Hamburg haben wir schon ein gutes Netzwerk aufgebaut, stehen in Kontakt zu Kitaträgern und auch zur Schulbehörde. Von Hamburg aus wollen wir dann bundesweit wachsen. Im Mai werde ich die EiS-App beim Sonderpädagogischen Kongress in Weimar vorstellen, und das Lehrerinstitut in Hamburg hat uns kürzlich zu einer Tagung zur Unterstützten Kommunikation eingeladen.

Können Eltern die App schon für ihre Kinder herunterladen?

Nein, noch nicht, wir sind nämlich gerade erst mit der Testphase fertig. Dafür haben wir ausführlich mit den unterschiedlichsten Expertinnen und Experten zusammengearbeitet, zum Beispiel mit Kindern, Eltern, Sonderpädagogen, Therapeutinnen, Schulbegleitern und Fachleuten für Unterstützte Kommunikation. Sie haben die App durchgetestet. Das Feedback war toll: Sie haben bestätigt, dass die EiS-App eine echte Alltagshilfe sein kann. Dieser erste Prototyp, mit dem die Tester gearbeitet haben, ist eine Web-App. Jetzt entwickeln Marcus und Ron die Versionen für iOS und Android. Wir wollen die Basis-Version der EiS-App Ende des ersten Quartals 2019 in die App-Stores und damit auf den Markt bringen.

Wird die App etwas kosten?

Ja, denn wir wollen sie ja langfristig anbieten und weiterentwickeln. Im Moment arbeiten wir komplett ehrenamtlich und finanzieren die gesamte Entwicklungsarbeit über die Preisgelder, die wir bisher gewonnen haben. Das ist auf Dauer kein tragfähiges Modell.

Einer der Wettbewerbe, die ihr gewonnen habt, war die Digital Imagination Challenge 2018. Welche Impulse habt ihr aus dem Innovations-Wettbewerb mitgenommen?

Sehr viele! Zunächst einmal hat uns das positive Feedback der anderen Finalisten, der Coaches und der Jury gezeigt, dass unser Engagement eine große gesellschaftliche Wirkung haben kann. Es geht bei der EiS-App ja nicht nur um die Situationen im Alltag, in denen die Software Kindern dabei hilft, sich zu verständigen. Wir sensibilisieren Kinder mit und ohne Behinderung auch für eine inklusive Gesellschaft. Sie lernen mit Hilfe der App, wie vielfältig Kommunikation sein kann – und mit dieser Erkenntnis können sie auch die Erwachsenen „anstecken“.
Das achtwöchige Support-Programm der Challenge wiederum hat uns praktisch sehr weitergebracht. Wir haben damit unser Projekt besser strukturiert und unsere Business-Beraterin hatte auch viele gute Ideen und Anregungen für uns. Wie kalkulieren wir zum Beispiel den finanziellen Aufwand, der nötig ist, um die App nachhaltig zu betreiben? Welche Investoren könnten wir gewinnen? Welche Fördertöpfe sind für uns interessant? Das hat uns sehr inspiriert und motiviert, weiterzumachen.

Wie wollt ihr die Basis-Version der App in Zukunft erweitern?

Da haben wir schon sehr viele Ideen. Wir möchten ein Memory, ein Quiz oder andere Spiele einbauen, mit denen Kinder die gelernten Begriffe spielerisch einüben und festigen können. Die Nutzerinnen und Nutzer sollen in der App später auch einen eigenen Wortschatz anlegen und eigene Videos integrieren können. Wir denken außerdem darüber nach, eine Augensteuerung für die App zu entwickeln, damit auch motorisch eingeschränkte Kinder sie nutzen können. Und das Programm soll Screenreader-fähig werden, damit Menschen mit Sehbehinderung sich die Inhalte von einer entsprechenden Software vorlesen lassen können. Sie können damit zwar keine Gebärden lernen, weil man die Handbewegungen tatsächlich sehen muss, um sie nachzuahmen. Aber die App kann trotzdem die Kommunikation zwischen blinden Kindern und Kindern mit Sprachschwierigkeiten erleichtern, weil die Wörter ja auch als Audio-Datei hinterlegt sind. So finden dann wirklich alle eine Möglichkeit, sich miteinander zu verständigen.






Digitale Innovationen für mehr Inklusion im Alltag

 #1: Das Deaf Magazine – ein analoges Heft mit digitalen Inhalten

Die Macher des ‚Deaf Mag‘ bezeichnen ihr Heft als „Lifestyle- und Gesellschaftsmagazin für die deutsche Gehörlosenszene“. Sie möchten damit Kommunikationsbarrieren für Gehörlose und für Menschen mit Hörbehinderung abbauen. Und das geht so: Das Magazin ist ein gedrucktes Heft, das neben Texten und Bildern auch Verweise auf Gebärdensprach-Videos enthält. Möglich wird das mit Augmented Reality (Übersetzung: Erweiterte Realität). Mit dieser Technologie werden kleine Codes in die Bilder des Magazins eingefügt, die auf Videos im Netz verweisen. Die Leser müssen nur die App zum Magazin auf ihrem Smartphone installieren und können das Telefon dann einfach über einen solchen Code halten – damit gelangen sie direkt zu den Videos. Die kleinen Filme ergänzen die Beiträge im Magazin mit Infos in Gebärdensprache, zum Beispiel zu Persönlichkeiten aus der Gehörlosen-Szene, Veranstaltungen, Barrierefreiheit oder der Gebärdensprachkultur in anderen Ländern. Die Videos sind zusätzlich untertitelt.

Der Hintergrund der Idee zum Magazin ist, dass viele gehörlose Menschen mit der Deutschen Schriftsprache Schwierigkeiten haben, weil sie auf der gesprochenen Sprache basiert. Die Muttersprache von Menschen mit Hörbehinderung ist aber die Gebärdensprache – und diese unterscheidet sich in Grammatik und Wortbildung sehr stark von der Lautsprache. Das Deaf Mag berücksichtigt genau das und erleichtert Gehörlosen durch die per Code eingebundenen Videos in Gebärdensprache den Zugang zu den Inhalten des Magazins. Nebenbei können die Leser außerdem neue Wörter in Schriftsprache lernen – oder sich umgekehrt, dank der Untertitel unter den Videos, die Gebärdensprache aneignen.

Zwei junge Männer schauen auf ein Smartphone, auf dem die App des Deaf Magazine aufgerufen ist.
Wer die App des Deaf Magazine herunterlädt, kann darin Videos zu den Artikeln im Magazin anschauen. Foto: Andi Weiland/ Gesellschaftsbilder.de

#2: Die EiS-App – Gebärdensprache spielerisch lernen

Die EiS-App (Abkürzung für ‚Eine inklusive Sprachlern-App‘) soll Kinder mit einer verzögert entwickelten Sprache dabei unterstützen, die Gebärdensprache zu erlernen. Die Mädchen und Jungen haben nämlich oft Schwierigkeiten, sich in Lautsprache mit anderen zu unterhalten. Wenn sie und ihre Freunde aber einen „Grundwortschatz“ in Deutscher Gebärdensprache hätten, könnten sie unkompliziert und spielerisch miteinander kommunizieren. Genau das ist die Idee der Entwickler, die ihre App an Schulen und Kindergärten als Hilfsmittel zum Erlernen der Gebärdensprache etablieren wollen. Sie hoffen, damit auch Berührungsängste zwischen Kindern mit und ohne Behinderung abzubauen. Aktuell ist die App noch in der Testphase.

Die Software funktioniert wie ein Wörterbuch, das den Wortschatz und die Grammatik der Gebärdensprache vermittelt: Neben dem ausgeschriebenen Wort erscheinen ein Symbol und ein Gebärdenvideo, außerdem ist der jeweilige Begriff als Audio-Datei hinterlegt. Die App ist damit sehr intuitiv bedienbar und auch das barrierefreie Design ist genau auf Menschen mit kognitiven Behinderungen zugeschnitten.

#3: Match My Maker – günstige Hilfsmittel von Bastlern und Tüftlern

Diese Online-Plattform will gezielt Menschen mit Behinderung und kreative Köpfe zusammenbringen, die ihre Talente und Fähigkeiten einsetzen möchten, um individuelle Hilfsmittel zu entwickeln. Match My Maker ist also ein Netzwerk für private oder professionelle „Macher“, die sich mit moderner Technik auskennen und verschiedenste Objekte bauen oder umgestalten können – zum Beispiel einen Getränkehalter für einen Rollstuhl oder individuell angepasste Griffe für einen Gehstock aus dem 3D-Drucker.

Die Plattform stellt aber nicht nur Kontakte her, sondern unterstützt die inklusiven Projektteams auch mit Coachings. Außerdem können die Entwickler ihre Lösungen in einer Datenbank erfassen, damit auch andere Menschen auf ihre Ideen zugreifen und diese für sich oder ihre Angehörigen weiternutzen können.

Drei Frauen besprechen an einem Flipchart die Ideen für ihr Projekt.
Was können wir mit unserer Idee erreichen und was müssen wir dafür tun? Mit diesen und anderen Fragen erarbeiten die Finalisten Projektpläne für ihre Start-ups. Foto: Andi Weiland/Gesellschaftsbilder.de

#4: „Kultur mit allen Sinnen“ – eine inklusive Museums-App

Der Name der App, die von der Berlinischen Galerie zusammen mit dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband DBSV entwickelt wurde, ist wörtlich gemeint: Sie soll es allen Menschen mit und ohne Behinderung ermöglichen, Kultur und Kunstwerke mit verschiedenen Sinnen zu erleben. Die Software führt die Besucherinnen und Besucher zu den 17 wichtigsten Stationen der Dauerausstellung „Kunst in Berlin 1880-1980“ und liefert dort nicht nur Hintergrundinformationen zum jeweiligen Künstler, dessen Technik und zur Entstehungszeit der Gemälde und Skulpturen, sondern auch eine sehr detaillierte akustische Beschreibung der Werke. Die Inhalte werden automatisch abgespielt, sobald die Besucher an einer Station angelangt sind. Ergänzt wird das Kultur-Erlebnis durch ein taktiles Bodenleitsystem, das sich durch die gesamte Ausstellung zieht.

Die App kann übrigens auch in anderen Museen eingesetzt werden und ist beliebig erweiterbar. Zum Beispiel können Infos in Gebärdensprache oder Leichter Sprache ergänzt werden. Und: Die App unterstützt ihre Nutzer auch schon vor dem Museumsbesuch. Wer möchte, kann akustische Wegbeschreibungen von Haltestellen der Öffentlichen Verkehrsmittel zum Museum oder Hinweise zur Orientierung im Museum abrufen.

Die App für iOS und Android ist im App-Store und Google Play-Store verfügbar (Suchbegriff „Berlinische Galerie“).

#5: Ever Guide Ein Indoor-Navigations-System fürs Smartphone

An Flughäfen, in Behörden, in Einkaufszentren oder in ähnlich unübersichtlichen Gebäuden ist es für Menschen mit Sehbehinderung oft nicht einfach, sich zurechtzufinden und sicher zu bewegen. Das Fraunhofer Institut für offene Kommunikationssysteme (FOKUS) möchte das mit seinem Indoor-Navigationssystem „Ever Guide“ ändern. Das Programm nutzt Sensordaten des Smartphones – zum Beispiel der Kamera und des Beschleunigungssensors – und errechnet daraus sehr präzise den Standort des Nutzers innerhalb eines Gebäudes. Diese Technik kann Menschen mit Sehbehinderung dadurch besonders genau führen, was mit einer herkömmlichen GPS-Navigation bisher nicht möglich war.

Ever Guide ist barrierefrei und eignet sich besonders für Menschen mit Sehbehinderung. Aber auch Menschen mit körperlichen Behinderungen profitieren von dem Programm: Es bietet neben der genauen Wegführung auch eine Funktion, mit der barrierefreie Wege im Inneren eines Gebäudes angezeigt werden können.