Wie die Digitalisierung neue Jobchancen für Menschen mit Behinderung schaffen kann

Frau Große-Coosmann, Herr Rötgers, welche Möglichkeiten bieten digitale Assistenzsysteme für Menschen mit Behinderung am Arbeitsplatz?

Anja Große-Coosmann (GC): Digitale Assistenzsysteme sind für uns deshalb sehr interessant, weil sie Menschen schrittweise durch komplexe Arbeitsabläufe führen können – und zwar ohne, dass ein Mensch der Mitarbeiterin oder dem Mitarbeiter ständig über die Schulter schauen muss. Wer mit einem System wie dem unseren arbeitet, kann zum Beispiel Montagetätigkeiten weitestgehend selbstständig ausführen. Wir haben dazu oberhalb eines Werktisches zwei Beamer angebracht. Sie strahlen jeweils das Bauteil an, das als nächstes verbaut werden muss. Gleichzeitig wird ein kurzes Anleitungsvideo direkt auf den Werktisch projiziert, das Schritt für Schritt durch die Montage führt. Unterhalb des Films erscheint jede Arbeitsanweisung auch noch einmal als Text (siehe Video unten).

Ulrich Rötgers (UR): Das System kann aber noch mehr, denn es führt nicht nur durch die jeweilige Aufgabe, sondern prüft auch mit Hilfe von Sensoren, ob das richtige Bauteil entnommen wurde. Erst dann wird der nächste Arbeitsschritt freigegeben. Das System gewährleistet also auch gleich eine Qualitätssicherung. Außerdem ist es sehr nutzerfreundlich, denn die Anleitungsvideos können beliebig oft angeschaut werden. Dadurch können die Nutzerinnen und Nutzer ihr Arbeitstempo selbst bestimmen und eigenständig arbeiten.

Anja Große-Coosmann führt in diesem Video vor, wie das Assistenzsystem arbeitet.

Warum haben Sie ein eigenes System entwickelt – gab es so etwas auf dem Markt nicht schon?

UR: Es gibt natürlich schon etliche digitale Assistenzsysteme, die für unsere Zwecke allerdings nur sehr bedingt geeignet sind. Für uns wäre es viel zu aufwändig gewesen, ein fertiges System zu kaufen und es umzurüsten. Wir haben uns deshalb an das Fraunhofer-Institut in Lemgo gewandt und gemeinsam ein eigenes entwickelt, das genau auf unsere Anforderungen zugeschnitten ist.

GC: Für uns war vor allem wichtig, dass das System möglichst flexibel ist, weil es durch viele verschiedene Montagearbeiten führen soll. Dafür haben wir einen Baukasten entwickelt, mit dem wir beliebig viele Arbeitsanleitungen und Einzelschritte anlegen können.
Die Einrichtung ist sehr einfach: Wir fotografieren mit dem Smartphone jedes Bauteil und filmen jeden Montageschritt ab. Diese Fotos und Videos lassen sich später mit einem Klick einem bestimmten Arbeitsschritt zuordnen. Dann schreiben wir einen Anleitungstext und bei Bedarf Hinweise zur Arbeitssicherheit dazu – und fertig ist die Programmierung. Wir benötigen also nicht ständig einen IT-Experten, der uns das aufsetzt, sondern können das System in wenigen Stunden für einen neuen Auftrag umrüsten.

Ulrich Rötgers, im Hintergrund ein weißes Plakat mit der teilweise lesbaren Aufschrift "wertkreis".
Ulrich Rötgers und sein Team wollen Ende 2020 mit der Produktion des Werktisch-Systems starten. Foto: LWL

Für welche Branchen ist das System geeignet?

GC: Das ist eigentlich nicht beschränkt, wobei ein Schwerpunkt im Moment noch in der Montage liegt. Grundsätzlich kann das System für fast alle Aufgaben konfiguriert werden, die sich mit einzelnen Arbeitsschritten abbilden lassen. Es lässt sich auch an verschiedenste Arbeitsplätze anpassen, nicht nur an Werktische. Zum Beispiel können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter damit auch lernen, neue Maschinen zu bedienen, und zwar mit Hilfe von Erklärvideos und Arbeitsanweisungen.

Welche Kundinnen und Kunden wollen Sie mit Ihrem digitalen Assistenten ansprechen?

UR: Zunächst einmal investieren wir damit in die Zukunft der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM). Die Arbeitswelt wird sich durch die Digitalisierung schnell und massiv verändern. In der Industrie laufen die meisten einfacheren Produktions- und Arbeitsschritte schon jetzt automatisiert. Im Umkehrschluss werden die von Menschen ausgeführten Aufgaben künftig immer komplexer werden. Bisher sind es aber gerade die relativ einfachen Arbeitsabläufe, die auch unsere Teams in den Werkstätten erledigen – das wird in absehbarer Zukunft nicht mehr gefragt sein. Um mit diesem Wandel Schritt zu halten und auch in Zukunft attraktive Aufträge zu bekommen, müssen wir uns anpassen. Digitale Assistenzsysteme bieten da eine große Chance, denn damit können unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter künftig auch komplexere Arbeitsabläufe ausführen.

Könnte das auch für Unternehmen eine Strategie sein?

GC: Selbstverständlich, denn es gibt ja auch in Unternehmen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt viele Aufgaben, die Menschen mit Behinderung mit digitaler Unterstützung selbstständig ausführen könnten. Langfristig können wir uns vorstellen, das Assistenzsystem auch für externe Kunden zu bauen.
Es soll außerdem den Menschen in Werkstätten den Schritt auf den Ersten Arbeitsmarkt erleichtern. Zum Beispiel könnte ein Unternehmen uns vorab die Aufgaben zeigen, die dort künftig eine neue Mitarbeiterin oder ein neuer Mitarbeiter mit Behinderung übernehmen soll. Mit dem Assistenten könnten wir diese Abläufe schon in der Werkstatt einüben. So ließen sich die Einarbeitungszeiten am neuen Arbeitsplatz deutlich verkürzen.

UR: Übrigens wollen wir ausdrücklich jedes Unternehmen damit ansprechen, nicht nur inklusive Betriebe. Mit unserem System können Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber nämlich etwa auch ungeschultes Personal anleiten und einarbeiten, ohne dass ständig eine Fachkraft dabei sein muss. Und für Menschen mit Migrationshintergrund sind die Anleitungsvideos ein gutes Instrument, wenn sie noch nicht so gut Deutsch sprechen. Damit können sie relativ schnell und ohne Sprachbarrieren neue Aufgaben lernen und übernehmen.
Wir haben übrigens auch schon einige positive Rückmeldungen von Unternehmen bekommen, die regelmäßig neue Aufträge bearbeiten oder die mit dem Fachkräftemangel zu kämpfen haben. Das Projekt könnte wirklich ein spannendes Geschäftsmodell für uns werden.

Anja Große-Coosmann schraubt am Werktisch gerade zwei Teile zusammen.
Anja Große-Coosmann von der wertkreis Gütersloh gGmbH demonstriert, wie das System zum Beispiel Schritt für Schritt durch Montage-Aufgaben führt. Foto: LWL

Wann können Sie die ersten fertigen Systeme liefern?

GC: Wenn alles klappt, bauen wir Ende 2020 die ersten Assistenzsysteme für externe Kunden. Im Moment sind wir aber noch in der Testphase. In den nächsten Monaten werden unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderung den Prototypen noch einmal auf Herz und Nieren testen, damit wir wirklich alle Fehler beseitigen und das System weiter verbessern können.

UR: Einiges haben wir aber sowieso von Anfang an eingeplant. Der Arbeitstisch zum Beispiel ist elektrisch höhenverstellbar und unterfahrbar, so dass Menschen mit Rollstuhl gut daran arbeiten können. Die Anleitungsvideos lassen sich problemlos auch in Gebärdensprache und in Leichter Sprache einspielen, für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit geistigen Behinderungen können die Anleitungen auch ausschließlich in Bildern hinterlegt werden. Wir wollen aber ein wirklich rundum durchdachtes System ausliefern, deshalb nehmen wir uns auch die Zeit dafür. An der Vermarktung arbeiten wir parallel trotzdem weiter.
Nächstes Jahr stehen schon vier Info-Veranstaltungen in unserem Kalender, auf denen wir unser System vorstellen, uns vernetzen und mit Interessenten ins Gespräch kommen wollen – und wenn sich dann nichts mehr verschiebt, geht es Ende des Jahres los mit der Produktion.





Digitale Lösungen für inklusive Bildung im Beruf gesucht!

Facebook, youtube & Co sind nur ein kleiner Teil der vielen digitalen Medien, die in unserem gesellschaftlichen Zusammenleben eine immer größere Rolle spielen – mit positiven, negativen und auch noch nicht abzusehenden Auswirkungen. Für die positiven Effekte im Zusammenhang mit dem Thema Inklusion und Bildung interessiert sich aktuell das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ganz besonders. Mitte Februar 2017 hat es extra dazu ein neues Förderprogramm gestartet: „Inklusion durch digitale Medien in der beruflichen Bildung“. Bildungsträger wie zum Beispiel Hochschulen, aber auch Verbände und Unternehmen können daran teilnehmen und Ihre Ideen für besonders inklusive IT-Konzepte einreichen – Projekte und Entwicklungen etwa, die Lern- und Arbeitsprozesse vereinfachen, die berufliche Bildung fördern oder bestehende Strukturen in Betrieben und Organisationen verbessern oder vernetzen helfen. Besonders vielversprechende Ideen fördert das Ministerium bis zu drei Jahre lang.

…und wie geht das genau? Bewerbungsverfahren und Fristen

Wer sich mit seiner Idee bewerben möchte, kann das entweder bis zum 31. März oder bis 15. Juli 2017 tun. Die Projektskizze muss beim Projektträger, dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR) eingereicht werden. Das Zentrum übernimmt die erste von zwei Bewerbungsstufen und bewertet die digital und schriftlich eingereichten Ideen.
Wenn die Projektskizze positiv beurteilt wird, muss der Urheber anschließend einen förmlichen Förderantrag beim BMBF stellen – das ist die zweite und letzte Stufe des Verfahrens.




Fehlerquote: Null Prozent

Büroklammern, Heftklammern und gelbe Klebezettel. Diese drei unscheinbaren kleinen Helferlein für das Ordnen von Unterlagen sind in den meisten Büros rund um den Globus wie selbstverständlich zuhause und im Einsatz. Taucht aber auch nur eines dieser drei Dinge vor Rafa Lawahs Augen auf, gibt es gleich etwas zu tun – nicht nur für die 25-jährige Bocholterin mit dem Lockenkopf, sondern auch für ihre Kollegen in der DMS Abteilung. Rafa Lawahs Aufgabe ist es, für Unternehmen und Behörden Akten einzuscannen. Scanner mögen aber keine Büro- und Heftklammern, wie sie zuhauf in solchen Unterlagen vorhanden sind.

Berge von Zeichnungen, alte Rechnungen, Bestellungen, Angebote, Auftragsbestätigungen und so ungefähr alles andere, was auf Papier gedruckt werden kann, bewahrt Rafa Lawah so mit Maschinenhilfe und viel Geduld davor, in Vergessenheit zu geraten. Durch das Einscannen werden die Inhalte maschinenlesbar und digital verfügbar – wie demnächst auch die Bauakten der Stadt Bocholt.

Hinter der Abkürzung „DMS“ verbirgt sich der Begriff „Dokumenten-Management-System“. Die Integrationsabteilung der Personal- und Service-Agentur Bocholt Borken, die vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe unterstützt wird, beschäftigt elf Menschen mit Behinderung. Eine von ihnen ist Rafa Lawah, sie kann nicht laufen. „Das war schon immer so“, erzählt die gelernte Bürogehilfin. „Ich kenne es nicht anders.“ Sie lacht und zieht fast entschuldigend die Schultern hoch. „Ich bin mit dem Rolli aufgewachsen. Man geht damit um, für mich ist das normal.“

Ein eingespieltes Team

Zusammen mit ihren zehn Kollegen zerlegt sie in ihrem täglichen Job die vorliegenden Akten zuerst in ihre Einzelteile, Seite für Seite, säuberlich sortiert. Rafa Lawah erledigt das an gleich zwei Arbeitsplätzen: Einer bei der DMS im Gewerbegebiet, einer im Bocholter Rathaus. Dort sichtet sie mit vier anderen die Akten des städtischen Bauamts und bereitet sie zum Scannen vor. „Mein Job macht mir viel Spaß,“ sagt sie.

Auch mit ihrem Abteilungsleiter Dirk Fitscher ist Rafa Lawah gut eingespielt, der in der DMS-Abteilung die Arbeit des Teams am Ende noch einmal prüft. Seite für Seite schauen Rafa Lawah und die anderen DMS’ler die Scans an und vergleichen sie mit dem Original. Wenn alles richtig eingelesen ist, bauen sie die Akte wieder zusammen und kleben auch die Post-its genau dorthin zurück, wo sie vor dem Scan pappten. Die nun digitalisierten Inhalte werden auf eine CD, DVD oder Blu-ray gebrannt und gehen zusammen mit der Original-Akte an den Auftraggeber zurück. Abläufe, die einwandfrei funktionieren: „Die Fehlerquote liegt bei null Prozent“, sagt Dirk Fitscher.

Rafa Lawah sortiert an ihrem Schreibtisch Unterlagen
Seite für Seite werden Akten und Unterlagen von der gelernten Bürogehilfin Rafa Lawah fürs Scannen vorbereitet. Foto: LWL/Arendt

Fünf Tage die Woche arbeitet die Bocholterin insgesamt, mit Pausen sind es unter dem Strich knapp fünfeinhalb Stunden pro Tag. Mehr schafft sie wegen ihrer Behinderung nicht, erzählt sie. Sie freut sich sehr über ihre Arbeit. Erst recht, weil es nicht einfach war, mit ihrer Behinderung einen passenden Job zu finden. Im ersten Jahr nach dem Ende ihrer dreijährigen Lehre im Berufsbildungswerk im westmünsterländischen Maria Veen hat sie das besonders deutlich gemerkt. Damals war sie offiziell „arbeitssuchend“ gemeldet, wohnte bei den Eltern, fand aber lange einfach keine Stelle. Sie wusste nicht, wie es in ihrem Leben weitergehen sollte. Bis der Bocholter Integrationsfachdienst anrief und fragte, „ob ich Interesse hätte, bei der EWIBO GmbH anzufangen.“ Natürlich hatte sie das, sofort.

Auch, wenn sie sich in die Welt der Scanner erst noch einarbeiten musste. Alles begann mit einem Praktikum, damit sie langsam in den Job finden konnte. Danach wurde sie fest übernommen und hat heute sogar einen Schlüssel für den von der Außenwelt hermetisch abgeschotteten Bereich der Datenverarbeitung.

Selbstständiges Leben in der eigenen Wohnung

„Ich kenne mich mit Bürotätigkeiten ziemlich gut aus“, sagt sie heute selbstbewusst. Das zeigen auch die drei Jahre Arbeitserfahrung deutlich, die sie inzwischen hat. „Ich habe jetzt endlich einen festen Job“, sagt Rafa Lawah. Und der ist sehr kostbar für sie: „Ich kann jeden Morgen aufstehen und was Sinnvolles machen.“

Die 25-Jährige führt heute ein selbstständiges, ihr eigenes, Leben. Sie fährt auch selbst mit dem Auto zur Arbeit. Jeden Dienstag trainiert sie ihr Englisch an der Volkshochschule, „Level three“. Was der Job bei DMS ebenfalls möglich gemacht hat: Sie kann endlich allein leben, in einer auf ihre Behinderung zugeschnittenen Wohnung. Eine Rampe vor der Tür und genug Platz in den Zimmern zum Rangieren mit dem Rollstuhl machen ihr Zuhause barrierefrei. Nur einmal in der Woche kommt eine Helferin für drei Stunden vorbei. „Den Rest mache ich selbst“, sagt sie.