Bundesteilhabegesetz 2018: Die zehn wichtigsten Änderungen im Arbeitsleben

Deutschland ist dazu verpflichtet, seine Gesetze an die Regeln der UN-Behindertenrechtskonvention anzupassen. Damit sind einige Anforderungen verbunden, die künftig erfüllt werden müssen – rechtliche und inhaltliche, aber auch sprachliche. Für das Jahr 2018 wurde daher neben anderen Änderungen im Gesetz auch die bisher geltende Definition des Begriffs „Behinderung“ überarbeitet. Das hat im Vorfeld für sehr viel Streit und Protest gesorgt, weil sich viele Menschen mit Behinderung in dieser Definition nicht wiederfinden. Der Text ist sehr wichtig für sie, weil er rechtlich bindend festlegt, ab wann ein Mensch laut Gesetz eine Behinderung hat. Die Definition hat also große Auswirkungen für sehr viele Menschen und ist richtungsweisend dafür, ob und in welchem Umfang jemand Anspruch auf Leistungen vom Staat hat.

Ab 2018 sollen Menschen mit Schwerbehinderungen besser davor geschützt sein, wegen ihres Handicaps gekündigt zu werden. Wenn der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis beendet, ohne vorher die Schwerbehindertenvertretung einzubeziehen, ist die Kündigung unwirksam. Der Arbeitgeber muss dann mit einem Kündigungsschutzverfahren und arbeitsrechtlichen Strafen rechnen. Die Schwerbehindertenvertretung kann in solchen Fällen künftig auch vor das Arbeitsgericht ziehen. Dort kann sie fordern, dass die Entscheidung ausgesetzt wird, bis der Arbeitgeber sein Versäumnis nachgeholt hat. Widersetzt sich der Arbeitgeber, können Strafen von bis zu 250.000 Euro anfallen.

Vertrauenspersonen sind die Schwerbehindertenvertretungen eines Betriebes. Sie beraten und unterstützen ihre Kolleginnen und Kollegen mit Behinderung ehrenamtlich. Damit sind sie Interessenvertreter, zugleich aber auch Beschäftigte des Betriebes, die ihre Arbeit wie jeder andere verrichten müssen. Dadurch entsteht für sie eine Doppelbelastung, die in den vergangenen Jahren immer größer geworden ist. Vertrauenspersonen haben deshalb einen gesetzlichen Anspruch darauf, sich vorübergehend von ihrer Arbeit freistellen zu lassen. Der Gesetzgeber entlastet sie zum Jahr 2018 noch weiter, indem er den betrieblichen  Schwellenwert von 200 auf 100 senkt. Das heißt: Wenn in einer Organisation, einem Betrieb oder Unternehmen mindestens 100 Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigt sind, dürfen sich die Vertrauensperson auf Wunsch nur noch auf ihre Beratungstätigkeit konzentrieren.

Übrigens: Auch Vertrauenspersonen in kleineren Betrieben können sich freistellen lassen, allerdings nur in einem kleineren Umfang und soweit es für ihr Amt in der Interessenvertretung wirklich erforderlich ist. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Inklusionsämter empfiehlt deshalb, dass Vertrauenspersonen ihre Arbeit transparent machen und dem Arbeitgeber so deutlich wie möglich zeigen sollten, was sie alles zum Wohl der Beschäftigten und somit für den gesamten Betrieb tun.

Schon seit 2016 regelt das Bundesteilhabegesetz, dass ein Schwerbehindertenvertreter bestimmte Aufgaben an einen Stellvertreter abtreten darf – sofern im Unternehmen mehr als 100 Menschen mit Schwerbehinderung arbeiten. Bei mehr als 200 Menschen mit Handicap im Betrieb darf die Vertrauensperson sich von einem weiteren Stellvertreter unterstützen lassen. Ab 2018 gilt neuerdings: Jedes Mal, wenn im Betrieb die Marke von weiteren 100 Mitarbeitern mit Behinderung erreicht ist, darf die Vertrauensperson einen zusätzlichen Stellvertreter benennen. Die ehrenamtliche Arbeit soll so auf mehrere Personen verteilt und die Menschen im Betrieb besser unterstützt und beraten werden.

Bisher war es für die Stellvertreter einer Vertrauensperson nur unter sehr engen Bedingungen möglich, sich für ihre Amtsaufgaben aus- und weiterbilden zu lassen. Dafür mussten sie zum Beispiel schon besonders oft oder ständig herangezogen worden sein beziehungsweise die Vertrauensperson schon häufig vollständig vertreten haben. Hintergrund war, dass für den Gesetzgeber bisher erst dann ein ausreichender Anlass für Weiterbildungen gegeben war. Er ging nämlich davon aus, dass wegen des häufigen Einspringens zu erwarten war, dass er Stellvertreter bald ins Hauptamt aufrücken würde. Diese Regelung passt aber längst nicht mehr zu den Anforderungen an die Stellvertreter, die sie auch dann schon erfüllen müssen, wenn sie nicht in absehbarer Zeit die Vertrauensperson ersetzen. Der Gesetzgeber geht ab 2018 davon aus, dass die Schwerbehindertenvertretung in einem Betrieb jederzeit ausfallen kann, denn in der Regel besteht diese nur aus einem gut ausgebildeten Mitarbeiter: der Vertrauensperson selbst. Ab dem neuen Jahr dürfen deshalb auch alle Stellvertreter entsprechende Weiterbildungen besuchen.

Noch mehr Entlastung für die Vertrauenspersonen: Ab 2018 steht den Schwerbehindertenvertretungen in Betrieben eine Bürokraft zu, die sie bei ihren täglichen Aufgaben unterstützen und entlasten soll. Die Kosten dafür trägt der Arbeitgeber.

Wenn ein Betrieb nicht mehr in seiner ursprünglichen Form weiterbestehen kann, endet damit normalerweise auch die Amtszeit des Betriebsrates und der Schwerbehindertenvertretungen. Das bedeutet aber, dass gerade in einer schwierigen Zeit für die Arbeitnehmer eine „Lücke“ entsteht. Für Betriebsräte gilt in diesen Situationen schon lange ein so genanntes „Übergangmandat“: Sie behalten auch in der Phase, in der ein Betrieb neu organisiert und strukturiert wird, ihre Mitbestimmungsrechte und dürfen Neuwahlen einleiten. Dieses Mandat endet erst dann, wenn die Umstrukturierungen abgeschlossen sind, in den neu entstandenen Betrieben ein neuer Betriebsrat gewählt wurde und das Wahlergebnis bekannt gegeben ist – spätestens jedoch nach sechs Monaten. Durch einen Tarifvertrag oder eine Betriebsvereinbarung kann das Übergangsmandat auf bis zu insgesamt ein Jahr verlängert werden. Ab 2018 gelten diese Regelungen und Rechte nun auch für die Schwerbehindertenvertretungen. Nur der öffentliche Dienst ist davon aufgrund anderer Bestimmungen ausgenommen, hier gelten weiterhin die so genannten Personalvertretungsgesetze.

In größeren Unternehmen und Organisationen gibt es nicht nur eine, sondern mehrere Vertrauenspersonen, die auf mehreren Ebenen eingesetzt werden. Zum Beispiel gibt es eine eigene Schwerbehindertenvertretung für die Konzern-Zentrale, eine andere für Unternehmenstöchter und wieder weitere für die einzelne Bezirke, in denen die Unternehmen tätig sind. Für die Vertretungen ist es da gar nicht so einfach, den Überblick zu behalten. Ab dem Jahr 2018 vereinfacht der Gesetzgeber deshalb das Verfahren, mit dem die Wahlen dieser vielen Schwerbehindertenvertretungen organisiert werden dürfen.

Arbeitgeber sind schon seit dem Jahr 2016 dazu verpflichtet, frei gewordene Stellen in ihrem Betrieb an die Bundesagentur für Arbeit zu melden. Diese schaut dann, ob es einen arbeitsuchenden Menschen mit Behinderung gibt, der für die Stelle in Frage kommen könnte. Ab 2018 wird diese Regelung abgeändert, weil öffentliche Einrichtungen bestimmte haushaltsrechtliche Vorschriften erfüllen müssen. Eine Stadtverwaltung zum Beispiel ist dazu verpflichtet, zuerst nach internen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu schauen, bevor sie den Arbeitsplatz neu ausschreibt. Wenn es in der Verwaltung niemanden gibt, der passt, müssen auch öffentliche Arbeitgeber die freie Stelle umgehend an die Bundesagentur für Arbeit melden.

Die Arbeitgeber sind schon seit Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes 2016 dazu verpflichtet, die Inklusion in ihren Unternehmen vorantreiben. Der Gesetzgeber legte deshalb fest, dass in jedem Betrieb verantwortliche Vertreter der Geschäftsführung benannt werden müssen, die sich im Unternehmen für die Belange der Beschäftigten mit Schwerbehinderung einsetzen. Idealerweise sollten diese Personen selbst eine Schwerbehinderung haben. Ab 2018 tragen diese Vertreterinnen und Vertreter, passend zu ihrer Funktion, den Titel „Inklusionsbeauftragte“. Was im Gesetz allerdings nach wie vor fehlt, ist eine konkrete Liste der Aufgaben, die sie haben und erledigen sollen.




Ein steiniger Weg an die Uni

Der Aufhänger ist eine beeindruckende aktuelle Zahl: drei Millionen. So viele junge Menschen sind heute an deutschen Hochschulen eingeschrieben. Das ist tatsächlich viel und auch deutlich mehr als früher, deshalb spricht die Politik davon oft, um zu zeigen, dass das Bildungsniveau in Deutschland steigt. Was an dieser Zahl aber nicht deutlich wird: Gleichberechtigt ist der Zugang an die Unis längst nicht für alle jungen Mitglieder der Gesellschaft, deren Leistungen aber gut genug sind, um ein Hochschulstudium absolvieren zu können. Kinder aus finanziell schwächeren Haushalten haben es zum Beispiel besonders schwer, hier Fuß zu fassen. Und wenn dann noch eine Behinderung dazukommt – wie bei Sabrina Vielmayer, die mit einer spinalen Muskelatrophie geboren wurde –, werden die Hürden noch viel komplexer.

Wie die junge Frau es auch nach wiederholten Rückschlägen trotzdem geschafft hat, ihren Bildungsweg bis zur Hochschule zu schaffen, diese abzuschließen und erfolgreich in ihren ersten Job zu starten, könnt ihr in dieser Reportage in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nachlesen – eine Geschichte, die hoffentlich auch vielen anderen jungen Menschen Mut macht, trotz vieler Barrieren ihren Weg zu gehen!




„Inklusion war für mich immer selbstverständlich“

Als diese Disziplin des Behinderten-Leistungssports im Jahr 2013 aufkam, war er sofort Feuer und Flamme, weil er schon seit Kindertagen nicht nur ein Leichtathlet, sondern auch ein begeisterter Ballsportler ist. Was Sport für ihn bedeutet und wie er dieses intensive Hobby mit seinem Beruf vereint, erzählt er uns im Interview.


Frederic, erklär doch gleich zu Beginn kurz den Zungenbrecher: Was ist eine Cerebralparese, die dem CP-Fußball ihren Namen gibt, und inwiefern betrifft sie dich?

„Cerebral“ heißt übersetzt „zum Gehirn gehörende Strukturen“. „Parese“ wiederum ist das Fachwort für „Lähmung“. Frei übersetzt ist eine Cerebralparese also eine „Gehirnlähmung“, die durch eine Schädigung des Gewebes im Gehirn verursacht wird. Bei Menschen mit dieser Behinderung treten dauerhafte Krampfzustände auf, auch Spastiken genannt. Davon können einzelne Körperteile betroffen sein oder aber der gesamte Körper, das ist ganz unterschiedlich. Deshalb gibt es innerhalb des CP-Fußballs auch verschiedene Klassen. Die Klassifizierungen reichen von C5 für Menschen, bei denen beide Beine betroffen sind, bis zu C8 für Menschen mit nur einer sehr geringen Ausprägung der Behinderung. C6 ist in dieser Reihe die Klasse für Menschen mit Spastiken am ganzen Körper, bei C7-Spielern ist nur eine Körperhälfte betroffen – so wie bei mir.

Wie lange spielst du schon in der deutschen CP-Fußball-Nationalmannschaft?

Die Mannschaft wurde im Jahr 2014 gegründet. Kurz danach wurden mehrere Sportvereine angeschrieben und darüber informiert, dass es ein Sichtungstraining für Fußballtalente mit dieser Behinderung geben soll. Daran habe ich teilgenommen und bin prompt in der CP-Fußball-Nationalmannschaft gelandet. Ich war schon als Kind ein begeisterter Ballsportler. Daher war das für mich die perfekte Gelegenheit, nach Jahren in der Leichtathletik etwas Neues auszuprobieren.

Was bedeutet Sport und insbesondere Fußball für dich?

Sport generell hat einen sehr hohen Stellenwert in meinem Leben. Ich kann hier immer wieder etwas Neues versuchen und mich zugleich weiter steigern und verbessern. Am Fußball reizt mich, dass es ein Mannschaftssport ist, in dem man alles zusammen erlebt. Die anderen Spieler und ich feiern zusammen Siege, müssen aber auch Niederlagen einstecken. Dann arbeiten wir gemeinsam daran, Fehler abzustellen.

Was machst Du beruflich? Hat es etwas mit Sport zu tun oder hast du bewusst etwas anderes gewählt?

Ich bin gelernter Veranstaltungskaufmann und bin Teil des Infothek-Teams des LVR-Inklusionsamtes in Münster. Mein Job hat gut geregelte Arbeitszeiten, daher lässt sich das mit dem Sport gut vereinen, zumal wir uns mit der CP-Fußball-Nationalmannschaft nur an ein bis zwei Wochenenden im Monat treffen. Ich trainiere darüber hinaus sowieso in einer Mannschaft, in der ansonsten nur Menschen ohne Behinderung spielen.

Frederic Heinze im Zweikampf beim CP-Fußball.
Foto: Parasport Danmark

Wie erlebst du das Thema Inklusion beim Sport und bei der Arbeit?

Ich habe wie gesagt schon immer in Gruppen und Mannschaften trainiert, in denen vor allem Menschen ohne Behinderung gespielt haben. Inklusion war also immer selbstverständlich für mich. Weder meine Mitspieler noch ich selbst haben uns je Gedanken darüber gemacht, was ich kann und was nicht. Auch im Beruf spielt das keine Rolle. Ich erledige alles alleine, was ich eigenständig machen kann, und bei den anderen Sachen bitte ich einfach meine Kollegen um Hilfe. In beiden Fällen war und ist Inklusion nicht so ein großes Thema – es wird einfach „gemacht“.

Begegnen dir dennoch manchmal Hürden, die mit deiner Behinderung zu tun haben?

An und für sich komme ich ziemlich gut mit meiner Behinderung zurecht, weil ich schon seit meiner Geburt daran gewöhnt bin. Ich kenne kein Leben ohne Behinderung. Dadurch wird man mit der Zeit ganz automatisch erfinderisch, um bestimmte Hürden zu umgehen, die dann doch immer mal wieder auftauchen. Ein Beispiel aus dem Alltag ist Möbel aufbauen oder Bilder aufhängen. Das kann ich nicht alleine, weil meine Feinmotorik so eingeschränkt ist, dass ich nicht mit beiden Händen zugleich koordiniert arbeiten kann. Aber dabei helfen mir dann eben andere. Um diese Hürde ganz überwinden zu können, müsste schon die Behinderung als solche verschwinden.

Was ist dein Traumberuf, und wie sähe dein Alltag in diesem Job aus, wenn du es dir aussuchen könntest?

Ich denke, jeder wünscht sich, sein „Hobby“ zum Beruf machen zu können. Mein Traum wäre, wie bei wahrscheinlich jedem leidenschaftlichen Sportler, eines Tages mit dem Sport meinen Lebensunterhalt verdienen zu können. Aber davon ist der Behindertensport noch ziemlich weit entfernt. Wenn es doch so weit käme, würde ich den Trainingsalltag ganz anders gestalten und auch intensiver trainieren. Und: Wir würden uns mit der CP-Mannschaft viel häufiger nur als nur ein oder zwei Mal im Monat treffen. –




VIER FRAGEN AN… Dennis Winkens

#1: Herr Winkens, was bedeutet Inklusion bei der Arbeit für Sie?

Wenn ein völlig normales und unvoreingenommenes Miteinander von Menschen mit und ohne Handicap stattfindet, ist das für mich gelungene Inklusion. Für mich darf es dabei keine Rolle spielen, ob diese Begegnungen in der Freizeit oder in der Arbeitswelt stattfinden. Zugleich sind die Rahmenbedingungen im Beruf natürlich etwas andere als im Privaten – überspitzt gesagt zählen hier vor allem die Leistung der Mitarbeiter und die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens. Daher finde ich es auch selbstverständlich, dass Arbeitgeber ihre offenen Stellen mit Personen besetzen wollen, die die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten für den Job mitbringen. Das bedeutet aber zugleich eben nicht, dass dieser Jobanwärter ein kerngesunder Fußgänger sein muss. Ich finde einfach, dass hier öfter der Fokus darauf liegen sollte, welche Dinge jemand gut kann und nicht vorwiegend darauf, welche Defizite sie oder er mitbringt. In unserer Gesellschaft gehört Arbeit einfach zum Leben dazu, deshalb sollte auch jeder die Möglichkeit haben, seinen Fähigkeiten entsprechend arbeiten zu können, egal, ob er oder sie nur eine Hand hat, im Rollstuhl sitzt oder sonst ein Handicap hat. Wie genau die jeweiligen Aufgaben dann umgesetzt werden – beispielsweise mit Hilfe von technischen Hilfsmitteln oder einer Arbeitsassistenz –, ist doch eigentlich relativ gleichgültig, solange sie erfüllt werden und den Qualitätsansprüchen des Arbeitgebers entsprechen.

#2: Was bremst Ihrer Meinung nach die Inklusion – bei der Arbeit, aber auch in der Gesellschaft insgesamt?

Einer der größten Fehler, den viele Menschen im Alltag und besonders auch in der Politik machen, ist, dass sie übereinander anstatt miteinander reden. Ich finde, nur wer miteinander redet, kann auch miteinander leben, und das ist doch das Ziel. Wenn also nicht auf Augenhöhe gesprochen wird, ist das Ergebnis fast immer, dass man sich gegenseitig ausgrenzt.

#3: Mit welchen kleinen oder größeren Handlungen könnten einzelne Menschen aus Ihrer Sicht selbst zur Inklusion beitragen?

Wie schon erwähnt fehlt es meiner Meinung nach vor allem an Kommunikation. Die Menschen müssten offener und unvoreingenommener aufeinander zu- und miteinander umgehen. Es ist jedes Mal das gleiche Szenario: Wenn ich als Mensch mit Behinderung auf Personen treffe, die bisher wenig Kontakt zu Menschen mit Handicap hatten, sind sie in der Regel sehr vorsichtig und zurückhaltend, weil sie sehr unsicher sind, wie sie sich verhalten sollen. Keiner will etwas Falsches tun oder sagen. Oft haben sie dann nur flüchtige oder neugierige Blicke für mich übrig und meist macht sich auch noch ein Schweigen breit. Sobald ich sie aber kurz anspreche, scheint die große Berührungsangst, die vorher noch deutlich zu spüren war, auf einmal vergessen zu sein. Die Leute merken durch Kommunikation schnell, dass ich auch nur ein ganz normaler Mensch bin, so wie ihr Nachbar von nebenan.
Ein weiteres Problem der Inklusion ist das Geld. Ich bin der Meinung, dass die Politik noch mehr finanzielle Mittel zur Verfügung stellen oder passende Gesetze erlassen müsste, um beispielsweise Barrierefreiheit oder Assistenzleistungen für Menschen mit Behinderung gezielt zu fördern. Durch diese Maßnahmen könnten Menschen mit Handicap einfach deutlich leichter am gesellschaftlichen Leben teilhaben und wären dort dann auch viel präsenter. Aus meiner Sicht kann sich auf Dauer nur so auch das Bild verändern, das Menschen von der Zusammensetzung einer „normalen“ Gesellschaft im Kopf haben – viele würden also vielleicht nicht mehr so stark in bestimmten Kategorien denken. Vielfalt hat sehr viele Vorzüge, die auf diesem Weg vielleicht öfter erkannt und gelebt werden könnten. Ich zitiere in diesem Zusammenhang sehr gerne Raul Krauthausen: „Etwa jeder zehnte Mensch in Deutschland hat eine Behinderung, aber nicht jeder zehnte davon findet sich auch in unserem Freundes- und Bekanntenkreis wieder. Wo sind diese Leute also?“ Diese Frage zeigt, dass die Durchmischung und Chancengleichheit im Beruf wie im Privaten, die Inklusion ja eigentlich befördern soll, oft noch nicht vorhanden ist. Das heißt, es muss sich etwas ändern, damit Menschen mit Handicap kein Schattendasein mehr führen, wie das bei zu vielen noch der Fall ist. Sie müssen wie alle anderen als Teil der Gesellschaft wahrgenommen werden und darin gut und gleichberechtigt leben können.

#4: Wenn Sie Ihren Traum-Arbeitsplatz frei entwerfen könnten: Wie sähe der aus?

Das kann ich relativ leicht beantworten: Flexible Arbeitszeiten, sympathische Kolleginnen und Kollegen, ebenso freundliche Geschäftspartner, kreative und abwechslungsreiche Tätigkeiten sowie die eine oder andere Dienstreise – gerne auch weltweit – würden für mich dazugehören. Wahrscheinlich würde ich auch mein eigener Chef sein wollen, denn so könnte ich viele dieser Aspekte leichter umsetzen. –




Nicht in die Werkstatt, sondern auf den Arbeitsmarkt

Alles begann mit einem Praktikum bei der katholischen Kirchengemeinde St. Urbanus in Dorsten. Niklas Grewing, der eine inklusive Schule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung besuchte, schaffte von dort aus im Jahr 2014 den Sprung in seinen Traumjob. Heute sorgt der 20-Jährige als Küster dafür, dass bei Gottesdiensten, Beerdigungen, Hochzeiten oder Taufen in der Dorstener Kirche alles rund läuft, erledigt die Garten- und Pflegearbeiten rund um das Gebäude und ist für das Waschen und Bügeln der kirchlichen Gewänder zuständig. Er verdient sein eigenes Geld und will sich bald eine eigene Wohnung und einen KFZ-Führerschein finanzieren.

Damit solche Lebenswege und Freiheiten für möglichst viele Menschen mit Schwerbehinderungen möglich werden, gibt es für Förderschülerinnen und -schüler in Deutschland verschiedene Programme, die von unterschiedlichen Organisationen und Institutionen getragen werden. In Nordrhein-Westfalen ist das beispielsweise das Angebot „Schule trifft Arbeitswelt“, kurz „STAR“, mit dem auch Niklas Grewing gefördert wurde (siehe Infokasten).

Niklas Grewing steht am Altar und zündet eine Kerze an.
Niklas Grewing hat seinen Traumberuf gefunden: Er ist Küster in einer Kirche in Dorsten. Das war auch mit Hilfe des Programms STAR möglich. Foto: LWL

Das erklärte Ziel dieses Programms: Es soll Förderschülerinnen und -schülern den Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt ermöglichen. Bei STAR funktioniert das so: Die Jugendlichen werden bereits drei Jahre vor ihrem Schulabschluss von Experten aus so genannten Integrationsfachdiensten eng begleitet. Die jungen Menschen überlegen und planen dabei gemeinsam mit den Experten, welcher Beruf für sie später in Frage kommt, welche Fähigkeiten sie mitbringen oder noch weiterentwickeln könnten und welche Voraussetzungen der künftige Arbeitsplatz erfüllen müsste. Die Schülerin oder der Schüler kann auch erste Praktika in Betrieben oder bei Organisationen absolvieren, die sie oder er interessant findet, und wird dabei stets eng begleitet und beraten. Auf Wunsch können die Jugendlichen auch weitere Angebote nutzen: Sie können Seminare zur Berufsorientierung besuchen, kommunikative Hilfen in Anspruch nehmen, ein Mobilitätstraining oder ein betriebliches Arbeitstraining (Jobcoaching) machen oder technische Arbeitshilfen beantragen.

Diese Angebote hat auch Niklas Grewing wahrgenommen. Bei der Einarbeitung half zum Beispiel eine Arbeitstrainerin mit, die ihn mit einem Jobcoaching in der ersten Phase unterstützte. Sein Arbeitgeber, die St. Urbanus Kirchengemeinde, bekam darüber hinaus eine Einstellungsprämie und weitere finanzielle Hilfen zur Verfügung gestellt. Heute sind beide sehr zufrieden: Niklas Grewing in seinem Traumberuf, die Kirche mit ihrem hoch engagierten Küster.





„Wir müssen mehr tun als die Konkurrenz, um einen Kunden zu überzeugen“

Selbst in der neuen, 3000 Quadratmeter großen Halle wird es inzwischen manchmal eng. „Wir haben für einen Auftrag sogar vorübergehend eine zusätzliche Halle angemietet“, sagt Andreas Neitzel. „Dort haben wir auch samstags Überstunden gemacht, um alles zu schaffen.“

Der Erfolg des Unternehmens lässt sich aber nicht nur am Auftragsvolumen ablesen, sondern auch an der Art der Aufträge. „Früher haben wir die Fahrzeug-Komponenten bearbeitet und diese dann an unseren Hauptkunden, einen Automobil-Zulieferer, zurückgesandt“, erläutert der Geschäftsführer des Unternehmens. „Inzwischen beliefern wir im Auftrag unseres Kunden direkt einzelne Automobilwerke und übernehmen auch die Dokumentation und Verwaltung unseres Materials.“ Das ist ein großer Vertrauensbeweis – umso mehr, weil Teuto InServ ein Integrationsbetrieb ist. Zwei Drittel der Mitarbeiter haben eine Behinderung. „Gerade in der Automobilindustrie gilt das oft als Makel. Wir müssen mehr tun als die Konkurrenz, um einen Kunden zu überzeugen“, sagt Andreas Neitzel. Für die Mitarbeiter gilt deshalb eine Null-Fehler-Pflicht: Jedes Bauteil muss die Werkshalle exakt so verlassen, wie der Kunde es in Auftrag gegeben hat. Besondere Sorgfalt ist auch beim Verpacken der Fahrzeug-Komponenten gefragt. Gerade ist eine Charge Querlenker für alternative Antriebe fertig geworden, die in den nächsten Tagen nach China verschifft werden soll.

Zwei Mitarbeiter von Teuto InServ an einer Maschine
Rund zwei Drittel der Teuto-InServ-Mitarbeiter haben eine Behinderung. Dafür wurden extra einige Arbeitsplätze barrierefrei umgestaltet. Foto: Thorsten Arendt.

Kornelius Kliewer, einer der Mitarbeiter mit Behinderung, nimmt sorgsam ein Bauteil nach dem anderen aus einer Gitterbox und klebt ein Versandetikett mit einem Barcode auf. So lässt sich später auf der ganzen Welt zurückverfolgen, wann die Teile hergestellt und wie viele verschickt wurden. Anschließend bekommt jeder Querlenker eine Hülle aus Hartplastik. Um die gesamte Charge wird eine Folie gewickelt, eine Kartonage schützt vor Stößen – fertig. Kliewers Arbeitsplatz ist genau auf ihn ausgerichtet und angepasst – deswegen kann er seinen Job gut erledigen. „Ich arbeite schon seit 15 Jahren hier“, sagt er stolz. „Ich war von Anfang an dabei.“ Der 53-Jährige spricht leicht stockend, macht immer wieder längere Pausen zwischen den Wörtern. Bevor er die Stelle bei Teuto InServ bekam, war er lange arbeitslos und ist jetzt umso motivierter bei der Sache. „Das ist bei uns eigentlich die Regel: Wer einmal bei uns ist, der bleibt“, sagt der Geschäftsführer. Auch Nachwuchssorgen kenne sein Betrieb nicht, es gibt immer viele Bewerber. „Wir sind schließlich eine Super-Truppe und bieten ein interessantes Aufgabengebiet.“

Unternehmen entstand aus einer Werkstatt für behinderte Menschen

Teuto InServ entstand 2001 aus einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, von dort nahm die Firma 2001 auch den ersten Auftrag mit: So genannte Seitenaufprallträger – Metallstreben, die schräg in Autotüren angebracht sind und bei einem Zusammenstoß die Insassen schützen sollen – mussten mit Muttern versehen werden. „Diesen Auftrag konnte die Werkstatt aus Platzgründen und auch logistisch nicht leisten“, erklärt Andreas Neitzel. Also schlug der Chef des Werkstatt-Betreibers Werkhaus vor, ein Integrationsunternehmen zu gründen. Genau die richtige Entscheidung, davon ist er überzeugt: „Sonst hätte die Werkstatt einen Kunden verloren.“

Andreas Neitzel steht in einer Halle vor aufgestapelten Rahmen für einen großen Geländewagen
Geschäftsführer Andreas Neitzel hat Teuto InServ mit aufgebaut. Foto: Thorsten Arendt

Der junge Integrationsbetrieb bekam schnell weitere Aufträge, stockte jedes Jahr sein Personal weiter auf. Unter den Angestellten mit Behinderung sind heute sieben gehörlose Mitarbeiter. Anfangs sei die Zusammenarbeit zwischen ihnen und ihren hörenden Kollegen noch etwas schwierig gewesen, blickt Neitzel zurück. Inzwischen klappt das aber reibungslos: Fertigungsleiter Eduard Wiebe hat sich die Gebärdensprache selbst beigebracht und beherrscht sie inzwischen perfekt. Auch einige der anderen Kollegen verstehen sie schon ganz gut.

1400 Schweißpunkte kontrollieren – pro Monat

Für einige Aufgaben, die Teuto InServ für den Automobil-Zulieferer übernimmt, hat sich das fehlende Hörvermögen sogar schon als Vorteil erwiesen. Denn die anderen Sinnesorgane sind umso ausgeprägter, die gehörlosen Mitarbeiter können optische Kontrollen viel sorgfältiger durchführen als ihre hörenden Kollegen. Auch das jüngste Projekt haben Neitzel und Wiebe deshalb an zwei gehörlosen Mitarbeitern übertragen. Am Rahmen eines Pick-up-Geländewagens müssen Schweißpunkte kontrolliert werden – und zwar insgesamt 1400 pro Monat. Jede Woche bekommt Teuto InServ einen fabrikneuen Rahmen, an dem die Angestellten Eugen Sket und Victor Derksen jeweils 350 Punkte bestimmen und anzeichnen. An jedem Punkt schneiden sie ein kleines Stück heraus, das der Zulieferer zur Kontrolle bekommt – taucht ein Fehler auf, wird eine ganze Charge Rahmen zurückgerufen. „Das ist ein sehr aufwändiges Verfahren und dient der Sicherheit der künftigen Fahrer“, sagt Andreas Neitzel. „Wir tragen bei diesem Auftrag also eine Menge Verantwortung.“ 




Hilfe und Schutz für Mädchen mit Behinderung, die Gewalt erfahren

Unser Linktipp zum Wochenende hat ausnahmsweise nichts mit dem Thema Arbeit zu tun. Wir finden aber, dass dieses Projekt unbedingt einen Hinweis verdient, weil es dabei um ein besonders wichtiges Thema geht: Um Gewalt nämlich, und zwar insbesondere um Gewalt gegen Mädchen mit Behinderung. Sie sind leider besonders oft solchen furchtbaren Situationen ausgesetzt und brauchen umso mehr passende, niedrigschwellige Hilfsangebote.

Das Mädchenhaus Bielefeld e. V. hat aktuell genau so ein Beratungsprojekt ins Leben gerufen, das vom Land NRW gefördert wird: Das Portal „Mädchen sicher inklusiv“ wendet sich explizit an Mädchen und junge Frauen mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen, die Gewalt erfahren haben, in einer Krisen- oder Notsituation stecken, sich nicht verstanden oder alleine mit ihren Problemen fühlen oder Hilfe und Schutz vor Gewalt suchen. Dazu stehen im Portal viele Informationen in gut verständlicher Sprache bereit, das Mädchenhaus bietet auf der Seite aber vor allem eine Online-Beratung und eine Telefon-Hotline an. Die Beraterinnen und Berater weisen auch gern den Weg zu einer Kontaktperson in der Nähe, die beraten, unterstützen und natürlich auch vor akuter Gewalt schützen kann.

Die Inhalte und Angebote der Seite sind übrigens nicht nur in der deutschen Alltagssprache aufbereitet, sondern stehen auch in Deutscher Gebärdensprache (DGS), in Leichter Sprache sowie auf Türkisch zur Verfügung.

Wichtig bei all dem: Keines der Mädchen, das dieses Angebot in Anspruch nehmen möchte, braucht seinen Namen oder persönliche Daten anzugeben, wenn es das nicht will. Die Ansprechpersonen im Mädchenhaus sichern außerdem zu, dass niemand von der Kontaktaufnahme erfährt, es gilt also eine Schweigepflicht für die Beraterinnen und Berater. Natürlich wird auch nichts unternommen, was nicht vorher mit dem Mädchen oder der jungen Frau abgesprochen ist, die sich beraten lässt oder Hilfe und Schutz sucht.




„Kuschelkurs geht nicht, wenn man im Wettbewerb bestehen muss“

Sie hat es geschafft: Für Adelheid Hoffbauer steht die Rente an. Nur kann sich im Integrationsunternehmen »Die Brücke« in Bad Lippspringe niemand ein Arbeiten ohne sie so recht vorstellen. Sie ist nicht nur Selfmade-Unternehmerin, sondern auch die Mitgründerin der Wäscherei in Ostwestfalen. Der Betrieb expandiert und ist voriges Jahr in eine neue Produktionshalle am bisherigen Standort gezogen. Momentan arbeiten hier 33 Menschen, davon 16 mit einer Behinderung. Und es gibt noch ehrgeizigere Pläne: Die Geschäftsleitung strebt eine Verdoppelung der Kapazitäten und der Beschäftigten innerhalb von drei Jahren an. 60 Menschen sollen hier künftig insgesamt arbeiten. Adelheid Hoffbauer will dann allerdings schon in Rente sein. „Definitiv“, sagt sie und nickt ihrer Schwiegertochter Christiane Hoffbauer zu, die neben ihr sitzt. Die junge Diplom-Pädagogin ist für die psychosoziale Betreuung im Unternehmen verantwortlich und wird einmal die Geschäftsführung der Wäscherei übernehmen. Und noch ein weiteres Familienmitglied arbeitet in diesem Betrieb: Adelheid Hoffbauers Tochter, die Ende 1996 zugleich einer der Hauptgründe war, »Die Brücke« überhaupt aus der Taufe zu heben.

Die Gründung war ein großer Schritt

„Meine Tochter hat eine Lernbehinderung. Das Unternehmen sollte ihr und anderen Menschen mit Behinderungen einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz bieten“, sagt Adelheid Hoffbauer. »Die Brücke« gehört damit zu den Vorläufern der heutigen Integrationsunternehmen in Westfalen- Lippe.

Adelheid und Christiane Hoffbauer in der Wäscherei
Generationswechsel in der Familie: Adelheid Hoffbauer (li.) mit ihrer Schwiegertochter Christiane Hoffbauer. Foto: Thorsten Arendt

Selbst einen Betrieb zu gründen war für die Unternehmerin ein großer Schritt  aber ein nötiger, wie sie sich erinnert. Ihre Tochter hatte über drei Jahre lang einen Hauswirtschafts-Lehrgang für Jugendliche mit schweren Lernbehinderungen beim Kolping-Berufsförderungszentrum in Paderborn besucht. Das Pilotprojekt nach der Förderschule qualifizierte damals zwölf Menschen für den allgemeinen Arbeitsmarkt. Nur gab es für sie dort keine Arbeit, stellten die Eltern fest. „Die lernen unheimlich viel im Berufsförderungszentrum, und es macht traurig, wenn dann nach drei Jahren nichts mehr ist.“ Und so kamen die Hoffbauers auf eine Idee: Sie entschlossen sich, eine Wäscherei aufzumachen. Adelheid Hoffbauers früh verstorbener Mann Dirk war Mehrheitsgesellschafter einer Firma für Leinwände in Kinos, das alte Rohrlager stand seinerzeit leer. Die Familie richtete es her und machte daraus die Keimzelle der heutigen »Brücke«: „Innerhalb eines halben Jahres haben wir das alles hier umgebaut.“ Der Paderborner Kolping-Diözesanverband wurde Teilhaber und zeigte den Hoffbauers den Kontakt zum LWL auf, der das Projekt förderte und unterstützte. „Das war Pionierarbeit“, sagt Adelheid Hoffbauer und erinnert sich, wie sie sich vor 18 Jahren mit dem LWL, dem Arbeitsamt und dem Kolpingbildungswerk an einen Tisch setzte. „Ich hatte furchtbare Angst davor, dass der Betrieb scheitert. Wir sind ein großes Risiko eingegangen.“ Sie wäre damals auch nicht allein auf die Idee gekommen, sagt sie. Aber ihr Mann machte ihr Mut. Nach seinem Tod übernahm die gelernte Grund- und Hauptschullehrerin das Zepter. „Heute würde ich mir das auch allein zutrauen“, sagt sie. Die meiste Unterstützung kam vom LWL. „Und alle, die heute vom Landschaftsverband aus involviert sind, waren damals auch schon da“, sagt sie und freut sich über diese Kontinuität in der Betreuung.

Beratung in allen Angelegenheiten

Als kürzlich der Neubau für die Wäscherei anstand, der ebenfalls vom LWL mit gefördert wurde, stellte Adelheid Hoffbauer fest, dass sich die Zeiten geändert haben. Aber zum Positiven: Die betriebswirtschaftliche Beratung der Handwerkskammer Münster zum Beispiel gab es damals noch nicht, alle Aufgaben in diesem Bereich erledigte die Finanzbuchhaltung ihres Mannes. „Wir schauten bei Neuanstellungen schon immer genau darauf: Was kannst du?“, blickt Adelheid Hoffbauer zurück. „Bei uns kommt es aber eben überhaupt nicht darauf an, was man alles nicht kann.“ Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden gemäß ihrer Kompetenzen eingesetzt. „Das mussten wir erst lernen, ebenso wie das betriebswirtschaftliche Denken.“ Denn, so sagt die heute erfahrene Chefin: „Kuschelkurs geht nicht, wenn man im Wettbewerb bestehen muss.“ Christiane Hoffbauer ergänzt aber auch: „Die Arbeit muss machbar sein und die Menschen müssen das Gefühl haben, dass sie ihren Lebensunterhalt hier selbstständig verdienen können.“

Christiane Hoffbauer bedient eine große Waschmaschine in der Wäscherei Die Brücke
Christiane Hoffbauer bedient die großen Waschmaschinen. Foto: Thorsten Arendt

»Die Brücke« bietet heute moderne und helle Arbeitsplätze – hauptsächlich für Frauen. Derzeit arbeiten nur zwei Männer in der Wäscherei, auch wenn der Betrieb ursprünglich mit vier jungen Männern startete. „Denen war das hier zu sauber“, sagt Adelheid Hoffbauer und lacht laut zusammen mit ihrer Schwiegertochter. „Wir hätten aber gerne noch einen Wäscher zum Befüllen der Maschinen. Das ist für Frauen sehr anstrengend.“ Der Anspruch an die Qualität und Ordnung ist hoch – das geht bis in die Details. „Kreuz und quer gepackte Frotteetücher? Das akzeptieren unsere Kunden nicht“, sagt Adelheid Hoffbauer und schüttelt den Kopf.

Kunden setzen auf Kontinuität

So, wie fast alle Mitarbeiter der ersten Stunde auch heute noch in der »Brücke« arbeiten, sind auch die Kunden aus den Großraum Paderborn der Wäscherei treu geblieben. Bildungshäuser waren die ersten Kunden, die ihre Wäsche in Bad Lippspringe waschen und bügeln ließen. Heute türmen sich die Pakete und Wannen sortiert in der neuen Regalwand hinter dem Laden, der von 7:30 Uhr bis 18 Uhr geöffnet ist. Hotels, Restaurants und Senioreneinrichtungen gehören ebenso zum Kundenstamm wie private Bad Lippspringer. Auch das Bistum Paderborn vertraut dem »Brücke«-Team: „Wir machen die ganze Domwäsche für das Bistum“, sagt Adelheid Hoffbauer. „Und natürlich wollen alle pünktlich ihre Wäsche haben. Da geht es hier manchmal ganz schön rund.“




Auch mit Behinderung im Wunschberuf arbeiten

Einen Job in einem „normalen“ Betrieb zu finden, ist für viele Menschen mit Behinderung oft alles andere als einfach. Es gibt in vielen Regionen Deutschlands einfach nicht genug Beschäftigungsmöglichkeiten, was allerdings weniger an der fehlenden Qualifikation der Bewerberinnen und Bewerber liegt. Oft scheuen sich die eher die Unternehmen, Menschen mit Behinderung als neue Mitarbeiter in Betracht zu ziehen.

Die Lebenshilfe Bamberg hat vor einiger Zeit eine Initiative gestartet, mit der sie das in der Region im Süden Deutschlands Schritt für Schritt ändern will. Die Idee der „integra MENSCH“-Initiative: lokale Akteure aus Wirtschaft und Politik in und um Bamberg zusammenbringen, auf diese Weise ein Netzwerk knüpfen, aus dem neue berufliche Möglichkeiten für Menschen mit Behinderung entstehen, und regionale Betriebe so gezielt in den Prozess der beruflichen Inklusion einbinden.
Die Initiative kooperiert also mit immer mehr Betrieben und Einrichtungen aus der Region und bringt sie mit Berufseinsteigern zusammen, die eine Behinderung haben. Darüber hinaus stellt sie so genannte „Integrationsbegleiter“, die die betrieblichen Neueinsteiger im Arbeitsalltag unterstützen und begleiten.

Der Prozess beginnt in der Regel mit einem Praktikum, bei dem beide Seiten schauen können, ob sie zueinander passen. Die Job-Anwärterinnen und -Anwärter lernen in dieser Zeit ihre künftigen Arbeitsaufgaben kennen und können sich in ihrem Tempo einleben und entfalten. Wenn das gut klappt und der Betrieb wie auch die Berufseinsteigerin oder der Berufseinsteiger zufrieden sind, können die jeweiligen Betriebe eine Patenschaft für ihre neue Mitarbeiterin oder ihren neuen Mitarbeiter übernehmen. Der Arbeitgeber bleibt trotzdem die Initiative integra MENSCH. In und um Bamberg sind so schon über 130 Patenschaften entstanden: unter anderem bei der Lebenshilfe selbst, bei verschiedenen Einrichtungen der Stadt Bamberg, im Musikhaus Thomann im nahen Ort Treppendorf, im lokalen REWE-Markt, auf einem Pferdehof in Bischberg, in einer Bamberger Metzgerei und in Metallbau- oder Malerbetrieben direkt am Ort.




„Mit der Gewohnheit fielen alle Schranken“

Bei Knut Schuster war es der Vater, der ihm klarmachte, dass Menschen mit Behinderungen ebenso große Chancen wie nichtbehinderte Menschen haben sollten schon deshalb, weil sein Papa an einer offenen Tuberkulose litt und eine Wirbelsäulenverkrümmung sowie eine dementsprechende Körperhaltung hatte. „Wenn die anderen Kinder mir mal sagten, dass er sich aber komisch bewegen würde, habe ich immer nur geantwortet, dass er genauso ein Vater wie alle anderen ist“, erinnert sich der 41-Jährige, der in Hagen-Hohenlimburg die Geschäfte der Springtec Group, Schrimpf und Schöneberg führt. Deshalb, so sagt er heute, ist es für ihn auch selbstverständlich, dass in seinem Unternehmen, das Federn aus Stahldraht und andere Stanz- und Biegeteile für die Auto-, Luftfahrt-, Elektrotechnik- und Sanitärindustrie herstellt, Menschen mit Behinderung arbeiten. Sascha Thiele ist einer dieser 16 Mitarbeiter, die in der Integrationsabteilung des Unternehmens einen festen Arbeitsplatz gefunden haben.

In der Halle, in der der 32-Jährige tätig ist, spucken Dutzende Maschinen im Sekundentakt Federn aus, dreifach, fünffach, zehnfach gedreht, abgewinkelt, gestanzt, zwischen einigen Millimetern und mehreren Zentimetern groß. Thiele stellt sie mit geübtem Griff in ausgebohrte Löcher eines runden Stahltellers, der sich unaufhörlich dreht. In der Maschine fährt ein Schleifteller über die Federn und nivelliert sie, so dass sie an beiden Seiten eben werden. Penibel achtet er darauf, dass alle Löcher besetzt sind und die Federn gerade stehen.

Murat Demir und Sascha Thiele in der Werkstatt der Springtec Group
Murat Demir (li.) erklärt Sascha Thiele einen Arbeitsschritt. Foto: Thorsten Arendt

Sascha Thiele besuchte zuvor die Sonderschule und wechselte danach in das Integrationsunternehmen „Pro Integration“, das ebenfalls in Hagen-Hohenlimburg angesiedelt ist. Dort absolvierte er eine Ausbildung zum Gärtner, wechselte danach allerdings mehrfach den Arbeitgeber: „Das hat oft nicht gepasst“, sagt Thiele, der „langsamer lernt als andere“, wie er selbst sagt. Er scheint lange für jede Antwort überlegen zu müssen und wirkt etwas schüchtern. Bei Springtec gilt Sascha Thiele aber als „zuverlässig und sehr akkurat“. Einen Führerschein hat er auch, den hatte er schon im ersten Job gemacht. Heute ist er gut ins Unternehmen integriert, „und zwar komplett“, wie Knut Schuster stolz erzählt. Die Männer und Frauen mit psychischen oder körperlichen Behinderungen, die hier arbeiten, sind ein selbstverständlicher Teil der 70-köpfigen Belegschaft am Standort geworden. „Am Anfang haben sich die Kollegen zwar erst einmal gegenseitig beäugt“, erinnert sich Schuster an die Gründung der Integrationsabteilung im Jahr 2009 zurück, die vom LWL-Inklusionsamt Arbeit und durch das NRW-Landesprogramm „Integration unternehmen!“ investiv gefördert wurde. „Mit der Gewohnheit fielen dann aber alle Schranken“, erzählt er. „Heute haben sich Fahrgemeinschaften gebildet, ein Mitarbeiter mit Lkw-Führerschein hilft einem behinderten Kollegen beim Umzug und die Mitarbeiter mit und ohne Behinderung verbringen die Mittagspause gemeinsam.“

Ein gelungener Start

Den Kontakt zu Springtec stellte eine Betreuerin für Sascha Thiele her, die ihn schon während seiner Lehre begleitet hatte. „Sie hat mir von der Arbeit hier erzählt und ist mit mir zum Vorstellungsgespräch gegangen“, sagt der 32-Jährige und nickt bekräftigend. Ja, er ist auch heute noch immer zufrieden bei Springtec. „Der Job hier gefällt mir gut“, sagt er, mehr Geld verdiene er auch und er fühle sich sehr wohl im Team und mit seinen Chefs. Ein gelungener Start ins Berufsleben und in die Firma der aber auch viel Arbeit bedeutete, das macht Knut Schuster ebenfalls klar. Für die 16 Kollegen mit Behinderung ist in der Verwaltung unter anderem Monika Gloerfeld zuständig. Sie kennt das Team sehr gut und weiß, worauf sie achten muss. „Manchen tut es zum Beispiel sehr gut, wenn ich sie alle paar Tage anspreche und nach ihrem Wohlbefinden frage“, berichtet die ausgebildete Industriekauffrau. „Ich bin daher öfter als für die Verwaltung sonst üblich in der Produktion unterwegs und unterhalte mich mit den Kollegen. So schaffen wir eine angenehme Atmosphäre.“ Auch Sascha Thiele führt die 59-Jährige gerne als gutes Beispiel an: „Da zeigt sich, wie viel es ausmacht, wenn ein Mitarbeiter an der richtigen Stelle eingesetzt wird und ihm seine Arbeit zusagt.“ Monika Gloerfeld freut sich ebenfalls, wenn Arbeit und Mensch gut zueinander passen. „Bei unseren behinderten Teamkollegen ist der Krankenstand zwar leicht höher als bei den nichtbehinderten, weil viele Kollegen nun mal eine angeschlagene Gesundheit haben“, sagt sie. „Das ist für uns aber alles völlig im Rahmen.“

Sascha Thiele selbst hat in zwei Jahren kein einziges Mal bei der Arbeit gefehlt. Allen Kollegen mit Behinderung bedeute ihr Job sehr viel, ergänzt sein Chef. „Wenn die Leute erst einmal bei uns anfangen, dann bleiben sie auch“, sagt Knut Schuster, der potentielle neue Mitarbeiter ein drei- bis vierwöchiges Praktikum in seiner Firma absolvieren lässt, bevor sie fest eingestellt werden. „Beide Seiten müssen erst einmal sehen, ob sie zueinander passen. Wir sind ein Wirtschaftsunternehmen, das im harten Wettbewerb steht. Da können wir es uns nicht erlauben, dass unsere Mitarbeiter ständig wechseln.“
Die Entscheidung für die Integrationsabteilung bei Springtec sei auch aus unternehmerischen Gründen gefallen: „Die Alternative wären Arbeitsplätze im Ausland gewesen, die aber wohl nicht die Qualität hervorgebracht hätten, die wir benötigen.“ Dass sie eine Integrationsabteilung gegründet haben, bereuen Schuster und sein Mitgeschäftsführer Jürgen Hammermeister nicht. Ein Grund für das Gelingen ist auch, dass das Unternehmen seit mehr als 15 Jahren mit den Iserlohner Werkstätten für Menschen mit Behinderung zusammenarbeitet. Im Jahr 2003 richtete die Springtec-Group dann in den eigenen Hallen Außenarbeitsplätze der Werkstatt ein, aus denen die Integrationsabteilung gewachsen ist auch mit Hilfe des vom LWL bezahlten Integrationsfachdienstes Hagen. Die Inklusion in der Springtec-Group geht sogar noch weiter als das. „Wir lassen unsere Mitarbeiter mit und ohne Behinderung in den Abteilungen an den gleichen Maschinen rotieren“, sagt Schuster. „Auf diese Weise wächst das Team noch besser zusammen.“