„Die Arbeitgeber werden immer optimistischer“

An einem sicheren Arbeitsplatz den Lebensunterhalt selbst zu verdienen, mit einem Job, der den eigenen Fähigkeiten und Interessen entspricht: Das wünschen sich die meisten Menschen. Wer mit einer Behinderung lebt, hat es aber oft viel schwerer, eine Beschäftigung zu finden, die zu den eigenen Fähigkeiten passt. Viele Arbeitgeber:innen scheuen trotz Fachkräftemangel, Menschen mit Behinderung in ihren Betrieben einzustellen – sogar dann, wenn diese hervorragend ausgebildet sind. Warum das in Deutschland so ist, wollte die Aktion Mensch genauer wissen und hat das so genannte Inklusionsbarometer entwickelt.


Frau Marx, die Aktion Mensch gibt seit dem Jahr 2012 zusammen mit dem Handelsblatt Research Institute jährlich ein so genanntes „Inklusionsbarometer Arbeit“ heraus. Was ist das genau, wie funktioniert es und warum haben Sie damit begonnen?

Es gibt eine Vielzahl Faktoren, die verhindern, dass es eine gleichberechtigte Teilhabe für Menschen mit und ohne Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt gibt. Um diese Einflüsse genauer betrachten zu können, haben wir beschlossen, sie erst einmal zusammenzutragen – und deshalb das Inklusionsbarometer entwickelt. Wir haben dafür 500 mittelständische Unternehmen und 802 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderung befragt, wie sie das Klima in ihrer Firma empfinden. Zum Beispiel wollten wir wissen, ob Arbeitgeber Leistungsunterschiede im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung in ihrem Betrieb feststellen, oder ob die Arbeitnehmer passend zu ihren Fähigkeiten und Qualifikationen eingesetzt werden. Die Ergebnisse dieser Umfrage haben wir zusätzlich mit „harten“ Fakten unterfüttert, unter anderem sind hierbei die jüngsten Zahlen aus verschiedenen Quellen eingeflossen, etwa der Bundesagentur für Arbeit. Beispielsweise ist die Dauer der Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderung oder die Beschäftigungsquote wichtig, um die Situation zu analysieren. Das machen wir jedes Jahr seit 2012 aufs Neue.

Das Barometer sagte im Jahr 2015 aus, dass sich die Lage für Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in vielen Bereichen verbessert hat. Wie sieht es im Jahr 2016 aus?

Das Inklusionsbarometer bringt auch dieses Jahr erst einmal gute Nachrichten: In der Arbeitswelt wird Inklusion immer alltäglicher. Der Grund dafür ist vor allem, dass die Unternehmen die Inklusion als solche positiver einschätzen. Sie sind dabei sogar zum ersten Mal optimistischer als die Mitarbeiter mit Behinderung. Trotzdem: Es gibt weiterhin großen Verbesserungsbedarf. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung hat sich nur leicht entspannt.

Das Inklusionsbarometer Arbeit 2016 als Infografik
Das Inklusionsbarometer Arbeit 2016 als Infografik. Illustration: Aktion Mensch

Können Sie das in Zahlen fassen?

Der Gesamtwert des Barometers ist von 101,1 auf 106,7 gestiegen – vereinfacht erklärt bedeutet diese wachsende Zahl eine positive Tendenz. Zugleich ist die Arbeitslosenquote zwar von 13,9 Prozent auf jetzt 13,4 Prozent gesunken, aber sie fällt wesentlich langsamer als die Quote auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt insgesamt, die aktuell bei 6,4 Prozent liegt. Die Schere zwischen Arbeitslosen mit und ohne Behinderung geht also weiter auseinander. Auch die Dauer, die Menschen mit Behinderung im Schnitt arbeitslos sind, ist vergleichsweise lang: Sie suchen mehr als 100 Tage länger als Menschen ohne Behinderung nach einem Job.

Woran liegt es aus Ihrer Sicht, dass nach wie vor vergleichsweise viele Menschen mit Behinderung arbeitslos sind? Was könnte getan werden, um die Situation zu verbessern?

Ganz wichtig ist hier das Thema Barrierefreiheit. Im Moment ist nur die Hälfte der kleinen und mittelständischen Unternehmen barrierefrei – diese Firmen stellen aber in der Summe die meisten Arbeitsplätze. Für eine Verbesserung der Lage wäre es außerdem gut, wenn die Informationen über Förderprogramme transparenter für die Arbeitgeber wären. 96 Prozent der großen Unternehmen kennen die Instrumente und nutzen sie oft auch. Von den kleinen Unternehmen wissen dagegen nur 62 Prozent etwa von der staatlichen Förderung für Mitarbeiter mit Behinderung und nur 53 Prozent nehmen sie auch in Anspruch.

Wer oder was sind Ihrer Meinung nach die größten „Inklusions-Bremsen“ unserer Gesellschaft?

Es ist wichtig, bürokratische Hürden abzubauen, aber auch und vor allem die Hürden in den Köpfen vieler Arbeitgeber. Es ist sehr einfach, bei einem potenziellen neuen Mitarbeiter die Behinderung als Defizit zu sehen, anstatt darauf zu schauen, welche Fähigkeiten er mitbringt. Genau das sollten die Mitarbeiter in Personalabteilungen und Chefs aber tun. Dabei ist es egal, ob ein Mensch eine angeborene Behinderung hat oder diese im Laufe des Berufslebens „erworben“ hat. Themen wie ein betriebliches Eingliederungsmanagement und Gesundheitsförderung werden ja gerade in älter werdenden Belegschaften immer bedeutender.

Gibt es etwas, das Menschen mit Behinderung selbst tun können, um ihre Lage zu verbessern?

Sie müssen sich auf jeden Fall zutrauen, sich auf Stellen des ersten Arbeitsmarktes zu bewerben. Dabei sind unsere Sondersysteme mit den Förderschulen zurzeit noch ein Hemmschuh. Ich habe aber die Hoffnung, dass mit einem zunehmend inklusiven Bildungssystem auch diese Hürde immer häufiger überwunden wird. Wer früh zusammen lernt, findet es ganz automatisch selbstverständlicher, dass man später auch zusammen arbeitet.

Wie müsste für Sie die Unternehmenskultur der Zukunft aussehen, um eine vollständige Inklusion zu erreichen?

Eine solche Unternehmenskultur muss den Menschen und seine Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellen. Zugleich muss Verschiedenheit als Normalität begriffen werden. Arbeitnehmer mit und ohne Behinderung müssen sich auf Augenhöhe begegnen und dürfen keine Berührungsängste miteinander haben. Eine inklusive Unternehmenskultur braucht vor allem diese Art der Begegnung und ein selbstverständlicheres Miteinander. Das muss heute vielfach erst noch gelernt werden. Aus meiner Sicht sind hier insbesondere die Arbeitgeber gefragt, diese Unternehmenskultur vorzuleben und mit anzustoßen.




VIER FRAGEN AN… Laura Gehlhaar

#1: Was müsste Ihrer Meinung nach passieren, damit die Inklusion im Beruf und bei der Arbeit besser wird?

Um ein nachhaltigeres inklusives Arbeitsleben für alle zu schaffen, müssen sich zuerst dringend die schulischen Strukturen ändern. Es muss gesetzlich und finanziell so funktionieren, dass behinderte Kinder wie alle anderen ein Recht auf Bildung haben Bildung, wie sie im regulären Schulsystem vermittelt wird. Erst dadurch werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderung später Berufsausbildungen machen oder ein Studium absolvieren können. Dann steigen die Chancen, überhaupt auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Es gilt also, für alle die gleichen Möglichkeiten und Zugänge zu Bildung und Arbeit zu schaffen.

#2: Was bremst Ihrer Meinung nach die Inklusion – bei der Arbeit, aber auch in der Gesellschaft insgesamt?

Die Politik benutzt meiner Meinung nach zu oft die Ausrede, dass für die Umsetzung der Inklusion zu wenig Geld da sei. Das ist mir etwas zu einfach. Wir leben in einem der wohlhabendsten Länder der Welt, da sollte es also keine finanziellen Ausreden dafür geben, dass verfassungmäßige Rechte der Menschen, die hier leben, nicht eingehalten werden. Aus meiner Sicht ist das alles mehr eine Frage des „Wollens“ auf der politischen Ebene  was sich gerade für mich, als Frau mit einer Behinderung, sehr erniedrigend anfühlt. Ich möchte mein Leben nicht vom guten Willen anderer abhängig machen und nicht auch noch große Dankbarkeit schulden müssen für etwas, was für Menschen ohne Behinderung seit Jahr und Tag eine Selbstverständlichkeit ist. Dabei geht es manchmal um ganz einfache Dinge: Wenn ich gerne Russisch lernen und dafür einen Sprachkurs machen möchte, aber vor dem Schulgebäude eine Stufe ist, die mir den Zugang zu diesem Kurs ohne Hilfe schlichtweg unmöglich macht, dann finde ich, dass mir als Rollstuhlfahrerin eine Rampe zusteht und zwar ohne, dass ich mir diese Barrierefreiheit erst langwierig rechtlich erkämpfen oder erbetteln muss.

#3: Wie könnten aus Ihrer Sicht andere Menschen im Alltag mit kleinen oder größeren Handlungen zur Inklusion beitragen?

Durch Hinsehen und indem sie sich selbst und den eigenen Standpunkt öfter mal reflektieren. Es ist nunmal leider so, dass ich aufgrund meiner Behinderung zu einer Minderheit gehöre, die im Alltag zugleich am allerhäufigsten diskriminiert wird. Ich fühle mich daher nicht nur systematisch von vielem ausgeschlossen, ich bin es auch, und zwar ganz faktisch: Aus Gebäuden, die nicht barrierefrei sind, oder aus dem Arbeitsleben, weil es dort zu wenige Einstiegsmöglichkeiten und tragende Strukturen für Menschen mit Behinderungen gibt. Ich bin aber niemand, der sich mit gesenktem Haupt umdreht und darüber jammert. Ich mache auf meine Art und sehr vehement auf solche Verhältnisse aufmerksam und konfrontiere andere damit, auch wenn das manchmal vor allem für die anderen weh tut. Es muss meiner Meinung nach aber unbedingt so sein, dass vor allem Nichtbehinderten bewusster wird, dass meine Behinderung nicht nur mir alleine gehört, das also nicht allein ,,mein Problem“ ist. Es geht jede und jeden etwas an, die oder der mich aus dem regulären Leben ausschließt, denn damit verursacht mein Umfeld diese Diskriminierung ganz direkt mit. Dann bin ich nicht behindert, sondern ich werde behindert.

#4: Wie sähe Ihr Traum-Arbeitsplatz aus, wenn Sie ihn frei entwerfen dürften?

Ich würde auf jeden Fall erst um 11:00 Uhr anfangen zu arbeiten! (lacht) Nein, im Ernst: Ich bin selbstständig und habe damit sowieso schon die tolle Möglichkeit, mir meine eigenen Rahmenbedingungen zu setzen. Das ist für mich sehr gut. Ich teile mir meine Arbeitszeiten also selbst ein und bestimme auch über mein Pensum, so weit es geht. Und: Manchmal fange ich wirklich nicht vor 11:00 Uhr an. Das kann sich nicht jeder einfach so aussuchen. —




Für die Kunden auf Achse

Mit schnellen Schritten eilt Cira Franke durch die langen Gänge des Edeka Marktes, der etwas außerhalb der Gemeinde Kirchlengern liegt. Direkt hinter ihr läuft Christina Klocke. Sie schiebt einen kleinen Rollwagen, auf dem eine halb gefüllte, gelbe Plastikkiste steht. „Wir brauchen noch Geflügelwurst. Aber nicht die günstige, sondern die hier vorne“, sagt Cira Franke und deutet auf ein Regal.

Die beiden jungen Frauen kaufen nicht für Zuhause ein. Sie bearbeiten die Bestellung eines Kindergartens, der Lebensmittel und Getränke benötigt. Bei den Wasserkisten hilft den beiden Christian Kiehl. „Wenn ich Zeit habe, passt das schon. Die Kästen sind ja schwer“, sagt er und bringt gleich zwei nach draußen. Dort wartet ein Transporter, an dessen Seite »Sie kaufen ein, wir bringen’s heim« steht – und auf den Türen sind die Kolleginnen und Kollegen in Überlebensgröße zu sehen.

Große Entlastung für den Betrieb

Das Trio arbeitet in der im Februar vorigen Jahres gegründeten Inklusionsabteilung von Edeka Wehrmann, das fünf Märkte in Herford, Enger, Spenge, Hiddenhausen und Kirchlengern führt. Die drei Menschen mit Behinderung wickeln alles selbst ab: Vom Kommissionieren des Einkaufs über die Auslieferung – immer zu zweit – an rund 30 Kindergärten und Firmen sowie Privatpersonen bis hin zum Kassieren beim Kunden. „Das klappt hervorragend“, sagt Wilhelm Bischoff, der als Geschäftsführer für Personal, Ausbildung, Finanzen und Controlling zuständig ist. Gemeinsam mit Firmenchef Peter Wehrmann hat er die Zusammenstellung des kleinen Teams vorangetrieben.

Mehrere Faktoren veranlassten das Unternehmen, die Abteilung zu gründen. „Wir hatten vor einigen Jahren erste Gespräche mit dem Integrationsfachdienst Herford, ob es nicht Arbeitsmöglichkeiten bei uns für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Werkstätten für behinderte Menschen in Lübbecke und Herford geben könnte“, erinnert sich Bischoff. Einige der Menschen mit Behinderung hatten einen Führerschein – und der Mitarbeiter des Integrationsfachdienstes traute ihnen auch komplexere Aufgaben zu. „Außerdem wollten wir damals gern unseren Lieferservice ausbauen.“

Zuvor hatten das Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter übernommen. „Weil die Lieferungen immer zu den Zeiten stattfinden, wenn auch im Geschäft viel los ist, passte das oft nicht so gut“, sagt Wilhelm Bischoff. Er ergriff die Chance: Mit den drei Menschen mit Behinderungen hat sich die Engstelle nun aufgelöst.

Geholfen hat Edeka Wehrmann der LWL, der den Transporter mit einem Investitionskostenzuschuss mitfinanziert hat. Ebenso bekommt das Unternehmen laufende Zuschüsse für die drei Kräfte, weil sie aus einer Werkstatt für behinderte Menschen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt wechseln. Und bei der Einarbeitung half der Integrationsfachdienst Herford.

Mehr Service, höhere Umsätze

Das Geschäft mit dem Lieferservice wächst, ebenso wie die Märkte von Peter Wehrmann. „Die Edeka-Zentrale forciert das, indem sie zum Beispiel einen Internet-Shop anbietet, den die einzelnen Franchise-Unternehmen nutzen können“, erklärt Wilhelm Bischoff. So könne der Service für die Kunden steigen und es würden größere Umsätze möglich. Vorstellbar seien für ihn auch weitere Einstellungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderungen. „Wenn wir die richtigen Aufgaben für die Beschäftigten finden, sehe ich da gar kein Problem.“




Barrierefreie Veranstaltungen planen

Die Räumlichkeiten sind gebucht, das Programm steht, die Catering-Firma weiß Bescheid. Das Event kann kommen oder? Noch nicht ganz. Was vielen Veranstaltern oft „durchrutscht“, ist das Thema Barrierefreiheit. Denn ob ein Event wirklich für alle Gäste zugänglich ist, hängt sowohl vom Veranstaltungsort ab als auch vom Programm und von der Kommunikation vor und während des Ereignisses  technisch wie inhaltlich. Diese Aspekte sollten am besten frühzeitig bedacht werden und direkt in die Planungen einfließen.

Was dabei wichtig ist und welche interessanten Möglichkeiten es gibt, Veranstaltungen bewusst barrierefrei zu gestalten, ist das Thema des Portals Ramp-up.me. Die Seite ist als Initiative des Vereins Sozialhelden e. V. entstanden und gibt viele Tipps und Hinweise rund um barrierefreie Planung von Events. Der Wunsch und das Ziel der Initiatoren ist es, eine vielfältigere und buntere Veranstaltungskultur schaffen, in der alle Menschen gleichberechtigt agieren und teilnehmen können und mit ihren Beiträgen gehört werden.




Weit mehr als Rampen und Aufzüge

Barrierefreiheit bedeutet nicht nur den freien Zugang zu Orten und Gebäuden. Genauso ist damit die Teilhabe etwa am Arbeitsleben gemeint, aber auch die Möglichkeit für jeden Menschen, ein eigenständiges Leben zu führen.
Welche verschiedenen Facetten Barrierefreiheit hat, darüber schreibt Christiane Link in ihrem Blog „Stufenlos“. Alltäglichkeiten sind bei ihr genauso Thema wie politische Fragen. Die Bloggerin beschränkt sich aber nicht darauf, Mängel aufzuzählen, sondern versucht stets, konstruktive Lösungswege aufzuzeigen. Christiane Link, die selbst mit Rollstuhl lebt, will damit ihren persönlichen Beitrag zu einer inklusiveren Gesellschaft leisten.




Fehlerquote: Null Prozent

Büroklammern, Heftklammern und gelbe Klebezettel. Diese drei unscheinbaren kleinen Helferlein für das Ordnen von Unterlagen sind in den meisten Büros rund um den Globus wie selbstverständlich zuhause und im Einsatz. Taucht aber auch nur eines dieser drei Dinge vor Rafa Lawahs Augen auf, gibt es gleich etwas zu tun – nicht nur für die 25-jährige Bocholterin mit dem Lockenkopf, sondern auch für ihre Kollegen in der DMS Abteilung. Rafa Lawahs Aufgabe ist es, für Unternehmen und Behörden Akten einzuscannen. Scanner mögen aber keine Büro- und Heftklammern, wie sie zuhauf in solchen Unterlagen vorhanden sind.

Berge von Zeichnungen, alte Rechnungen, Bestellungen, Angebote, Auftragsbestätigungen und so ungefähr alles andere, was auf Papier gedruckt werden kann, bewahrt Rafa Lawah so mit Maschinenhilfe und viel Geduld davor, in Vergessenheit zu geraten. Durch das Einscannen werden die Inhalte maschinenlesbar und digital verfügbar – wie demnächst auch die Bauakten der Stadt Bocholt.

Hinter der Abkürzung „DMS“ verbirgt sich der Begriff „Dokumenten-Management-System“. Die Integrationsabteilung der Personal- und Service-Agentur Bocholt Borken, die vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe unterstützt wird, beschäftigt elf Menschen mit Behinderung. Eine von ihnen ist Rafa Lawah, sie kann nicht laufen. „Das war schon immer so“, erzählt die gelernte Bürogehilfin. „Ich kenne es nicht anders.“ Sie lacht und zieht fast entschuldigend die Schultern hoch. „Ich bin mit dem Rolli aufgewachsen. Man geht damit um, für mich ist das normal.“

Ein eingespieltes Team

Zusammen mit ihren zehn Kollegen zerlegt sie in ihrem täglichen Job die vorliegenden Akten zuerst in ihre Einzelteile, Seite für Seite, säuberlich sortiert. Rafa Lawah erledigt das an gleich zwei Arbeitsplätzen: Einer bei der DMS im Gewerbegebiet, einer im Bocholter Rathaus. Dort sichtet sie mit vier anderen die Akten des städtischen Bauamts und bereitet sie zum Scannen vor. „Mein Job macht mir viel Spaß,“ sagt sie.

Auch mit ihrem Abteilungsleiter Dirk Fitscher ist Rafa Lawah gut eingespielt, der in der DMS-Abteilung die Arbeit des Teams am Ende noch einmal prüft. Seite für Seite schauen Rafa Lawah und die anderen DMS’ler die Scans an und vergleichen sie mit dem Original. Wenn alles richtig eingelesen ist, bauen sie die Akte wieder zusammen und kleben auch die Post-its genau dorthin zurück, wo sie vor dem Scan pappten. Die nun digitalisierten Inhalte werden auf eine CD, DVD oder Blu-ray gebrannt und gehen zusammen mit der Original-Akte an den Auftraggeber zurück. Abläufe, die einwandfrei funktionieren: „Die Fehlerquote liegt bei null Prozent“, sagt Dirk Fitscher.

Rafa Lawah sortiert an ihrem Schreibtisch Unterlagen
Seite für Seite werden Akten und Unterlagen von der gelernten Bürogehilfin Rafa Lawah fürs Scannen vorbereitet. Foto: LWL/Arendt

Fünf Tage die Woche arbeitet die Bocholterin insgesamt, mit Pausen sind es unter dem Strich knapp fünfeinhalb Stunden pro Tag. Mehr schafft sie wegen ihrer Behinderung nicht, erzählt sie. Sie freut sich sehr über ihre Arbeit. Erst recht, weil es nicht einfach war, mit ihrer Behinderung einen passenden Job zu finden. Im ersten Jahr nach dem Ende ihrer dreijährigen Lehre im Berufsbildungswerk im westmünsterländischen Maria Veen hat sie das besonders deutlich gemerkt. Damals war sie offiziell „arbeitssuchend“ gemeldet, wohnte bei den Eltern, fand aber lange einfach keine Stelle. Sie wusste nicht, wie es in ihrem Leben weitergehen sollte. Bis der Bocholter Integrationsfachdienst anrief und fragte, „ob ich Interesse hätte, bei der EWIBO GmbH anzufangen.“ Natürlich hatte sie das, sofort.

Auch, wenn sie sich in die Welt der Scanner erst noch einarbeiten musste. Alles begann mit einem Praktikum, damit sie langsam in den Job finden konnte. Danach wurde sie fest übernommen und hat heute sogar einen Schlüssel für den von der Außenwelt hermetisch abgeschotteten Bereich der Datenverarbeitung.

Selbstständiges Leben in der eigenen Wohnung

„Ich kenne mich mit Bürotätigkeiten ziemlich gut aus“, sagt sie heute selbstbewusst. Das zeigen auch die drei Jahre Arbeitserfahrung deutlich, die sie inzwischen hat. „Ich habe jetzt endlich einen festen Job“, sagt Rafa Lawah. Und der ist sehr kostbar für sie: „Ich kann jeden Morgen aufstehen und was Sinnvolles machen.“

Die 25-Jährige führt heute ein selbstständiges, ihr eigenes, Leben. Sie fährt auch selbst mit dem Auto zur Arbeit. Jeden Dienstag trainiert sie ihr Englisch an der Volkshochschule, „Level three“. Was der Job bei DMS ebenfalls möglich gemacht hat: Sie kann endlich allein leben, in einer auf ihre Behinderung zugeschnittenen Wohnung. Eine Rampe vor der Tür und genug Platz in den Zimmern zum Rangieren mit dem Rollstuhl machen ihr Zuhause barrierefrei. Nur einmal in der Woche kommt eine Helferin für drei Stunden vorbei. „Den Rest mache ich selbst“, sagt sie.




Engagierten Nachwuchs fördern

Deutschland altert: Die Anzahl der über 60-Jährigen steigt stetig, junge Menschen hingegen gibt es vergleichsweise wenige. Diese Entwicklung, der so genannte demografische Wandel, wird für viele Berufe und Branchen früher oder später zum Problem werden. Das gilt auch für die Pflege, auf die immer mehr ältere Menschen angewiesen sind – doch der Nachwuchs für die entsprechenden Berufe fehlt schon heute.

In Hessen soll dem Fachkräftemangel jetzt mit einem neuen Ausbildungsgang entgegengewirkt werden. Das Konzept dahinter ist zugleich ein gutes Beispiel dafür, wie Inklusion im Arbeitsleben umgesetzt werden kann: Das Projekt richtet sich gezielt an Menschen mit Lernbehinderungen, mit Autismus oder auch mit psychischen Erkrankungen, die oft einen zu niedrigen Schulabschluss haben, um einen Pflegeberuf ergreifen zu können. Sie können sich seit diesem Jahr über das Berufsbildungswerk Südhessen zur Fachpraktikerin oder zum Fachpraktiker in Hauswirtschaft mit der Zusatzqualifikation Altenpflegehelferin bzw. -helfer ausbilden lassen – und zwar auch ohne Abitur.




Ein Wegweiser für mehr inklusive Arbeitsplätze

Viele Arbeitgeber scheuen sich davor, Menschen mit Behinderungen in ihren Unternehmen einzustellen die Gründe dafür sind aber oft einfach mangelnde Informationen und fehlende Erfahrungswerte rund um das Thema Inklusion am Arbeitsplatz.

Das will das Institut der deutschen Wirtschaft Köln e. V. gerne ändern und hat einen „Personalkompass Inklusion“ erstellt: Der Ratgeber beantwortet viele Fragen rund um die Organisation, die Finanzierung und die Personalstrategie im Zusammenhang mit der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung.




Service und Qualität müssen stimmen

In der Kantine des Musiktheaters Gelsenkirchen arbeiten elf Menschen, fünf von ihnen haben eine Behinderung. Gemeinsam haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der AWO Service GmbH einen Treffpunkt für die Gäste geschaffen, der immer beliebter wird.


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Von der Werkstatt hinters Lehrerpult

Horst-Alexander Finke unterrichtet angehende Lehrer:innen und Sozialarbeiter:innen im Rahmen des Projektes „Inklusive Bildung“ und bringt ihnen bei, im späteren Beruf das gemeinsame Lernen und Leben von Menschen mit und ohne Behinderung besser zu managen. Ins Leben gerufen wurde das Projekt von der Kieler Stiftung „Drachensee“. Die Süddeutsche Zeitung hat sich das Projekt genauer angeschaut und eine Reportage dazu veröffentlicht.