Integration über Jahrzehnte

Als Sandra und Alexander Schwenk im Jahr 1995 die Wäscherei Kreft im Dortmunder Vorort Kirchhörde von den Vorbesitzern abkauften, wollten sie zunächst nur eine berufliche Existenz für sich selbst aufbauen. „Ich war als Außendienstmitarbeiter für die Firma meines Vaters unterwegs, der die Wäscherei als Kunden hatte“, erinnert sich Alexander Schwenk. „Als der Eigentümer relativ jung verstarb, fragte dessen Frau meinen Vater um Rat. Es gab dort ein besonderes Vertrauensverhältnis.“
Die Firma stand zum Verkauf – und Alexander Schwenk entschied sich nach längerem Überlegen, den Schritt zu wagen. Ehefrau Sandra, die als Arzthelferin einen guten Job hatte, stieg mit ein. Die beiden bauten den Betrieb stetig aus, heute hat sich die Anzahl der gereinigten Wäschestücke versiebenfacht. Zum Angebot zählen die klassische Hemdenwäsche für Privatkunden, aber auch Großaufträge für Unternehmen sowie spezielle Angebote, wie chemische, Teppich- oder Lederreinigung, und ein Änderungs- und Abholservice.

Engagement von Anfang an

Von der Idee eines Integrationsunternehmens waren sie damals noch weit entfernt – und es sollte bis zum Jahr 2010 dauern, bis die Wäscherei Kreft offiziell eine Integrationsabteilung eröffnen würde. Die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen dagegen startete schon fast zu Beginn der Firmenübernahme. „Bei uns hat sich eine gehörlose Frau vorgestellt, deren Lebensgefährte mit Gebärden gedolmetscht hat. Wir waren so begeistert von ihr, dass wir es ausprobieren wollten“, sagt Alexander Schwenk. Der Versuch klappte, die junge Mitarbeiterin zeigte viel Engagement und bewies sich im Betrieb.
Keine alltägliche Erfahrung für die Gründer: „Es war schon damals nicht einfach, überhaupt gute Leute für diese Arbeit zu finden“, sagt Sandra Schwenk. Die Bezahlung in der Branche ist nicht sehr gut, der Alltag ist geprägt durch Schnelligkeit und immer wiederkehrende Tätigkeiten. In vielen Wäschereien arbeiten Frauen in Teilzeit. Das ist in dem eher wohlhabenden Dortmunder Stadtteil, in dem die Wäscherei Kreft ihren Hauptbetrieb hat, eher selten der Fall. „Für Mitarbeiterinnen aus anderen Stadtteilen würde sich die Anfahrt deshalb kaum lohnen.“

Zuverlässige und präzise Arbeit

Die Schwenks setzten schon immer auf Vollzeitstellen – und haben mittlerweile eine ganz besondere Beschäftigtenstruktur. „Wir haben ältere Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderungen in der Belegschaft.“ Eine Gruppe, die auf dem ersten Arbeitsmarkt sonst schwierig zu vermitteln ist. „Bei uns kommt es aber vor allem darauf an, dass die Beschäftigten zuverlässig und präzise arbeiten – und das zeigen unsere Kräfte jeden Tag.“ Eine Mitarbeiterin etwa sortiert gerade im großen Hauptraum die Wäsche eines Privathaushalts nach Farben und Stoffen, um die Waschtemperaturen festzulegen. Eine andere entnimmt mit geübtem Griff die exakt gefalteten und mit Namen bestickten Hemden der Köche eines noblen Restaurants. Eine dritte befestigt mit immer wieder denselben Handbewegungen Oberhemden am Bügelautomaten.
Damit das Unternehmen auch weiterhin betriebswirtschaftlich funktionieren konnte, haben die Schwenks im Jahr 2010 eine Integrationsabteilung gegründet. Das LWL-Inklusionsamt Arbeit finanzierte unter anderem Rollcontainer, einen Trocken- und Bügelautomaten und eine Laderampe. Ohne diese Arbeitserleichterungen wären manche Handgriffe für die Menschen mit Behinderung nicht zu leisten. Darüber hinaus erhält der Betrieb Einstellungsprämien sowie den Minderleistungsausgleich und Zahlungen für den erhöhten Betreuungsaufwand. Der vom LWL finanzierte Integrationsfachdienst half bei der Einarbeitung.

Um vor Überraschungen auf beiden Seiten gefeit zu sein, arbeiten sämtliche neuen Kolleginnen und Kollegen zunächst auf Probe: „Für zwei bis drei Monate“, sagt Sandra Schwenk, „wenn es dann funktioniert, stellen wir sie ein. Zunächst befristet auf ein Jahr, anschließend unbefristet.“ Die Befürchtung, Beschäftigte mit einer Behinderung im schlechtesten Fall nicht kündigen zu können, entkräftet Alexander Schwenk sofort. „Wir haben leider mit unserer ersten Mitarbeiterin mit Behinderung die schlechte Erfahrung gemacht, dass sie im Team nicht zurechtkam“, sagt der Chef. „Die Probleme haben wir sehr ernst genommen, uns auch Beratung vom Integrationsfachdienst geholt – aber am Ende mussten wir ihr kündigen, das Inklusionsamt hat die Zustimmung erteilt. Das war sehr schade, aber für den Betrieb und auch für sie war es das Beste.“

Um die Ecke denken

Um für alle Beteiligten das Optimale herauszuholen, müsse er manchmal auch um die Ecke denken, sagt Alexander Schwenk. Bei seinen Fahrern zum Beispiel: Mit Transportern bringen sie die Wäsche zu größeren Kunden wie der Catering-Firma von Borussia Dortmund. Schnell kommen einige hundert Kilogramm pro Tour zusammen. „Wir haben einen Kollegen, der nicht schwer tragen kann. Ihm gebe ich deshalb einen weiteren Mann mit, der die körperliche Arbeit übernimmt, aber selbst wegen einer Lernbehinderung keinen Führerschein hat.“ Aus zwei Kollegen mit Handicaps wird so ein leistungsstarker Mitarbeiter. „Das funktioniert aber nur, wenn beide Arbeitsplätze bezuschusst werden“, sagt Schwenk. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Zwei Menschen hätten ohne diese Idee wenig Chancen auf einen versicherungspflichtigen Arbeitsplatz. Bei der Wäscherei Kreft haben beide eine Stelle bekommen.




Der gute Geschmack

Schon an der Eingangstür der Firma Werner & Co. Gewürze strömt den Besuchern der Duft von Kardamom entgegen, dazu mischt sich Pfefferstaub, der in der Nase kitzelt. „Wir selbst riechen das kaum noch“, sagt Helmut Schulte, Inhaber und Geschäftsführer des Gelsenkirchener Traditionsunternehmens. Kein Wunder: Bis zu 30 Tonnen der verschiedensten Gewürze setzen die 30 Mitarbeiter jeden Tag um.

Sebastian Vollrath, der heute für die Mühle eingeteilt ist, hebt einen Sack auf die Schulter und kippt weiße Pfefferkörner in einen Trichter. Der 33-Jährige arbeitet zügig und geschickt; dass ihm an beiden Händen jeweils vier Finger fehlen, fällt erst auf den zweiten Blick auf. Seit seiner Geburt hat Vollrath nur seine beiden Daumen. Dank lebenslanger Übung kann er mit ihnen und dem Rest seiner Hände aber ebenso viel leisten wie die Kollegen.

Werner & Co. Gewürze hat seit 2010 eine Integrationsabteilung: Zehn der 30 Mitarbeiter haben eine Behinderung. Sebastian Vollrath ist froh, hier eine Chance bekommen zu haben. Vor gut anderthalb Jahren bewarb er sich initiativ. „Ich bin kein Typ für einen Bürojob, ich brauche immer Bewegung“, sagt der Essener.

Sebastian Vollrath füllt an einer Maschine Pfefferkörner in große weiße Tüten ab
Viele Chefs trauten Sebastian Vollrath körperliche Arbeit nicht zu. Foto: Thorsten Arendt

Eine pragmatische Entscheidung führt zum Erfolg

Seine Ausbildung zum Kaufmann für Bürokommunikation hat er nicht abgeschlossen, stattdessen Umschulungen zum Fliesenleger, Maurer und Lageristen absolviert und als Bauhelfer gejobbt. Auf eine Festanstellung hoffte er aber lange vergeblich. „Die Chefs haben mir körperliche Arbeit einfach nicht zugetraut“, sagt er. Helmut Schulte dagegen ging die Sache pragmatisch an. „Ich habe ihm gesagt, dass er beweisen muss, dass er den Job machen kann“, erklärt der 61-jährige Inhaber von Werner  & Co. Gewürze. „Es lief gut, und seitdem hat Bastian eine unbefristete Stelle.“

Für die Kunden hat die Tatsache, dass bei Werner Gewürze & Co. Menschen mit und ohne Behinderung zusammenarbeiten, noch nie eine Rolle gespielt. „Die schauen auf die Qualität, das ist das einzige, was für sie zählt“, sagt der Unternehmer. Ihm selbst ist das Konzept mittlerweile eine Herzensangelegenheit. Dabei hatte Schulte nie geplant, eine Integrationsabteilung zu gründen. „Das Arbeitsamt sprach mich an und fragte, ob ich nicht eine Stelle für einen Menschen mit Down-Syndrom hätte“, blickt der 61-Jährige zurück. „Ich sagte Ja – und dann stand ich zu meinem Wort.“

Helmut Schulte steht im Gewürzlager zwischen hohen Regalen und lacht in die Kamera
Helmut Schulte ist die Integrationsabteilung eine Herzensangelegenheit. Foto: Thorsten Arendt

Dieser Mann der ersten Stunde ist André „Andi“ Wilbert. Schulte stellte ihn vor 15 Jahren ein, trotz anfänglichen Widerstands einiger anderer Mitarbeiter. Wilbert hat das Down-Syndrom und braucht deshalb länger als seine Kollegen, um Arbeitsaufträge zu verstehen und umzusetzen. Damals stieß das nicht bei allen auf Verständnis, aber Schulte ließ nicht mit sich reden: „Ich habe den Mitarbeitern gesagt, sie können sich an Andi gewöhnen oder sie können gehen.“ Heute gehört André Wilbert ganz selbstverständlich dazu und führt seine Aufgaben routiniert aus. Er ist zufrieden mit seinem Job, und das zählt. „Die Arbeit macht Spaß“, sagt er. „Mit anderen Worten: Es läuft.“




Fehlerquote: Null Prozent

Büroklammern, Heftklammern und gelbe Klebezettel. Diese drei unscheinbaren kleinen Helferlein für das Ordnen von Unterlagen sind in den meisten Büros rund um den Globus wie selbstverständlich zuhause und im Einsatz. Taucht aber auch nur eines dieser drei Dinge vor Rafa Lawahs Augen auf, gibt es gleich etwas zu tun – nicht nur für die 25-jährige Bocholterin mit dem Lockenkopf, sondern auch für ihre Kollegen in der DMS Abteilung. Rafa Lawahs Aufgabe ist es, für Unternehmen und Behörden Akten einzuscannen. Scanner mögen aber keine Büro- und Heftklammern, wie sie zuhauf in solchen Unterlagen vorhanden sind.

Berge von Zeichnungen, alte Rechnungen, Bestellungen, Angebote, Auftragsbestätigungen und so ungefähr alles andere, was auf Papier gedruckt werden kann, bewahrt Rafa Lawah so mit Maschinenhilfe und viel Geduld davor, in Vergessenheit zu geraten. Durch das Einscannen werden die Inhalte maschinenlesbar und digital verfügbar – wie demnächst auch die Bauakten der Stadt Bocholt.

Hinter der Abkürzung „DMS“ verbirgt sich der Begriff „Dokumenten-Management-System“. Die Integrationsabteilung der Personal- und Service-Agentur Bocholt Borken, die vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe unterstützt wird, beschäftigt elf Menschen mit Behinderung. Eine von ihnen ist Rafa Lawah, sie kann nicht laufen. „Das war schon immer so“, erzählt die gelernte Bürogehilfin. „Ich kenne es nicht anders.“ Sie lacht und zieht fast entschuldigend die Schultern hoch. „Ich bin mit dem Rolli aufgewachsen. Man geht damit um, für mich ist das normal.“

Ein eingespieltes Team

Zusammen mit ihren zehn Kollegen zerlegt sie in ihrem täglichen Job die vorliegenden Akten zuerst in ihre Einzelteile, Seite für Seite, säuberlich sortiert. Rafa Lawah erledigt das an gleich zwei Arbeitsplätzen: Einer bei der DMS im Gewerbegebiet, einer im Bocholter Rathaus. Dort sichtet sie mit vier anderen die Akten des städtischen Bauamts und bereitet sie zum Scannen vor. „Mein Job macht mir viel Spaß,“ sagt sie.

Auch mit ihrem Abteilungsleiter Dirk Fitscher ist Rafa Lawah gut eingespielt, der in der DMS-Abteilung die Arbeit des Teams am Ende noch einmal prüft. Seite für Seite schauen Rafa Lawah und die anderen DMS’ler die Scans an und vergleichen sie mit dem Original. Wenn alles richtig eingelesen ist, bauen sie die Akte wieder zusammen und kleben auch die Post-its genau dorthin zurück, wo sie vor dem Scan pappten. Die nun digitalisierten Inhalte werden auf eine CD, DVD oder Blu-ray gebrannt und gehen zusammen mit der Original-Akte an den Auftraggeber zurück. Abläufe, die einwandfrei funktionieren: „Die Fehlerquote liegt bei null Prozent“, sagt Dirk Fitscher.

Rafa Lawah sortiert an ihrem Schreibtisch Unterlagen
Seite für Seite werden Akten und Unterlagen von der gelernten Bürogehilfin Rafa Lawah fürs Scannen vorbereitet. Foto: LWL/Arendt

Fünf Tage die Woche arbeitet die Bocholterin insgesamt, mit Pausen sind es unter dem Strich knapp fünfeinhalb Stunden pro Tag. Mehr schafft sie wegen ihrer Behinderung nicht, erzählt sie. Sie freut sich sehr über ihre Arbeit. Erst recht, weil es nicht einfach war, mit ihrer Behinderung einen passenden Job zu finden. Im ersten Jahr nach dem Ende ihrer dreijährigen Lehre im Berufsbildungswerk im westmünsterländischen Maria Veen hat sie das besonders deutlich gemerkt. Damals war sie offiziell „arbeitssuchend“ gemeldet, wohnte bei den Eltern, fand aber lange einfach keine Stelle. Sie wusste nicht, wie es in ihrem Leben weitergehen sollte. Bis der Bocholter Integrationsfachdienst anrief und fragte, „ob ich Interesse hätte, bei der EWIBO GmbH anzufangen.“ Natürlich hatte sie das, sofort.

Auch, wenn sie sich in die Welt der Scanner erst noch einarbeiten musste. Alles begann mit einem Praktikum, damit sie langsam in den Job finden konnte. Danach wurde sie fest übernommen und hat heute sogar einen Schlüssel für den von der Außenwelt hermetisch abgeschotteten Bereich der Datenverarbeitung.

Selbstständiges Leben in der eigenen Wohnung

„Ich kenne mich mit Bürotätigkeiten ziemlich gut aus“, sagt sie heute selbstbewusst. Das zeigen auch die drei Jahre Arbeitserfahrung deutlich, die sie inzwischen hat. „Ich habe jetzt endlich einen festen Job“, sagt Rafa Lawah. Und der ist sehr kostbar für sie: „Ich kann jeden Morgen aufstehen und was Sinnvolles machen.“

Die 25-Jährige führt heute ein selbstständiges, ihr eigenes, Leben. Sie fährt auch selbst mit dem Auto zur Arbeit. Jeden Dienstag trainiert sie ihr Englisch an der Volkshochschule, „Level three“. Was der Job bei DMS ebenfalls möglich gemacht hat: Sie kann endlich allein leben, in einer auf ihre Behinderung zugeschnittenen Wohnung. Eine Rampe vor der Tür und genug Platz in den Zimmern zum Rangieren mit dem Rollstuhl machen ihr Zuhause barrierefrei. Nur einmal in der Woche kommt eine Helferin für drei Stunden vorbei. „Den Rest mache ich selbst“, sagt sie.