VIER FRAGEN AN… Silke Naun-Bates

Im Alter von acht Jahren hatte Silke Naun-Bates einen schweren Unfall. Ihr mussten anschließend beide Beine amputiert werden. Die heute 50-Jährige ließ sich von diesem Schicksalsschlag nicht unterkriegen und geht heute sehr selbstbewusst mit ihrer körperlichen Behinderung und den damit verbundenen Veränderungen um. Durch ihre positive Haltung und entgegen ärztlicher Prognosen erkämpfte sich Silke Naun-Bates ein unabhängiges, selbstständiges Leben, in dem sie sehr glücklich ist. Sie arbeitet als Autorin und spricht unter anderem auf Konferenzen über das Thema Inklusion und über ihr Leben mit Behinderung. Mit uns hat sie über ihre persönliche Vision einer inklusiven Gesellschaft und Arbeitswelt gesprochen.


#1: Frau Naun-Bates, was bedeutet für Sie Inklusion im Beruf und bei der Arbeit?

Inklusion bedeutet für mich: die Vielfalt und Heterogenität einer Gesellschaft und der gesamten Menschheit als selbstverständlich zu betrachten. Nicht der Einzelne sollte sich dem System anpassen müssen, sondern umgekehrt. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen müssen aus meiner Sicht so flexibel gestaltet sein, dass sie es jedem Einzelnen ermöglichen, uneingeschränkt am täglichen Leben teilzuhaben. Dafür müssen zum Beispiel als erstes die offensichtlichsten Barrieren – Treppen, Bordsteinkanten und so weiter – abgebaut werden.
Das gleiche Prinzip gilt auch im Berufsleben: Jeder Mensch sollte, wenn sie oder er die nötigen Fähigkeiten, Qualifikationen und Talente für einen bestimmten Job mitbringt, die Möglichkeit erhalten, diesen Beruf auch auszuüben. Wenn sich die Rahmenbedingungen dahingehend ändern würden, dass das möglich wird, würden sich viele Diskussionen um Bewerbungsabsagen an Menschen mit Behinderung von selbst erledigen.
Bei Menschen, die durch ihre Behinderung bestimmten Anforderungen in der Berufswelt nicht auf Anhieb gerecht werden können, sollte für einen vernünftigen Ausgleich gesorgt werden, damit sie trotzdem arbeiten können – zum Beispiel mit zusätzlichem Personal oder finanziellen Hilfen. Übrigens: Das System, das diese Ausgleichsmittel regelt, müsste sich meiner Meinung nach ebenfalls ändern. Viele Fördergelder für notwendige Umbauten am Arbeitsplatz oder Eingliederungszuschüsse werden zwar schon seit Jahrzehnten gezahlt, aber die erwünschte Wirkung – nämlich ein wirklich inklusiver Arbeitsmarkt – bleibt bis heute aus.

#2: Was bremst Ihrer Meinung nach die Inklusion – bei der Arbeit, aber auch in der Gesellschaft insgesamt?

Es sind vor allem die Barrieren in den Köpfen vieler Menschen. Diese abzubauen, mehr Offenheit, Toleranz und ein besseres Miteinander zu erreichen, darin sehe ich eine wichtige Aufgabe, um Inklusion zu schaffen. Wir müssen das verbindende Element zwischen unserer jeweils eigenen und der Individualität anderer Menschen erkennen, anstatt uns auf die Unterschiede zu konzentrieren. Ich glaube, wenn wir dann noch offen mit unseren unterschiedlichen Eigenschaften und Voraussetzungen umgehen, werden sich die Rahmenbedingungen auf ganz sanfte Art und Weise zu ändern beginnen. Dafür braucht es allerdings die Bereitschaft aller Beteiligten, das anzuerkennen, was schon erreicht wurde. Darauf können wir aufbauen und gemeinsam weiter daran arbeiten, dass es besser wird. Wer erwartet, dass in unserer komplexen Gesellschaft alle Änderungen die für eine vollständige Inklusion eigentlich nötig wären, über Nacht geschehen, der kann nur enttäuscht werden. Barrieren im Kopf verschwinden nicht einfach so und weichen einem neuen Verständnis, nur weil man sich das wünscht oder weil es eigentlich so sein müsste. Dafür fehlt es zu vielen Menschen (noch) an der Bereitschaft, über ihren so genannten Tellerrand hinauszuschauen. Viele sind nur auf ihre eigenen Bedürfnisse fokussiert, oft genug sogar mit gutem Grund. Ein Wandel im Denken tritt meist erst dann ein, wenn diese Menschen selbst in Situationen geraten, in denen sie nicht mehr überall teilhaben können – dann spüren sie sehr direkt, was für eine Einschränkung das bedeutet. Und solche Erlebnisse beschränken sich längst nicht nur auf den Kontext einer anerkannten Behinderung.

#3: Mit welchen kleinen oder größeren Handlungen könnten einzelne Menschen aus Ihrer Sicht zur Inklusion beitragen?

Alle sollten versuchen, offen aufeinander zuzugehen und sich auf das Verbindende zu konzentrieren. Wir alle sind Menschen, wir alle haben Bedürfnisse und Emotionen. Wir lachen, wir weinen, sind wütend oder begeistert, wir alle müssen Herausforderungen meistern, nur dass diese immer unterschiedliche sind. Wenn wir die Gemeinsamkeiten darin erkennen, wird der gefühlte Unterschied zwischen einzelnen Menschen gleich viel kleiner.

#4: Wenn Sie Ihren Traum-Arbeitsplatz frei entwerfen könnten: Wie sähe dieser aus?

Hier auf meiner pinkfarbenen Couch fühle ich mich sehr wohl, ich mag meinen Arbeitsplatz zu Hause sehr. Ich reise aber auch viel, bin also immer wieder in Hotels oder auf Campingplatzen unterwegs, sowohl beruflich als auch privat. Diese Abwechslung ist für mich eine perfekte Arbeitssituation. Bis 2015 war ich in der Jugend- und Erwachsenenbildung tätig, vorwiegend im Bereich der Rehabilitation von Menschen mit körperlichen, geistigen und psychischen Behinderungen. Diese Menschen zu begleiten, mit unterstützenden Organisationen, Arbeitgebern und Kostenträgern zusammenzuarbeiten und die Öffentlichkeitsarbeit, die damit verbunden war, haben mich sehr erfüllt – trotz der Tatsache, dass die Barrierefreiheit nicht in allen Einrichtungen, mit denen ich zu tun hatte, erfüllt war. Für mich war es viel wichtiger, dass ich als gleichwertiger Mensch wahrgenommen wurde. Denn mein Körper mag zwar etwas anders aussehen, aber im Kern sind wir doch alle ziemlich gleich.