„Visual Vernacular“ und „Visual Sign“: Lautlose Kunstformen für mehr Inklusion auf der Bühne

Herr Kauly, was ist „Visual Vernacular“ und wie ist diese Kunstform entstanden?

Der Ursprung von Visual Vernacular ist die Gebärdensprache, aber als diese Kunstform entstand, war den Menschen noch nicht bewusst, dass es überhaupt eine ist. Visual Vernacular funktioniert heute ganz ohne Gebärdensprache. Die Geschichten werden durch Körperbewegung, Symbole, Gesten und intensive Gesichtsausdrücke erzählt. Man kann sich das wie Musik für Gehörlose mit sehr vielen Einflüssen vorstellen, zum Beispiel aus Filmen und Computerspielen. Wie jede Kunst entwickelte sich Visual Vernacular mit der Zeit weiter und es entstanden immer wieder neue Formen davon. Diese Art, Geschichten zu erzählen, nutzen taube Menschen mittlerweile weltweit als künstlerischen Ausdruck. Die Kunstform gab es schon immer, aber bekannt wurde sie erst durch Bernard Bragg, einen tauben amerikanischen Schauspieler. Er gab ihr auch ihren Namen.

Wie sind Sie selbst zu Visual Vernacular gekommen?

Ich liebe die Kunst mit der Sprache, besonders, wenn sie visuell funktioniert. Mich fasziniert, wie man mit Gesichtsausdrücken sprechen, mit den Händen kommunizieren und sich mit Körpersprache ausdrücken kann. Meine Begeisterung dafür begann mit Musikvideos. Ich wollte die Songs, die ich dort sah, in Gebärdensprache übersetzen. Irgendwann bemerkte ich, dass die direkte Übersetzung nicht so ansprechend aussah und mit der Musik nicht mehr viel zu tun hatte. Mir fehlte das Künstlerische. Also suchte ich nach einer Alternative und entdeckte Visual Vernacular. Als ich erfuhr, dass Gehörlose davon begeistert sind, wusste ich, dass das genau das Richtige für mich ist.

Sie vergleichen Visual Vernacular mit Musik für Hörende. Wie muss man sich das vorstellen?

Bei Visual Vernacular wird wie gesagt kaum mit Gebärdensprache gearbeitet. Im visuellen Theater für gehörlose Menschen ist das anders. Dort fließen viele verschiedene Kunstformen ineinander, etwa Performance, Gebärdensprache, Körpersprache, Pantomime und noch einige andere. Dann gibt es noch die Gebärdensprachpoesie, die ist wie ein Gedicht, eine Ballade oder ein Lied mit Wörtern und Ausdrücken aus der Gebärdensprache. Bei Visual Vernacular zeigen die Künstler:innen mit ihren Händen verschiedene Formen. Das können Gegenstände sein, Personen, Tiere, Pflanzen oder Elemente. Es ist sozusagen Kunst ganz ohne Wörter. Gehörlose verstehen aber, was diese Formen bedeuten. Das Besondere ist, dass bei Aufzeichnungen auch Filmtechniken zum Einsatz kommen, beispielsweise verschiedene Kameraperspektiven, Vergrößern und Verkleinern der Szene durch Zoomen, Zeitlupe oder Zurückspulen.

Wie wichtig sind Gesichtsausdrücke bei dieser Kunstform?

Beinahe genauso wichtig wie die Hände. Und auch die Körperhaltung spielt eine große Rolle. Bei der Musik sind ja auch die Instrumente, die die Töne spielen, ebenso wichtig wie der Rhythmus, das Tempo oder bei Musik mit Gesang die Stimme. Musik ist eine Kombination aus verschiedenen künstlerischen Elementen, und so ist es auch bei Visual Vernacular. Am besten ist, sich ein Video davon anzuschauen, denn das zeigt am besten, was genau ich damit meine. Man kann den Blick kaum vom Gesicht des Künstlers nehmen, finde ich, weil dort so unglaublich viel passiert.

Ist die Kunstform auch für hörende Menschen zugänglich?

Leider nein, hörende Menschen können das nur schwer verstehen, weil sie visuelle Sprache nicht gewohnt sind oder gar nicht kennen. Natürlich können sie sich eine Aufführung anschauen und versuchen, die Gefühle nachzuempfinden, die dabei ausgedrückt werden. Aber den kompletten Inhalt werden sie nicht aufnehmen können. Das möchte ich sehr gern ändern. Ich will mit meiner Kunst erreichen, dass sie irgendwann für Gehörlose und Sprechende gleichermaßen verständlich ist. Es wäre ja schön, wenn alle gemeinsam zur gleichen Aufführung gehen könnten und nicht nach Hörenden und Gehörlosen getrennt werden müsste. Deshalb veranstalte ich Workshops für Gehörlose und Hörende zusammen und bringe ihnen „Visual Sign“ bei (auf Deutsch: „visuelles Zeichen“). Das ist eine Kunstform, die anders als Visual Vernacular auf der Pantomime beruht – und die können alle verstehen.
[Anmerkung der Redaktion: Aktuelle Workshop-Termine findet ihr zum Beispiel auf der Pinnwand unter „Veranstaltungen“ bei taubenschlag.de, einer Website mit Infos, Nachrichten und Angeboten für Taube und Schwerhörige, aber auch für Hörende].

Können Sie erklären, was genau bei Visual Sign anders ist?

Diese Kunstform ist von Visual Vernacular abgeleitet, aber stark vereinfacht. Im Mittelpunkt steht eine bewegte Körpersprache, die Menschen während der täglichen Kommunikation unbewusst sowieso schon verwenden. Diese visuellen Zeichen wandle ich in künstlerische Ausdrücke um. Ein Beispiel: Wenn ich zeigen möchte, dass ich Auto fahre, hebe ich die Arme hoch und halte ein unsichtbares Lenkrad. Das funktioniert genauso auch mit „Trinken“, „Schlafen“, „Laufen“, „Schreiben“, „Telefonieren“, „Schnarchen“, und so weiter. Dabei kommen viele Elemente aus der Pantomime zum Einsatz. Im nächsten Schritt wird es dann aber komplexer. Wie zeige ich, dass ich ein Auto fahre und keinen Bus oder Lkw? Die haben ja alle ein Lenkrad, wie verdeutliche ich also den Unterschied? Die Körperhaltung hilft nicht viel, die ist im Auto fast die gleiche wie in den anderen Fahrzeugen. Also muss ich umdenken und noch genauer beobachten, was anders ist. Ich gehe also noch weiter aus der Situation heraus und schaue beispielsweise auf die Tür des jeweiligen Fahrzeugs, denn die ist bei allen dreien unterschiedlich. In einen Lkw muss ich eher hineinklettern und der Bus hat eine viel größere Tür als das Auto. Diese Unterschiede verstehen Gehörlose ebenso wie Hörende. Der Ansatz bei „Visual Sign“ ist also immer, mit möglichst allgemeingültigen und für alle verständlichen Zeichen zu arbeiten.

Kann Visual Sign dabei helfen, Barrieren auf der Bühne abzubauen, also auch bei Theaterstücken, die sonst nur Hörende gut verstehen?

Ja, das wäre durchaus möglich. Es gibt ja noch andere Möglichkeiten wie Gebärdensprache oder Untertitel bei Aufführungen und Filmen, die auch schon verwendet werden. Aber Visual Sign könnte eine inklusive Kunst für alle sein, bei der es keine „Sonderlösung“ für die eine oder andere Gruppe braucht. Es kommt natürlich immer darauf an, was der Inhalt des Stücks ist und welche Kunstform gezeigt werden soll: Tanzen, Performance, Schauspiel, Singen? Kunst kennt keine Grenzen, die Sprache aber schon. Ich würde den Verantwortlichen daher empfehlen, kreativ zu sein und vorher die gehörlosen Zuschauer:innen zu fragen, wie gut sie eine bestimmte Kunstform inhaltlich aufnehmen und verstehen können. Vielleicht eröffnet Visual Sign dann ganz neue Möglichkeiten. —