Herr Brückner, es heißt, Kulturorte in Deutschland seien oft wenig inklusiv. Was haben Sie persönlich erlebt, was das besonders verdeutlicht?
Es klingt banal, aber es ist eine Tatsache, dass viele Menschen mit Behinderung im Jahr 2024 immer noch nicht in der Lage sind, an Kulturorten auf die Toilette zu gehen. Wenn ein so simples Grundbedürfnis nicht erfüllt ist, ist es kaum verwunderlich, dass Menschen mit Behinderung sich oft dagegen entscheiden, an Veranstaltungen teilzunehmen und Teil von Kultur zu sein. Aus meiner Perspektive als Künstler ist es ganz ähnlich: Über 90 Prozent der Bühnen, auf denen ich bisher gespielt habe und spiele, sind nicht barrierefrei. Das bedeutet, dass ich mit meinem Rollstuhl nicht eigenständig auf die Bühne gelangen kann und darauf angewiesen bin, getragen oder geschoben zu werden. Das erschwert das Künstlerdasein enorm, und auf dieser Ebene ist es sogar noch deutlich komplizierter, als es bereits für Gäste mit Behinderung ist.
Woran liegt es, dass das in Deutschland oft so schlecht funktioniert?
Weil das Thema oft nicht ganzheitlich gedacht wird. Wenn es darum geht, auf die unterschiedlichen Formen von Behinderung Rücksicht zu nehmen, hapert es oft noch gewaltig. Zunächst einmal müssten aber sowohl Gäste als auch als Künstler:innen mit Behinderung die Möglichkeit haben, sich vor Ort frei bewegen und agieren können – inklusive der Backstage-Bereiche. Auch in den Teams der Veranstalter:innen müssten selbstverständlicher auch Menschen mit Behinderung mit dabei sein. Das alles ist aber oft noch nicht der Fall. Aber erst, wenn Barrierefreiheit selbstverständlich geworden ist, also der bloße Zugang auf allen Ebenen, das Miteinander und der Austausch zwischen Künstler:innen, Teams und Besucher:innen mit und ohne Behinderung selbstverständlich funktionieren – dann nähern wir uns Inklusion.
Wie ließe sich das – vielleicht auch mit einfachen Mitteln – ändern?
Ein großes Problem ist, dass wir in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern keine rechtlich bindenden Regelungen für Barrierefreiheit haben. Es gibt zwar Gesetze, die viel Gutes beinhalten, aber sie sind meistens nicht verbindlich. Es wird also häufig nicht sanktioniert, wenn etwas nicht umgesetzt wird. Privatwirtschaftliche Unternehmen können sogar noch viel weniger dazu gezwungen werden, etwas zu tun. So müssen wir oft auf Freiwilligkeit hoffen, und die ist nicht allzu häufig vorhanden. Es fehlt meist an Verständnis und Sensibilität für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung. Diese Zielgruppe wird oft nicht gesehen, nicht mitgedacht und außerdem häufig unterschätzt.
Spielen auch die Kosten eine Rolle?
Das wird oft gesagt, stimmt pauschal aber nicht. Viele Dinge könnten ohne großen finanziellen Aufwand verändert werden, etwa durch eine barrierefreie Kommunikation. Das ist aus meiner Sicht auch eines der größten Arbeitsfelder. Um beispielsweise Social-Media-Kanäle für blinde und sehbehinderte Menschen so zu gestalten, dass sie technisch zugänglich sind, braucht es nicht viel. Hier fehlen meist nur Bildbeschreibungen und Alternativtexte. Das konsequent zu ergänzen, ist also eine sehr kostengünstige Maßnahme. Ein ebenfalls einfacher, aber wichtiger Schritt wäre auch, den aktuellen Zustand der Barrierefreiheit eines Ortes auf der Website transparent darzustellen. Das würde schon so vielen Menschen mit Behinderung helfen, weil sie sich dann nicht ohne Vorwissen in eine unsichere oder sogar traumatisierende Situation begeben müssten, sondern sich vorab informieren und dann frei entscheiden könnten, ob sie sich auf das Event einlassen möchten oder nicht. Das kostet wenig Geld, erfordert aber etwas Zeit und das Mitdenken der Bedürfnisse von Besucher:innen mit Behinderung.
Haben Sie weitere Tipps für Veranstalter:innen, wie sie die Barrierefreiheit auf und vor der Bühne verbessern können?
Ein häufiger Fehler ist es, Barrierefreiheit darauf zu reduzieren, dass der Ort „nur“ rollstuhlgerecht sein muss. Dabei sind die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung so vielfältig wie die Behinderungen selbst. Entsprechend müssen die Maßnahmen auch unterschiedlich sein. Neben nicht vorhandenen Rampen gibt es viele weitere Hürden, insbesondere in der Kommunikation. Bei Websites sind beispielsweise Texte in schwer verständlicher Sprache ein Problem, weil das Menschen mit anderen Lern- und Lesemöglichkeiten ausschließt. Hier würden kürzere Sätze und der Verzicht auf englische Begriffe oder Fachsprache sehr helfen.
Was können Veranstalter:innen tun, die sich nicht gut mit den Belangen von Menschen mit Behinderungen auskennen?
Sie sollten aufhören, selbst zu beurteilen, was gut und richtig ist. Stattdessen sollten sie den Dialog mit Menschen mit Behinderung suchen, um deren Expertise einzubeziehen. Diese Menschen müssen gar nicht unbedingt professionell organisiert sein, wie es zum Beispiel unsere Beratungsagentur „WIR KÜMMERN UNS“ ist. Oft gibt es auch im Freundes- oder Familienkreis Personen mit Behinderung, die wertvolle Tipps geben können. Das ist der erste und der wichtigste Schritt: Ins Gespräch gehen mit Menschen mit Behinderung, nach dem Motto „Nichts über uns ohne uns“.
Welche Akteur:innen sehen Sie besonders in der Verantwortung, damit es mit der Inklusion in der Kultur vorangeht?
Deutschland hat sich im Jahr 2009 mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, mehr für Menschen mit Behinderung zu tun. Dazu gehört auch der Zugang zur Kultur und die Möglichkeit für Menschen mit Behinderung, ihr künstlerisches Potenzial zu entfalten. Das Problem ist aber auch hier, dass diese Verpflichtungen nicht sanktioniert werden, wenn sie nicht erfüllt werden. Außerdem liegt der Fokus ausschließlich auf dem öffentlichen Sektor, während der private Bereich außen vor bleibt. Hier muss ein grundlegendes Umdenken stattfinden, und das auf allen Ebenen. Von der Bundesregierung in Berlin bis runter zu den einzelnen Städten und Gemeinden brauchen wir mehr politische Solidarität mit Menschen mit Behinderung. Dabei reicht es nicht aus, nur für das Thema zu sensibilisieren. Es braucht dringend gesetzliche Verpflichtungen und auch Sanktionen, um wirklich Fortschritte zu erzielen.
Was würden Sie selbst an der Förderung von Veranstaltungen zugunsten von mehr Inklusion verändern, wenn Sie könnten?
In unserem Kollektiv haben wir Licht- und Veranstaltungstechniker:innen, deren berufliche Möglichkeiten stark eingeschränkt sind, weil es viel zu wenige barrierefreie Arbeitsplätze in den Bühnen- und Backstage-Bereichen gibt. Genauso ist es oft für die Künstler:innen. Und die Bereiche für Gäste betrifft das Thema ja sowieso. Deswegen es unbedingt erforderlich, inklusive Maßnahmen zu fördern. Gleichzeitig müssen diese Maßnahmen gesetzlich verpflichtend sein, auch für schon bestehende Kulturorte – aber es ist wichtig, sie dabei zu unterstützen, sie mit den Anforderungen also nicht alleine zu lassen. Neue Veranstaltungsorte wiederum müssen von Beginn an verpflichtet werden, barrierefrei zu planen und zu bauen. Barrierefreiheit muss so selbstverständlich und unabdingbar wie Brandschutz- oder Evakuierungsauflagen sein. Darüber hinaus darf Kulturförderung im Allgemeinen nur dann gewährt werden, wenn Barrierefreiheit vor, auf und hinter der Bühne mitgedacht wird. Und das bedeutet eben auch, Künstler:innen mit Behinderung zu einem selbstverständlichen Teil von Veranstaltungen und des Bühnenprogramms werden zu lassen. —