„Die Arbeitswelt braucht Querdenkerinnen und Querdenker“

Herr Kuhlemann, wie kamen Sie auf die Idee, ein Unternehmen zu gründen, das Menschen mit Autismus im Beruf unterstützt?

René Kuhlemann: Ich habe einen sehr persönlichen Bezug zu dem Thema, genauso wie Dirk Müller-Remus, mit dem ich das Unternehmen zusammen gegründet habe. Ich bin selbst Asperger-Autist und Dirks Sohn ebenfalls. Dirk und mich hat es sehr beschäftigt, dass so viele Autisten in Deutschland arbeitslos sind – und das, obwohl viele von ihnen überdurchschnittliche Kenntnisse und Fähigkeiten haben. Deshalb haben wir überlegt, wie wir Autisten dabei unterstützen können, ihre Stärken besser zu nutzen und einen Platz im ersten Arbeitsmarkt zu finden. Dirk hat mit dieser Idee auch schon in seinem ersten Start-Up auticon sehr gute Erfahrungen gemacht, das allerdings eine reine IT-Beratung ist und ausschließlich autistische IT-Consultants beschäftigt. Mit Diversicon wollen wir eine größere Zielgruppe ansprechen, also Autisten, deren Interessen und Talente außerhalb des IT-Bereichs liegen oder die weniger belastbar sind und nicht in wechselnden Projektumfeldern arbeiten können.

Frau Ollech, Sie sind kurz nach der Gründung eingestiegen. Hatten auch Sie vor Diversicon einen so direkten Bezug zum Thema?

Sally Ollech: Nein, für mich war die Auseinandersetzung mit Autismus und Neurodiversität neu. Aber die Idee hat mich damals sofort überzeugt und begeistert. Ich habe außerdem 2012 die Organisation „querstadtein“ mitgegründet, die Stadtführungen durch Berlin und Dresden anbietet, die von obdachlosen und geflüchteten Stadtführerinnen und -führern geleitet werden. Ich hatte also schon Erfahrung mit dem sozialunternehmerischen Ansatz, auf die Ressourcen und Stärken von Menschen zu setzen. Diese Erfahrungen der Organisationsentwicklung bringe ich jetzt bei Diversicon mit ein. René ist der Experte für das Thema Autismus in unserem Geschäftsleitungsteam – das ergänzt sich sehr gut.

Wie unterstützen Sie mit Diversicon Menschen mit Autismus konkret bei der Berufswahl und im Beruf?

Ollech: Wir haben unser Angebot in drei Bausteine aufgeteilt. Das erste Element ist die berufliche Orientierung. Wir unterstützen Autistinnen und Autisten in einem achtwöchigen Kurs dabei, ihre Stärken zu erkennen und sich konkrete berufliche Ziele zu stecken. Im zweiten Schritt beraten und begleiten wir die Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer während der anschließenden Bewerbungsphase. Und wenn sie eine feste Stelle gefunden haben, bieten wir ihnen als dritten Baustein an, sie mit einem Jobcoaching weiterhin zu begleiten. In Zukunft möchten wir unser Angebot noch erweitern und gezielt Schülerinnen und Schüler beim Übergang in den Beruf unterstützen. So könnten künftig mehr junge Menschen im Autismus-Spektrum direkt nach dem Schulabschluss auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen und einen Beruf wählen, der gut zu ihnen passt.

Kuhlemann: In der Bewerbungsphase schalten wir uns auch aktiv ein, indem wir auf die potentiellen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zugehen. Die dadurch entstehenden direkten Kontakte zwischen Firmen und Bewerberinnen und Bewerbern wären anders oftmals nicht zustande gekommen. Ein wichtiger Teil unseres Konzeptes ist es auch, die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zu beraten und dabei zu unterstützen, vielfältigere Teams in ihren Firmen aufzubauen. Und wir informieren und sensibilisieren die Arbeitsagenturen und Jobcenter für das Thema. In Zukunft wollen wir noch mehr tun und eine autismusspezifische Sozial- und Teilhabeberatung aufbauen.

Wer darf Ihre Angebote nutzen?

Kuhlemann: Grundsätzlich alle Menschen im Autismus-Spektrum. Bisher hatten wir Teilnehmerinnen und Teilnehmer von 19 bis 54 Jahren dabei, es gibt also in keine Richtung eine Altersbegrenzung. Wer möchte, kann sich online mit ein paar Angaben zu ihrer oder seiner Person und zum bisherigen Werdegang bewerben. Es ist übrigens nicht zwingend nötig, eine Diagnose einzuholen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie lang die Wartezeiten bei den verschiedenen Diagnosestellen oft sind, außerdem möchte ja auch nicht jede und jeder die Tests und Untersuchungen dafür machen. Unser Ansatz ist es deshalb, nach der Anmeldung zum Kurs erst einmal ausführlich mit jeder Interessentin und jedem Interessenten zu sprechen. Wir möchten sie so kennenlernen und können danach besser einschätzen, ob ein Kurs bei Diversicon sie weiterbringen kann oder nicht. Entscheidend ist auch, ob jemand motiviert an die Sache herangeht und ob sie oder er in eine Kursgruppe passt.

Was kosten Ihre Kurse und Coachings und wo finden sie statt?

Ollech: Für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind unsere Leistungen kostenlos. Je nach Zuständigkeit werden die Kurse, Beratungen und Coachings durch die Agentur für Arbeit, das Jobcenter oder die Rentenversicherung finanziert. Allerdings gibt es uns bisher nur in Berlin. Grundsätzlich können sich zwar gerne auch Interessentinnen und Interessenten aus anderen Bundesländern zu unseren Kursen anmelden und sie werden dabei in der Regel auch vom zuständigen Träger unterstützt. Doch da unser Kurs zwei Monate dauert, müssen Teilnehmerinnen und Teilnehmer von außerhalb für diese Zeit eine Unterkunft in Berlin finden. Das ist leider nicht allen möglich. Mittelfristig wollen wir unsere Kurse und die Jobvermittlung aber auch in anderen Regionen Deutschlands anbieten.

Ihr Ansatz ist es, auf die Stärken von autistischen Menschen zu schauen. Welche sind das?

Kuhlemann: Dazu gibt es einen schönen Satz aus der Community: „Kennst Du einen Autisten, kennst Du einen Autisten.“ Wie alle Menschen haben also auch Menschen im Autismus-Spektrum sehr individuelle und unterschiedliche Fähigkeiten. Es gibt dennoch einige Stärken, die tatsächlich bei fast allen vorhanden sind. Zum Beispiel haben die meisten Autistinnen und Autisten ein hohes Qualitätsbewusstsein und einen guten Blick für Details. Dadurch können sie Zusammenhänge und Muster oft besonders schnell erkennen. Auch ein intuitives Verständnis für technische Systeme kommt häufiger vor – und manche sind in den Bereichen Entwicklung und Design besonders gut.

Ollech: Menschen im Autismus-Spektrum nehmen viele Dinge etwas anders wahr als ihre Kolleginnen und Kollegen. Dadurch kommen sie oft auf neue und ungewöhnliche Lösungen. Die moderne Arbeitswelt braucht solche Querdenkerinnen und Querdenker, um innovativ und effizient arbeiten zu können und sich für die Zukunft aufzustellen.

Welche Branchen und Berufe passen besonders gut zu diesen Fähigkeiten?

Kuhlemann: Das hängt ganz davon ab, was unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer können und wollen – und was potentielle Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber suchen und anbieten können. Wir stecken immer zuerst mögliche Aufgabenfelder ab, die zu den individuellen Stärken der Teilnehmenden passen. Das können zum Beispiel Bereiche wie Recherche und Analyse oder Strukturierung und Optimierung sein. Oft ist auch die Fähigkeit gefragt, anspruchsvolle Soll-Ist-Abgleiche durchzuführen, oder ein ausgeprägtes kreativ-künstlerisches Talent. Im zweiten Schritt suchen wir nach passenden Berufen. Dabei denken wir immer branchenübergreifend. Unsere Kurs-Absolventinnen und -Absolventen haben so schon in ganz verschiedenen Bereichen Arbeit gefunden, zum Beispiel im öffentlichen Dienst, im Grafikbereich, bei einer Sicherheitsfirma, in der technischen Gebäudeausstattung, in der Wissenschaft oder im Bereich Erneuerbare Energien.

Gibt es auch Berufe, die gar nicht für Autisten geeignet sind?

Ollech: Das werden wir auf Veranstaltungen oft gefragt. Pauschal lässt sich aber auch das nicht beantworten. Jeder Autist, jede Autistin ist eben anders. Daher schließen wir erstmal keinen Berufswunsch aus, nicht mal Mitarbeit im Vertrieb – das ist sicherlich kein klassisches Tätigkeitsfeld für die Mehrheit der Autistinnen und Autisten. Aber ich kenne einen Autisten, der unglaublich guten Vertrieb für seine Idee macht und einfach selber Unternehmer geworden ist. Die Tendenz ist, dass es meistens dann nicht gut passt, wenn Ehrlichkeit und Offenheit in einem Job nicht erwünscht sind. Viele Autistinnen und Autisten haben nämlich ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden und für sie ist Ehrlichkeit sehr wichtig.

Welche Rahmenbedingungen müssen Unternehmen schaffen, damit Autistinnen und Autisten gut arbeiten können?

Kuhlemann: Auch das ist sehr verschieden, und wir erleben in unseren Kursen immer wieder, dass es da kein Patentrezept gibt. Deshalb klären wir das bei jeder Job-Vermittlung individuell ab. Einige Beispiele: Viele unserer Kandidatinnen und Kandidaten bevorzugen ein reizarmes Umfeld. Sie mögen kein grelles Neonlicht und wollen auch keinen unruhigen Arbeitsplatz direkt am Gang oder in einem Großraumbüro. Wenn sich das nicht vermeiden lässt, der Job ansonsten aber gut passt, können Rückzugsmöglichkeiten oder geräuschunterdrückende Kopfhörer schon eine Lösung sein. Einige wünschen sich in ihren Berufen wenig oder gar keinen Kundenkontakt, weil soziale Interaktionen sie sehr anstrengen. Andere wiederum können sich das durchaus vorstellen und mögen es sehr, anderen Sachverhalte zu erklären, die sie interessieren.

Ollech: Struktur und Eindeutigkeit sind ebenfalls sehr wichtig. Deshalb sollten im Unternehmen sämtliche Abläufe, Aufgaben und Ansprechpartnerinnen und -partner klar definiert sein. Das klingt banal, ist im Arbeitsalltag aber oft eine Herausforderung. Die meisten Menschen reden zum Beispiel oft in Konjunktiven und Floskeln, ohne es zu merken. Für Autistinnen und Autisten sind die „versteckten“ Botschaften und Dinge „zwischen den Zeilen“ schwer zu entschlüsseln. Abhilfe schafft eine möglichst klare und direkte Sprache. Vielfalt in einem Team setzt unserer Erfahrung nach einerseits große Potenziale frei, bedeutet aber eben auch Arbeit. Es ist daher wichtig, dass die Teamleiterinnen und -leiter eines Unternehmens dazu bereit sind, ein inklusives, diverses Team zu führen, und das gesamte Kollegium offen und empathisch auf die neuen Perspektiven zugeht, die da ins Team kommen.


Über unsere Interviewpartner:innen





Raum für Inklusion – und viele neue Ideen

Frau Trzecinski, welchen persönlichen Bezug haben Sie zum Thema Inklusion?

Das Thema beschäftigt mich seit meiner Kindheit. Mein Vater war schwerhörig, das hat er anderen Menschen aber nie offen gesagt. Deshalb gab es in Gesprächen mit Fremden oft Probleme. Wir Kinder haben in diesen Situationen früh vermittelt und versucht, Missverständnisse aufzuklären. Diese Erfahrung hat mich sicher stark beeinflusst. Später habe ich Sonderschulpädagogik studiert, anschließend aber erst einmal als Managerin bei Microsoft gearbeitet.

Wie sind Sie aus dieser Situation heraus auf die Idee gekommen, einen inklusiven Coworking-Space zu starten?

Ich wollte etwas Neues machen und dabei meine Erfahrungen aus der freien Wirtschaft und dem Bildungsbereich einbringen. 2010 habe ich „KOPF, HAND + FUSS“ gegründet, eine gemeinnützige Organisation, die sich mit verschiedenen Medien-Projekten für eine inklusive Gesellschaft einsetzt. Zum Beispiel haben wir eine App entwickelt, mit der Jobcenter-Formulare in Deutscher Gebärdensprache erklärt werden. Eine weitere Entwicklung war IRMGARD: Mit dieser App können Menschen, die nicht schreiben und lesen können, damit anfangen und es lernen.
Das Besondere bei uns ist, dass wir bei jedem Projekt von Anfang an mit Leuten aus der Zielgruppe zusammenarbeiten. Dadurch habe ich viele tolle Menschen kennengelernt, die ganz unterschiedliche Behinderungen haben. Einige davon wollten sich gerne selbständig machen, fanden aber keinen passenden Arbeitsort. In Berlin gibt es zwar über 100 Coworking-Spaces, aber bisher keinen einzigen barrierefreien. Deshalb haben wir 2017 selbst ein solches Büro eröffnet. Seither bieten wir verschiedene Arbeitsplätze auf insgesamt 760 Quadratmetern an, darunter ein Gemeinschaftsbüro mit 20 Schreibtischen und mehrere Konferenzräume, die wir für Veranstaltungen vermieten.

Wen wollen Sie mit diesem Angebot ansprechen und wer nutzt Ihre Büros bisher?

Bei uns arbeiten Menschen mit und ohne Behinderungen, unser Angebot gilt also für jede und jeden. Das ist unser Verständnis von Inklusion, das „Anderssein“ ist bei uns normal. Die meisten unserer Coworkerinnen und Coworker ohne Behinderung kommen aus dem Bezirk Wedding, diejenigen mit Behinderung aus ganz Berlin. Sie arbeiten für Vereine, Start-ups oder als Freiberufler.
Aktuell haben wir 20 solcher Nutzerinnen und Nutzer, sind damit aber noch nicht ausgebucht. Hinzu kommen Firmen, Stiftungen und Vereine, die ab und zu unsere Meetingräume anmieten. Sie kommen meist deshalb zu uns, weil wir barrierefrei sind, und nutzen etwa unsere kostenfreie induktive Höranlage für ihre Veranstaltungen oder unsere Bühne mit Rampe. Daran freut mich besonders, dass ich den Leuten schon bei der ersten Begehung unserer Räume zeigen kann, wie Inklusion ganz einfach funktionieren und dazu auch noch ansprechend gestaltet sein kann. Sie verlassen uns also immer mit einem sehr positiven Eindruck.

Was bedeutet „barrierefrei“ bei Ihnen genau und wie unterscheiden Sie sich diesbezüglich von anderen Coworking-Spaces?

Zunächst einmal gibt es bei uns keine Schwellen und die Türen sind breit genug für jeden Rollstuhl. Auch die Toiletten sind so gebaut. Das ist aber nicht unser Alleinstellungsmerkmal, denn diese Infrastruktur bieten manche anderen Coworking-Spaces auch.
Das Entscheidende ist, wie unsere Arbeitsplätze eingerichtet sind und dass sie individuell angepasst werden können. Zum Beispiel sind alle unsere Schreibtische elektrisch höhenverstellbar. Außerdem stellen wir auch inklusive Möbel bei uns auf, die wir selbst zusammen mit Designerinnen und Designern entwickelt haben. Den „konFAIRenztisch“ etwa: Er hat drei unterschiedliche Höhen, damit beispielsweise Menschen mit einem Rollstuhl darunter bequem Platz nehmen und die Arbeitsfläche optimal nutzen können.
Auch kleinwüchsige Menschen können so an einer für sie passenden Tischhöhe sitzen. Der konFAIRenztisch hat außerdem keine Tischbeine, so dass Menschen mit Sehbehinderungen sich nicht daran stoßen oder stolpern können. Den Tisch haben wir zusammen mit dem Verein „be able“ entworfen und bei der Planung mit Menschen zusammengearbeitet, die verschiedene Bedürfnisse und Anforderungen an ein solches Möbelstück haben. So machen wir es bei all unseren Projekten. Unser neuestes ist der Designer-Sessel „Schaumlove“, der komplett aus Schaumstoff besteht und deshalb auch für Menschen mit spastischen Behinderungen sehr bequem ist.

Wer möchte, kann sich bei Ihnen auch von einer Assistentin oder einem Assistenten am Arbeitsplatz begleiten und unterstützen lassen. Was ist das für ein Angebot?

Das sind so genannte Assistenzleistungen, die unsere Coworkerinnen und Coworker je nach Bedarf wahrnehmen können. Wer sich beispielsweise gerade von einem Burn-Out erholt oder eine andere psychische Erkrankung hat, kann sich von unserer Psychologin begleiten lassen, die im Alltag individuell unterstützt und etwa dabei hilft, mit Stresssituationen besser umzugehen. Außerdem können wir mehrere Arbeitsassistentinnen und -assistenten zur Verfügung stellen, die auf Wunsch bei der Arbeit unterstützen. Auch wir vom TUECHTIG-Team helfen in verschiedenen Situationen gerne weiter. Wenn jemand zum Beispiel nicht gut Deutsch spricht, korrigieren wir für sie oder ihn Texte, etwa für E-Mails. Und wenn eine Website nicht mit dem Screenreader gelesen werden kann, lesen wir sie einfach vor.

Das ist eine Menge an Angeboten und Leistungen. Würden Sie sagen, dass TUECHTIG damit komplett barrierefrei und inklusiv ist – oder fallen Ihnen im Alltag manchmal Punkte auf, die Sie noch verbessern wollen?

Ich bin mir sicher, dass wir niemals fertig sein werden. Wir nehmen regelmäßig die Rückmeldungen unserer Kundinnen und Kunden auf, außerdem kommen uns selbst ständig neue Ideen, die wir auch umsetzen. Ein Beispiel: Bisher hatten wir nur Türen mit normalen Klinken. Die sind für kleinwüchsige Menschen aber zu hoch. Anders gebaute Türklinken gibt es bisher nicht auf dem Markt, also entwickeln wir jetzt gemeinsam mit dem Designer Bruno Ziebell selbst welche, die weiter nach unten reichen.

Ein anderes Thema ist die Orientierung in unseren Räumen: Wir brauchen ein Tastmodell unseres Coworking-Spaces, damit blinde Menschen begreifen können, wie unsere Räume aussehen. Normalerweise sind sie statisch und können nicht mehr angepasst werden, wenn sie einmal fertig sind. Wir verändern unsere Räume allerdings täglich, stellen mal Tische in U-Form auf, mal gar keine Tische und stattdessen nur Stühle. Deshalb entwickeln wir jetzt ein flexibles Tastmodell gemeinsam mit blinden und sehbehinderten Menschen und der Firma „Figures“, die ebenfalls im TUECHTIG arbeitet. Wir haben dafür kürzlich einen 3D-Drucker angeschafft, den wir von einem Preisgeld finanziert haben. Mit diesem Gerät können wir nun maßstabsgetreue Miniatur-Möbel herstellen, die sich flexibel versetzen lassen.

Sind durch solche Kooperationen innerhalb des Coworking-Spaces selbst schon einmal neue Ideen für Projekte oder Produkte entstanden?

Ja, so einige! Zum Beispiel aus der gemeinsamen Arbeit an unserem Tastmodell: Die Coworkerinnen und Coworker der Firma „Figures“ entwickeln unter anderem Info-Grafiken für Online-Zeitungen. Sie übertragen ihre Erfahrungen aus der Kooperation im TUECHTIG nun auf diese Arbeit. Gerade überlegen sie, wie Info-Grafiken im Netz auch für Blinde und Menschen mit Sehbehinderung erfahrbar werden könnten. Das Tolle daran ist, dass sie selbst diese Idee hatten – wir von TUECHTIG hatten damit nichts zu tun.

Möchten Sie Ihre Entwicklungen bald auch größer vermarkten, Ihre Möbel oder das flexible Tastmodell zum Beispiel zum Kauf anbieten?

Nein, dazu fehlen uns die Kapazitäten, außerdem ist das nicht unser Ziel. Wir möchten mit unserem Konzept etwas bewegen und zeigen, wie Inklusion in der Arbeitswelt funktionieren kann, ohne dass die Räume aussehen wie im Krankenhaus. Aber: Wir nehmen durchaus Einzelaufträge an und bauen auf Wunsch zum Beispiel einen konFAIRenztisch oder ein Tastmodell für andere Einrichtungen nach. Unsere Ideen sind außerdem nicht patentrechtlich geschützt, also sozusagen „Open Source“. Wer handwerklich geschickt ist, darf unsere Möbel gerne nachbauen.




Passt perfekt!

Herr Demblin, was war Ihr Antrieb, sich beruflich mit sozialen Themen auseinanderzusetzen?

Mir ist das aus persönlichen Gründen wichtig, weil ich das Leben sowohl mit als auch ohne Behinderung kenne. Ich hatte mit 19 einen Badeunfall und lebe seither mit Rollstuhl. Ab diesem Zeitpunkt wurde ich komplett anders behandelt, auch auf dem Arbeitsmarkt. Ich habe also am eigenen Leib erlebt, wie sich das Verhalten der Menschen im eigenen Umfeld verändern kann, wenn so etwas passiert und man dann plötzlich mit einer Behinderung lebt, die für alle sichtbar ist. Deshalb möchte ich das Leben auch von anderen Menschen mit Behinderung positiv verändern. In der Wirtschaft liegt dafür aus meiner Sicht das größte Potenzial.

Warum sehen Sie dort besonders große Möglichkeiten?

Weil Menschen nur auf allen Ebenen unserer Gesellschaft teilhaben können, wenn sie einen Job haben. Dann verdienen sie ihren Lebensunterhalt eigenständig, können selbstbestimmt leben und sich beruflich wie privat weiterentwickeln und beweisen. Auf der anderen Seite liegt gerade bei Unternehmen ein großes Potenzial für Inklusion. Wenn dort Barrierefreiheit überall mitgedacht wird, intern wie extern, baulich, aber auch in den Köpfen, profitieren alle davon. So wird die Offenheit in der gesamten Gesellschaft gefördert. Dieses neue und umfassende „über den Tellerrand denken“ schafft ein ungeheures Innovationspotenzial.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Stellen Sie sich vor, eine Mitarbeiterin mit einer Höreinschränkung beginnt in einer neuen Abteilung. Durch eine offene Kommunikation über das, was sie in ihrem Arbeitsumfeld braucht, werden die anderen Kolleginnen und Kollegen animiert, ebenfalls über ihre eigenen Bedürfnisse nachzudenken. So werden Potenziale freigesetzt, die sonst vielleicht nicht erkannt worden wären, und diese kann das Unternehmen gezielt fördern. Damit lässt sich die Leistung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oft deutlich steigern.

Wie haben sie konkret damit begonnen, die Themen Arbeit und Inklusion zu verbinden?

Gemeinsam mit meinem Kollegen Wolfgang Kowatsch hatte ich im Jahr 2009 die Idee, die inklusive Jobplattform myAbility.jobs zu entwickeln (früher: Career Moves). Unternehmen können dort Arbeitsplätze anbieten und ausdrücklich Menschen mit Behinderung ansprechen. Das Konzept ist, dass ganz normale Arbeitsstellen ausgeschrieben und keine extra Stellen geschaffen werden – wir wollen die Unternehmen also zu gelebter Inklusion animieren.
Schon in der Anfangszeit haben wir schnell gemerkt, dass viele Betriebe bei diesem Thema grundsätzliche Unterstützung benötigen. Sie sind oft unsicher, was genau sie tun müssen, um inklusive Bedingungen in ihren Unternehmen herzustellen. Deshalb haben wir die Unternehmensberatung „myAbility“ gegründet. Damit und mit unserem DisAbility-Talent-Programm arbeiten wir täglich daran, unserer Vision einer chancengerechten und barrierefreien Welt näher zu kommen.

Worum geht es im DisAbility-Talent-Programm?

Inklusion ist ja nicht erst auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wichtig, sondern auch schon vorher, an den Schulen und Unis. Dort werden die Weichen für Karrieren gestellt und die Nachwuchskräfte von morgen ausgebildet. Das DisAbility-Talent-Programm schafft hier Berührungspunkte und „matcht“ Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber mit hoch qualifizierten Studierenden mit Behinderung oder chronischer Erkrankung, die potenzielle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Betriebe sein könnten. Zu unseren Zielgruppen zählen Studierende und junge Absolventinnen und Absolventen, die zum Beispiel Seh-, Hör- oder Mobilitätseinschränkungen, Legasthenie, Epilepsie, psychische Erkrankungen oder Diabetes haben. Die Unternehmen treffen diese jungen Menschen im Rahmen unseres Programms und lernen sie näher kennen. Die Studierenden wiederum lernen in Gruppen- und Einzelcoachings, sich zu präsentieren und ihre Behinderung als Karrierefaktor zu sehen. So gewinnen beide Seiten: Die Unternehmen lernen potenzielle zukünftige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kennen, die Studierenden können zukünftige Arbeitsbereiche aktiv erkunden.

Aus welchen Elementen besteht das Programm genau?

Es gibt mehrere Veranstaltungen und Formate, die den Studierenden dabei helfen, ihre Karriere zu planen. Dazu zählen Gruppencoachings, bei denen die jungen Talente mit einem Medientrainer an ihrer Wirkung und Körpersprache arbeiten, um auf Bewerbungsgespräche gut vorbereitet zu sein. In Einzelcoachings wird individuell über das Thema Karriere und die nächsten Schritte gesprochen. Beim Karriereworkshop wird das Thema Behinderung und Karriere erörtert, außerdem werden Tipps für die so genannten Job-Shadowings gegeben. Dabei begleiten Studierende eine erfahrene Mitarbeiterin oder einen erfahrenen Mitarbeiter eines Unternehmens im Arbeitsalltag und schauen ihr oder ihm über die Schulter. Das Highlight des Programms ist aber der Matching Day.

Was geschieht beim Matching Day?

Die Talente lernen an diesem Tag bei einem Speeddating die Personalverantwortlichen unserer Partnerunternehmen kennen. Sie wenden also das erste Mal das Gelernte aus den Coachings an, aber in einem sicheren Rahmen. Bei den Job-Shadowings können sie außerdem das erste Mal einen Blick in Abteilungen werfen, in denen sie später vielleicht einmal arbeiten werden. Dieser Teil ist auch der wertvollste des DisAbility-Talent-Programms, weil die Studierenden dabei Kontakte aufbauen, sich fachlich austauschen und Berührungsängste abbauen können. Das gleiche gilt umgekehrt auch für die Unternehmen.

Welchen Anreiz bieten Sie den Unternehmen, bei Ihrem Programm mitzumachen?

Mehr als elf Prozent der Studierenden in Deutschland geben an, eine Behinderung zu haben. Gleichzeitig ist der Anteil an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Behinderung in österreichischen wie deutschen Unternehmen deutlich geringer. Das möchten wir zusammen mit den Unternehmen gern ändern. Durch das DisAbility-Talent-Programm schaffen wir eine Plattform, mit der unsere Partnerunternehmen hochqualifizierte Studierende mit Behinderung kennenlernen können. Sie können so einem möglichen Fachkräftemangel in Zukunft besser begegnen und zugleich etwas zur Inklusion auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beitragen.

Wie gut funktioniert das Programm bisher?

Sehr gut, denn wir merken, dass viele Studierende noch sehr wenig Bewerbungserfahrung und demnach viele Fragen haben. Im Programm gibt es darauf konkrete Antworten, außerdem profitieren die jungen Menschen von allen Formen des Coachings. Den Erfolg des Programms können wir übrigens auch an Zahlen belegen: Mehr als 25 Prozent unserer Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben durch DisAbility-Talent-Programm später eine Festanstellung oder ein längeres Praktikum bekommen






„Damit hatten wir überhaupt nicht gerechnet“

Eduard Wiebe hebt eine Einkaufstasche aus seinem Rollstuhlanhänger, dabei rieseln ein paar goldene Konfettischnipsel zu Boden. „Die sind noch von der Siegerehrung bei ProSieben“, sagt er grinsend. Er sammelt die glänzenden Schnipsel auf und legt sie auf seinen Schreibtisch.

Ende März 2019 stand der Fertigungsleiter des Bielefelder Unternehmens Teuto InServ zusammen mit Geschäftsführer und Mit-Erfinder Andreas Neitzel im Goldregen auf der Bühne der ProSieben-Erfindershow „Das Ding des Jahres“. 41 Prozent der Fernsehzuschauer hatten bei der telefonischen Abstimmung im Finale live für die beiden angerufen und ihre Erfindung „Rollikup“ zur besten Idee gekürt. Damit wurde die weltweit erste Anhängerkupplung für Rollstühle auf einen Schlag bekannt. Und auch das Preisgeld kann sich sehen lassen: 100.000 Euro.

Menschen mit Behinderung den Alltag erleichtern

„Damit hatten wir überhaupt nicht gerechnet“, sagt Andreas Neitzel. Eigentlich geht es bei der Show darum, dass die Zuschauer eine Erfindung wählen, die sie selbst gut gebrauchen könnten. Dieses Mal stimmte eine überwältigende Mehrheit für „Rollikup“. Der Name für die Erfindung ist aus den Wörtern „Rollstuhl“ und „Kupplung“ zusammengesetzt, denn mit ihr lassen sich Koffer, Kinder- und Transportanhänger mit einer Hand sicher an Rollstühlen verschiedenster Hersteller befestigen. Menschen, die mit Rollstuhl leben und Oberkörper und Arme frei bewegen können, können so viel einfacher und ohne Hilfe einkaufen, verreisen und mit kleinen Kindern unterwegs sein – das ist eine große Erleichterung im Alltag.

Geht nicht? Gibt’s nicht!

Die „Rollikup“-Erfolgsgeschichte begann im Herbst 2017. Damals erfuhr das Teuto-InServ-Team von einem Mann, der mit Rollstuhl lebte und gern allein sein Kind vom Kindergarten abholen wollte. „Er suchte nach einer Möglichkeit, einen Kinder-Caddy an seinem Rollstuhl zu befestigen“, erklärt Wiebe. „Aber Kupplungssysteme für Fahrradanhänger passen nicht an einen Rollstuhl und sind in der Bedienung auch viel zu kompliziert. Also dachten wir: Wenn es da noch nichts Passendes gibt, entwickeln wir das halt.“ Der Betriebsleiter des Inklusionsunternehmens begann zu tüfteln. Er brütete in den Mittagspausen zusammen mit Andreas Neitzel über Entwürfen, arbeitete abends, manchmal sogar nachts zu Hause an seiner Idee.

Anfang 2018 war der Prototyp fertig. Dafür schraubten die beiden eine Kupplung dauerhaft an einen Rollstuhl, an der sich ein Anhänger mit einem Handgriff sicher anklicken und mit einem weiteren Handgriff wieder lösen lässt. Während der Fahrt funktioniert die Kupplung wie ein flexibles Kugelgelenk. Die Nutzerin oder der Nutzer kann so einen Anhänger oder Koffer bequem um jede Kurve ziehen. Wiebe und Neitzel haben diesen Entwurf inzwischen weiterentwickelt und einen nur zwölf Kilo schweren Anhänger konstruiert, mit dem sich zwei große Einkaufstaschen oder eine Wasserkiste transportieren lassen. Selbst in einen Auto-Kofferraum passt der Anhänger bequem hinein.

Eduard Wiebe führt in diesem kleinen Zeitraffer-ideo vor, wie der Rollikup einfach auseinandergebaut und im Auto verstaut werden kann.

„Bewirb dich ruhig, aber das wird sowieso nichts“

Eine ehemalige Praktikantin brachte Wiebe und Neitzel im vergangenen Sommer auf eine Idee: Sie schlug vor, dass die beiden ihre Erfindung doch im Fernsehen vorstellen und sie so bekannter machen sollten. „Sie empfahl uns ‚Das Ding des Jahres‘ und schickte uns auch gleich die Bewerbungsunterlagen mit“, erinnert sich Wiebe lächelnd. „Sie hat sich so viel Mühe gegeben, dass wir gar nicht anders konnten, als uns zu bewerben.“ Andreas Neitzel war von der Idee anfangs noch wenig begeistert. Aber er stimmte zähneknirschend zu: „Ich habe gesagt: ‚Mach doch, aber das wird sowieso nichts.‘“ Heute lacht er, wenn er das erzählt. Denn es wurde doch etwas.

„Das Casting war ein Kampf“

Andreas Neitzel und Eduard Wiebe kamen in die engere Auswahl aus 400 Erfinderinnen und Erfindern, die das Pro7-Team aus knapp 1.000 Bewerbungen ausgesucht und zum Casting eingeladen hatte. Im September fuhren sie nach Köln und präsentierten den „Rollikup“ einer ersten Jury. „Das Casting war ein echter Kampf“, sagt Wiebe. „Die Konkurrenz war groß und die Atmosphäre war sehr angespannt, denn es gab ja auch viele andere Teams, die sich bei mehreren Sendungen gleichzeitig beworben hatten und unbedingt weiterkommen wollten. Manche Erfinder hatten sogar ihren Job gekündigt und alles auf eine Karte gesetzt“, erzählt er.

Olympischer Geist und Zusammenhalt

Doch das Teuto-InServ-Team überzeugte die Casting-Jury. Im Januar reisten die Bielefelder zum zweiten Mal nach Köln, um ihren ersten Fernsehauftritt aufzuzeichnen, begleitet von Ines Rose. Die Geschäftsführerin der Werkhaus GmbH, dem Mutterunternehmen von Teuto-InServ, hatte die beiden von Anfang an unterstützt und fieberte nun im ProSieben-Studio im Publikum mit.

Ihre Idee vor laufender Kamera vorzuführen, war für Neitzel und Wiebe ein spannendes Erlebnis, aber unter den Teilnehmern war die Stimmung jetzt lockerer: „Alle Erfinderteams waren im selben Hotel untergebracht. Dadurch haben wir uns untereinander schon etwas kennengelernt“, erzählt Andreas Neitzel. „Wir haben uns nett unterhalten – und statt Konkurrenzdenken herrschte eher olympischer Geist: Wir hatten alle sowieso schon gewonnen, indem wir teilnehmen durften.“ Für die „Rollikup“-Erfinder war das tatsächlich so, denn sie hatten ihr Hauptziel schon mit dem ersten Auftritt erreicht: Das Kupplungssystem wurde bekannter, noch dazu gab es eine Menge Lob von der ProSieben-Jury und begeistertes Feedback von potenziellen Kundinnen und Kunden.

Andreas Neitzel und Eduard Wiebe in einem Büro
Neitzel und Wiebe arbeiteten abends und manchmal auch nachts an den Entwürfen für ihre Erfindung, um den Rollikup perfekt zu machen. Foto: LWL/Busch

Inklusive Produktion

Doch damit war der Weg noch nicht zu Ende. Die beiden Erfinder qualifizierten sich für das Finale und setzten sich dort live gegen die übrigen fünf Finalisten durch. Die Freude war auch unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Bielefeld riesig, sagt Neitzel, der nach dem aufregenden Fernsehauftritt und dem Presserummel noch etwas müde, aber sehr zufrieden aussieht. „Wir feiern gleich einen dreifachen Sieg. Wir sind die Gewinner der Show und können das Preisgeld in unser Unternehmen investieren. Menschen, die mit Rollstuhl leben, gewinnen durch unsere Erfindung eine Menge Lebensqualität. Und unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch die Werkstatt der Werkhaus GmbH selbst haben in Zukunft eine spannende neue Aufgabe.“

Damit meint er die insgesamt 28 Menschen, die bei Teuto InServ arbeiten. Zwei Drittel von ihnen haben eine Behinderung. Ihre Aufgaben: Sie bearbeiten, prüfen und verpacken Bauteile für einen großen Automobil-Zulieferer und andere Unternehmen. Der „Rollikup“ ist das erste eigene Produkt des Inklusionsunternehmens, die ersten 1.000 Exemplare der innovativen Kupplung haben die Mitarbeiter schon gefertigt, die nächste Charge ist geplant. Von der Produktion profitieren auch die Beschäftigten in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung der Werkhaus GmbH. Sie fertigen ein Bauteil für den „Rollikup“ mit ihrer CNC-Maschine.

Ein toller Motivationsschub

Die Produktionszahlen steigen, und das ist auch dringend nötig. Denn der Bedarf nach einer solchen Lösung ist offenbar riesig. Das haben beiden Erfinder schon nach der Ausstrahlung der ersten ProSieben-Show gemerkt: „Wir haben eine Menge Anrufe und Nachrichten von Rollstuhlfahrerinnen und -fahrern bekommen, die die Kupplung haben wollten. Einige haben sogar gesagt: ‚Egal, was der Rollikup kostet, ich brauche sowas!‘“, erzählt Eduard Wiebe.

Mindestens ebenso wichtig wie das positive Feedback und die zusätzlichen Umsätze ist für beide Unternehmen aber auch der Motivationsschub, den sie in den vergangenen Wochen bekommen haben. „Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind wahnsinnig stolz auf den Erfolg und die vielen positiven Medienberichte“, sagt die Geschäftsführerin der Werkhaus GmbH Ines Rose. „Einige unserer Beschäftigten haben die Zeitungsartikel über die Fernsehshow sogar ausgeschnitten und an ihrem Arbeitsplatz aufgehängt. Dieses tolle Erlebnis hat uns allen neuen Schwung gegeben.





Model mit Down-Syndrom

Die Modebranche gilt als hartes Pflaster. Wer als Model nicht in ein bestimmtes Schema passt, zu klein oder zu dick ist oder nicht die „richtige“ Art von Schönheit hat, wird aussortiert – und bekommt entweder keine Jobs oder kann den Beruf gar nicht erst ausüben.

Seit einigen Jahren beginnen manche Magazine und Designer in der Branche, umzudenken. Sie wollen nicht mehr nur dünne, weiße Mädchen, sondern suchen immer öfter auch Menschen und Gesichter, die etwa unterschiedlicher Herkunft sind, interessant aussehen und nicht in ein starres Ideal passen. Daraus können Karrieren für Menschen entstehen, die bisher zum Beispiel wegen einer Behinderung bisher nicht in die Branche passten – so auch die junge Australierin Madeline Stuart, die das Down-Syndrom hat. Mit 17 Jahren erzählte sie ihrer Mutter, dass sie Model werden möchte. Die organisierte ein Fotoshooting und stellte die Bilder ins Netz, wo die junge Frau schnell eine große Fangemeinde aufbaute. Auch ein südafrikanischer Modeschöpfer wurde auf sie aufmerksam und engagierte die damals 18-Jährige für einen Auftritt in New York. Damit ging Madeleine Stuarts Karriere so richtig los, die bis heute andauert.

Im Blog des Schweizerischen Tagesanzeigers könnt ihr eine kurze Version von Madeleine Stuarts Geschichte lesen – und euch dort auch einige tolle Fotos anschauen, die Ausschnitte aus Stuarts Berufsalltag bei den Fashion Weeks 2018 in New York und London zeigen. Der Reuters-Fotograf Andrew Kelly hat die junge Frau dorthin begleitet und seine Eindrücke mit der Kamera eingefangen.




Eine Anhängerkupplung für Rollstühle

Die Entwicklung des Erfinder-Duos der Teuto InServ aus Bielefeld ist ebenso simpel wie genial: zwei Mitarbeiter des Inklusionsunternehmens haben ein Kupplungssystem für den Rollstuhl entwickelt, an dem man Koffer, Transport- oder Kinderanhänger sicher befestigen kann. „Rollikup“ heißt diese Entwicklung von Andreas Neitzel und Eduard Wiebe, zusammengesetzt aus den Wörtern „Rollstuhl“ und „Kupplung“. Das System ist das weltweit erste seiner Art, denn anders als zum Beispiel schon existierende Kupplungen für Fahrradanhänger lässt sich „Rollikup“ auch hinter dem Rücken und mit einer Hand bedienen.

Das Entwickler-Team stellt seine Erfindung am Dienstag, 19. März, in der TV-Show „Das Ding des Jahres“ vor. Es bewirbt sich damit um ein Preisgeld von 100.000 Euro. Zur Jury gehören unter anderem der Moderator Joko Winterscheidt und das Model Lena Gercke. Die Show wird um 20.15 Uhr auf Pro Sieben ausgestrahlt.

Übrigens: Wenn ihr wissen wollt, was der Inklusionsbetrieb Teuto InServ sonst noch so alles macht, lest hier unser Porträt über das Unternehmen!




Irgendwas mit Computern

Frau Ray, welche Entwicklungen im IT-Bereich machen diesen Berufszweig für Menschen mit Behinderung interessant?

Die IT-Branche wächst seit Jahren, im vergangenen Jahr sogar um fast 3 Prozent. Wir selbst, die akquinet AG, sind ein IT-Dienstleister für andere Unternehmen, bei denen wir zum Beispiel ERP- und Kollaborations-Systeme einführen. Die Abkürzung „ERP“ heißt „Enterprise-Resource-Planning“. Das sind IT-Anwendungen, mit denen die Betriebe ihre Prozesse besser steuern und die Zusammenarbeit der Mitarbeiter fördern können.
Wir entwickeln darüber hinaus auch eigene Softwarelösungen und pflegen in unseren Rechenzentren die IT-Systeme und Daten unserer Kunden. Da heute viele Unternehmen immer mehr in ihre IT investieren und sie ausbauen, haben viele Dienstleister – also auch wir – einen immer größeren Bedarf an zusätzlichen Experten, vor allem in den Bereichen Entwicklung, Consulting, Sales und Support. Diese Leute werden natürlich allerseits heiß umworben. Genau hier liegt aus meiner Sicht eine große Chance für Menschen mit Behinderung.

Welche Chancen meinen Sie damit?

In der Branche sind sehr viele Arbeitsplätze unbesetzt, daher suchen wir immer neues Fachpersonal. Menschen mit Behinderungen könnten von diesem positiven Trend im IT-Berufszweig sehr profitieren, weil sie hier mit weniger mit anderen Bewerberinnen und Bewerbern konkurrieren müssen. Laut der Bundesagentur für Arbeit arbeiten im Moment aber leider nur etwa 23.000 Menschen mit schwereren Behinderungen im IT-Sektor – da schlummern aus meiner Sicht riesige Potenziale und viele Chancen.

Was tun Sie als Integrationsbeauftragte in Ihrem Unternehmen, um diese Kluft zu schließen?

Wir haben unter anderem eine Inklusionskampagne mit dem Namen „Inklusion? – na klar!“ ins Leben gerufen. Damit wollen wir nach und nach ein Netzwerk in der IT-Branche zur beruflichen Inklusion von Menschen mit Behinderungen aufbauen. Wir setzen uns zum Beispiel dafür ein, dass der Austausch zwischen IT-Branchenvertretern, Interessenverbänden und Akteuren der beruflichen Rehabilitation stärker und besser wird.
Eine der Maßnahmen in der Kampagne war außerdem, dass wir 2017 als akquinet AG eine Woche lang am Online-Format „Karriereratgeber“ des Magazins Computerwoche teilgenommen haben. Dort haben wir gezielt Menschen mit Behinderungen zu Jobs in der IT-Branche beraten.
Auch jetzt noch können Interessierte auf der Plattform regelmäßig mit Insidern in Kontakt treten und ihnen Fragen stellen – zum Beispiel zu deren Arbeitsalltag, dem Ablauf der Mitarbeitersuche in Unternehmen und zu den nötigen Qualifikationen für verschiedene Berufsbilder in der Branche.

Wie war die Resonanz auf das Angebot?

Gut! Wir bekamen einige Anfragen über das Online-Forum und hatten außerdem auch direkten Kontakt mit Interessierten. Der schöne Nebeneffekt für uns als Unternehmen ist, dass wir durch solche Aktionen am IT-Arbeitsmarkt mittlerweile als Inklusionstreiber gesehen werden. Und das schlägt sich unter anderem darin nieder, dass wir inzwischen mehr qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber auf ausgeschriebene Stellen haben. Wir hoffen, damit unseren Bedarf an neuen Experten nach und nach zu decken und zugleich anderen vorleben zu können, wie angewandte Inklusion in der IT-Branche funktioniert.

Welche Fragen wurden Ihnen während dieser Woche am häufigsten gestellt, wo gibt es also besonderen Informationsbedarf?

Es haben vor allem sehr viele junge Menschen mit Behinderungen Kontakt mit uns aufgenommen. Sie möchten nach der Schule gern in einem Beruf in der IT-Branche arbeiten, wissen aber nicht, wie sie sich dafür qualifizieren müssen und können. Wir haben sie im Rahmen der Aktionswoche zu den Weiterbildungsmöglichkeiten in der Branche informiert. Es gibt beispielsweise gute IT-Fernstudiengänge oder auch duale Ausbildungen, die einen stärkeren Praxisbezug haben. Solche dualen Studiengänge bieten wir zum Beispiel auch selbst an, und zwar gemeinsam mit dem Institut für Softwaretechnik und Outsourcing an der FH Wedel.
Ein weiteres großes Thema war das der Teilhabe, also die Frage danach, wie die berufliche Inklusion in einem IT-Unternehmen funktioniert. Das hatte ich als Inklusionsbeauftragte schon erwartet. Die große Frage dahinter ist immer die gleiche: Wie können Strukturen und die Verhaltensweisen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einem Unternehmen so verändert, gefördert und gelebt werden, dass alle gleichberechtigt sind und gut arbeiten können?

Und wie geht das?

Eine große Verantwortung haben immer die Köpfe eines Teams, also die Chefs. Durch eine klare Aufgabenverteilung und die begleitende Kommunikation im Berufsalltag können sie entscheidend dazu beitragen, dass die inklusive Zusammenarbeit im Team möglich wird. Umgekehrt sollten Menschen mit Behinderungen schon im Bewerbungsprozess darauf achten, ob die vorgegebenen Strukturen passend für gelebte Teilhabe sind. Für solche Fragen sind vor allem die Inklusionsbeauftragten eines Unternehmens sehr wichtige Ansprechpersonen, vor allem für neue Jobanwärterinnen und -anwärter.

Was war die ungewöhnlichste Frage, die Sie während der Kampagne gehört oder gelesen haben?

Dazu muss ich ein wenig ausholen. Ich habe in meinem Beruf täglich mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beziehungsweise Bewerberinnen und Bewerben zu tun, die eine Behinderung haben. Das ist für uns Alltagsroutine und ganz normal. In vielen anderen Unternehmen und auch in der Gesellschaft ist das aber leider noch nicht so. Bei einigen Anfragen zeigte sich dann, dass manche Menschen mit Behinderungen gar nicht so recht wissen, ob sie ihre Behinderung im Bewerbungsprozess überhaupt erwähnen sollten. Diese Unsicherheit entsteht häufig aus der Sorge vor Nachteilen.
Ich sehe das aber so: Wenn man in einem Umfeld arbeitet, in dem schon durch den Job viel von einem gefordert wird, ist es besonders wichtig, offen mit den persönlichen Bedingungen und eventuellen Einschränkungen umzugehen. Das ist sogar eine Voraussetzung dafür, einen vertrauensvollen und konfliktfreien Umgang mit Kolleginnen und Kollegen oder den Führungskräften zu erreichen. Deshalb ist mein Rat: Geht von Beginn an offen mit eurer Behinderung um. Stört euch nicht an Fragen und Unsicherheiten eures Umfelds, sondern nehmt sie als Chance an. Unsicherheiten sind menschlich und gehören von beiden Seiten dazu. Je offener ihr also selbst mit eurer Behinderung seid, desto größere Chancen entstehen auch für die Menschen in eurem Arbeitsumfeld, respektvoll und selbstverständlich damit umzugehen.






Impfen, füttern, ausmisten: Wie ein 19-Jähriger seinen Traumjob fand

Tobias Koddebusch steht im Stallgang zwischen zwei großen Sauenboxen. Er greift einen großen Schwung Heu aus einer Schubkarre und stopft das Futter in die Raufe der rechten Box. Unter dem Behälter drängeln sich schon einige Sauen, die ungeduldig die ersten Halme herausrupfen. „Die Schweine müssen sich schon etwas anstrengen, um das Heu aus den kleinen Löchern der Raufe zu ziehen“, erklärt der 19-Jährige. „Das ist für sie wie ein Spiel und deshalb eine gute Beschäftigung.“ Er versorgt auch die Sauen in der anderen Box mit Heu, dann geht er weiter in den nächsten Stallbereich, schnappt sich die Mistschaufel und macht sich daran, die Boxen der Mutterschweine und Ferkel auszumisten.

Seit gut zwei Jahren kümmert sich Tobias Koddebusch zusammen mit zwei Kollegen um die rund 550 Tiere, die auf dem Hof der Bertelsbeck GbR im münsterländischen Coesfeld leben. Mit der Arbeitsstelle hat sich der größte Traum des jungen Mannes erfüllt, der das Down-Syndrom hat. Er wollte schon als kleiner Junge später einmal Landwirt werden, denn seine Eltern führen selbst einen landwirtschaftlichen Betrieb im 40 Kilometer entfernten Lüdinghausen. Dem 19-Jährigen sind die Arbeiten rund um Hof und Tiere also schon lange vertraut.

Wegen seiner Behinderung war es für Tobias Koddebusch aber trotzdem nicht selbstverständlich, dass er seinen Traumberuf auch tatsächlich ergreifen konnte. Nachdem er die Hauptschule abgeschlossen hatte, stand er vor der Frage, ob er in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung arbeiten sollte oder ob er eine Stelle in einem Inklusionsbetrieb finden würde. „Ich bin dann hier gelandet“, sagt er strahlend. „Und hier bin ich sehr glücklich.“

Tobias Koddebusch mistet gerade in seiner Arbeitskleidung den Schweine-Stall aus.
Der junge Mann macht alle Aufgaben gerne, auch das Ausmisten des Stalls. Foto: LWL/Busch

Inklusion aus Überzeugung

Den Weg in diesen Beruf ebnete ihm zu einem großen Teil die Betriebsleiterin Silke Witte. Gemeinsam mit ihren Arbeitgebern Alois Homann und Bernhard Langehaneberg machte sie aus der Bertelsbeck GbR das inklusive Unternehmen, das sie heute ist – aus Überzeugung und Leidenschaft für das Konzept. „Mein Vater leitet in Münster auch einen inklusiven landwirtschaftlichen Betrieb, in dem ich sehr viele Erfahrungen sammeln konnte“, erzählt die 33-Jährige. „Die tolle Stimmung dort hat mich total begeistert. Das wollte ich auch machen.“
Nach ihrer Landwirtschaftslehre absolvierte Silke Witte eine Fortbildung zur staatlich geprüften Agrarbetriebswirtin, seit 2015 leitet sie den Hof in Coesfeld im Auftrag der Bertelsbeck GbR. Als im Jahr 2016 ein Kollege in den Ruhestand ging, wurde eine Stelle frei. Die Betriebsleiterin nutzte die Gelegenheit und wandte sich an Mechthild Schickhoff, die Inklusionsberaterin der Landwirtschaftskammer NRW. Sie stellte den Kontakt zu Tobias Koddebusch her, der zunächst ein Jahrespraktikum im Betrieb machte. Heute ist er als landwirtschaftlicher Helfer fest bei der Bertelsbeck GbR angestellt.

Enge Zusammenarbeit und Unterstützung

An vier Tagen pro Woche hilft der junge Mann im Stall mit. Eine seiner Hauptaufgaben ist es, die Ferkel zu versorgen. Drei Tage nach der Geburt impft er die Tiere gegen verschiedene Krankheiten, setzt ihnen Ohrmarken und kupiert die Schwänze. All das hat er in Coesfeld gelernt, denn auf dem Hof seiner Eltern werden keine Ferkel, sondern nur etwas ältere Jungsauen aufgezogen. „Am Anfang war das merkwürdig für mich, ich musste so viel Neues lernen und behalten“, erinnert er sich. Silke Witte und ihr Kollege Markus Schwaag begleiteten ihn während dieser Phase eng und unterstützen ihn auch heute noch bei seinen Aufgaben.

Als die Mittagspause vorbei ist, steht für Tobias Koddebusch die Ferkelfütterung auf dem Plan. Silke Witte hilft dabei, die richtigen Futtermengen abzumessen. „Wie viel Trockenfutter die Tiere bekommen, hängt von ihrem Alter ab“, sagt die Betriebsleiterin. „Tobias hat manchmal Schwierigkeiten, das genau auszurechnen.“ Es stört sie aber nicht, dass ihr Helfer ab und zu mehr Unterstützung braucht als andere Mitarbeiter. „Ich muss damit umgehen können, dass manches einfach etwas länger dauert oder öfter wiederholt werden muss“, sagt Silke Witte. „Aber das geht gut. Für uns und unser Team ist die Zusammenarbeit eine Bereicherung und wir haben dabei immer viel Spaß miteinander.“

Silke Witte und Tobias Koddebusch auf dem Hof
Tobias Koddebuschs Chefin Silke Witte hat sich damals dafür eingesetzt, einen Mitarbeiter mit Behinderung einzustellen. Foto: LWL/Busch

Lieblingsaufgabe: Stall waschen

Das Trockenfutter für alle Schweine-Altersgruppen steht bereit, Silke Witte verlässt den Stall wieder: den Rest kann Tobias Koddebusch allein. Er teilt den Ferkeln ihre Portionen zu und schaut sich nebenbei jedes Tier ganz genau an. Die Schweine könnten trotz der Impfungen krank werden. „Wenn ich bemerke, dass ein Tier Durchfall oder Husten hat, sage ich sofort den Kollegen Bescheid“, erklärt der junge Mann. „Sie versorgen es dann, damit es ihm schnell besser geht.“ Nach dem Füttern fegt er die Gänge in den Ställen und mistet noch einmal aus. Dann tauscht er seine Arbeitskleidung gegen einen wasserfesten Overall und Ohrenschützer. Er grinst dabei die ganze Zeit, denn jetzt kommt seine Lieblingsaufgabe: den Stall waschen. Wie jeden Mittwoch säubert er mit dem Hochdruckreiniger die Boxen, die nach dem Verkauf einiger Jungschweine freigeworden sind.

Schnell ist alles blitzsauber und bereit für die neuen Ferkel, die in den nächsten Tagen geboren werden. Tobias Koddebusch hängt seinen Overall zum Trocknen auf, zieht Jeans und Pullover an und holt sein E-Bike aus dem Büro. Eine Stunde wird er für den Heimweg brauchen. Insgesamt ist er jeden Tag zwei Stunden unterwegs: Morgens fährt er mit dem Rad vom Hof seiner Eltern zum Bahnhof in Lüdinghausen, von dort mit der Bahn nach Coesfeld und dann wieder mit dem Fahrrad zu seinem Arbeitsplatz, abends denselben Weg zurück. „Die Strecke macht mir aber gar nichts aus“, sagt er. „Ich freu mich schon auf morgen!“





Ohne Umwege in den Beruf

Frau Lebek, wie kamen Sie und Ihr Team auf die Idee, ein Job-Speed-Dating für Schülerinnen und Schüler mit Handicap zu organisieren?

Karin Lebek: Das Konzept, das es schon in anderen Regionen und Städten gibt, wollten wir gern nach Westfalen-Lippe holen. Unser Ziel war und ist es, Unternehmen durch kurze Gespräche und auf dem „schnellen Weg“ mit Schülerinnen und Schülern zusammenzubringen und so erste Kontaktpunkte herzustellen.
Dabei haben wir eng mit der Großkundenberatung der Bundesagentur für Arbeit zusammengearbeitet. Wir wollten gemeinsam möglichst vielen jungen Leuten Perspektiven bieten, zum Beispiel Anlern- oder Helfertätigkeiten, Praktika, Einstiegsqualifizierungen, Ausbildungen zu machen.
Für beide Seiten hat das gut funktioniert: Die Schülerinnen und Schüler konnten beim Job-Speed-Dating erste berufliche Kontakte knüpfen. Und die Vertreterinnen und Vertreter der Unternehmen konnten junge Nachwuchstalente kennenlernen und sich einen Eindruck von deren Persönlichkeiten und Fähigkeiten verschaffen.

Wen wollten Sie mit dieser Aktion ansprechen?

Carsten Roman: Wir wollten Schülerinnen und Schüler zum Mitmachen anregen, die über das NRW-Projekt KAoA-STAR durch einen Integrationsfachdienst unterstützt werden. Darunter sind zum Beispiel junge Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung, Autismus-Spektrum-Störungen oder auch solche, die sonderpädagogisch gefördert werden, zum Beispiel wegen körperlicher, motorischer oder geistiger Entwicklungsstörungen, Seh- oder Hörbehinderungen oder wegen Handicaps in Kommunikation und Sprache. Sie alle absolvieren im Moment das neunte beziehungsweise vorletzte Schuljahr.

Werden diese Schülerinnen und Schüler denn beim Berufseinstieg schon begleitet, abgesehen vom Job-Speed-Dating?

Karin Lebek: Ja, mit dem besagten Projekt des Landes NRW KAoA-STAR. Die Abkürzungen bedeuten „Kein Abschluss ohne Anschluss“ und „Schule trifft Arbeitswelt“. Insgesamt gibt es 20 Integrationsfachdienste im Westfalen-Lippe, bei denen die dort arbeitenden Fachkräfte junge Menschen beim Übergang von der Schule in den Beruf unterstützen. Sie begleiten die Jugendlichen also auch bei der Berufsorientierung.
Beim Job-Speed-Dating waren unsere Leute aus den Integrationsfachdiensten Gelsenkirchen, Bottrop und Gladbeck, Dortmund, Hagen und Ennepe-Ruhr sowie Bochum und Herne beteiligt. Sie haben mit den Schülerinnen und Schülern zum Beispiel Bewerbungsunterlagen vorbereitet und ihnen dabei geholfen, sich über Unternehmen vorab zu informieren. Außerdem überlegen sie mit ihnen gemeinsam, welcher Berufsweg für sie der richtige sein könnte.

Melissa Adem und Daniel-Joel Meißner
Die beiden Schüler Melissa Adem und Daniel-Joel Meißner nutzten das Job-Speed-Dating in Dortmund, um sich über Handwerksberufe im Elektrobereich zu informieren.
Foto: LWL/Rütershoff | Bearbeitung: LWL

Wie muss ein solches Job-Speed-Dating organisiert sein, damit es gut funktioniert und Erfolge bringt?

Carsten Roman: Das beginnt schon bei der Anreise der Schülerinnen und Schüler. Wir haben das in zwei „Wellen“ organisiert und so dafür gesorgt, dass nicht alle 120 jungen Menschen auf einmal in Dortmund ankamen. So hatte jede und jeder genug Zeit für die Gespräche, die ja auch aufregend für die jungen Leute sind.
Die Schülerinnen und Schüler wurden teilweise auch von ihren Lehrerinnen und Lehrern begleitet. Sie haben die Gespräche an sich aber ganz eigenständig geführt. Das war uns und ihnen sehr wichtig. Die Räumlichkeiten, in denen das Speed-Dating stattfand, waren außerdem barrierefrei, zum Beispiel auch dank der technischen Ausstattung, die es dort gab. Damit konnten auch junge Leute mit Hörbehinderung ohne Probleme teilnehmen. Wichtig war natürlich auch die Privatsphäre bei den Unterhaltungen. Deshalb haben wir Trennwände zwischen den Tischen der einzelnen Unternehmen aufgestellt. Und wir haben Gebärdensprachdolmetscherinnen und -dolmetscher engagiert, um eine reibungslose Kommunikation sicherzustellen.

Gab es Aspekte, auf die die teilnehmenden Unternehmen achten mussten?

Karin Lebek: Die Firmen haben uns im Vorfeld mitgeteilt, welche beruflichen Möglichkeiten und Perspektiven es in ihren Unternehmen gibt, so dass die Gespräche und Zusammensetzungen schon vorher geplant werden konnten. Umgekehrt haben wir den Unternehmen, Betrieben und Institutionen viel über die Schülerinnen und Schüler erzählt und diesen je ein Infopaket zur Verfügung gestellt. Darin konnten sie nachlesen, wie sie vom Land und vom Bund bei der Beschäftigung von Menschen mit einer (Schwer-)Behinderung unterstützt werden können. Einige Unternehmen und Betriebe beschäftigen aber zum Teil sowieso schon Menschen mit Handicaps und kennen sich mit dem Thema aus.

Was war für Sie persönlich besonders positiv?

Carsten Roman: Zum einen die hohe Anzahl an Teilnehmerinnen und Teilnehmern: Es waren etwa 120 junge Menschen mit dabei, die auf elf Unternehmen unterschiedlicher Branchen trafen. Neben Großunternehmen waren auch Inklusionsbetriebe angereist. Die Schülerinnen und Schüler konnten sich zusätzlich von der Landwirtschaftskammer, der Handwerkskammer und der regionalen Agentur für Arbeit Dortmund beraten lassen.
Und ich fand es toll, dass auch einige Auszubildende aus den Unternehmen mitgereist waren. Das hat die Atmosphäre und auch den Wissenstransfer sehr positiv beeinflusst, weil diese jungen Menschen ja schon von ihren eigenen Erfahrungen in den Betrieben berichten konnten. Außerdem sind alle, die von Arbeitgeberseite mit dabei waren – die Vertreterinnen und Vertreter der Unternehmen, die der Kammern und die der Agentur für Arbeit – sehr offen und wertschätzend mit den Jugendlichen umgegangen.

Was waren für Sie die wichtigsten Ergebnisse des Tages?

Karin Lebek: Zunächst einmal konnten sich die Schülerinnen und Schüler in den persönlichen Gesprächen gut über Perspektiven im jeweiligen Betrieb informieren. Sie haben also einen guten Eindruck davon bekommen, welche Möglichkeiten ihnen offenstehen. Aus den Gesprächen haben sich schon einige Praktika ergeben und möglicherweise auch eine Ausbildung. Genaueres wird die Auswertung der Veranstaltung zeigen: Wir aktualisieren den Stand dieser Analyse regelmäßig im Abstand von drei Monaten.

Planen Sie schon ein zweites Job-Speed-Dating?

Carsten Roman: Ja, in Dortmund wird die nächste Veranstaltung voraussichtlich im September 2019 stattfinden, denn wir haben sehr viel positives Feedback von allen Beteiligten bekommen. Kurz nach der Veranstaltung haben wir die Schülerinnen und Schüler nach ihren Eindrücken befragt. Dabei kam heraus, dass die jungen Leute das Speed-Dating mit einem positiven Gefühl verlassen haben. Auch die Unternehmen haben uns gespiegelt, dass es eine gelungene Veranstaltung war. Die Jugendlichen waren aus Sicht der Firmen sehr gut vorbereitet. Einige der Unternehmen planen jetzt – auch als Reaktion auf das Job-Speed-Dating – noch mehr Perspektiven in ihren Betrieben für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung zu schaffen. Das freut uns natürlich sehr und wir können uns deshalb auch gut vorstellen, das Konzept auf weitere Regionen in Westfalen-Lippe auszuweiten.


Über unsere Interviewpartner:innen





Computerschrift zeigt Gefühle

Herr Schlippe, Sie haben 2015 Ihr Startup Silicon Surfer gegründet und es zuerst in Teilzeit betrieben, ab Anfang 2018 dann in Vollzeit. Kurz danach haben Sie „WaveFont“ entwickelt. Was ist das für eine Software und was hat sie mit Inklusion zu tun?

WaveFont ist eine Technologie, mit der es zum ersten Mal möglich ist, Informationen in Filmen einzubinden, von denen Menschen mit einer Hörbehinderung bisher oft ausgeschlossen waren. Diese Infos können nämlich nur hörende Menschen entschlüsseln – zum Beispiel die Betonung und die Geschwindigkeit, mit der Menschen in einem Film sprechen oder die Pausen, die sie einlegen. Mit meiner Software werden solche Emotionen in der Sprecherstimme automatisch analysiert und können dann in den Untertiteln eines Videos dargestellt werden.

Wie genau funktioniert die Software?

Der Ausgangspunkt ist die gesprochene Sprache. Sie ist entweder in der Audiospur eines Videos vorhanden oder sie wird über ein Mikrofon aufgenommen. WaveFont analysiert die Aussprache der Sätze, Wörter und einzelnen Buchstaben. Aktuell werden die Geschwindigkeit und Lautstärke des Gesprochenen ausgewertet und anschließend in Zahlen umgewandelt. Dafür setzen wir Künstliche Intelligenz und Machine-Learning-Technologien ein.
Im nächsten Schritt werden diese Zahlenwerte in Schrift umgewandelt. Ein laut gesprochenes Wort wird zum Beispiel in fetter Schrift dargestellt, die beim Lesen automatisch mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ein sehr langsam gesprochenes Wort erzeugt dagegen breite Buchstaben. Daraus entstehen breitere Wörter, für die man automatisch mehr Zeit zum Lesen braucht – und damit verlangsamt sich der Lesefluss. Das sind nur zwei Beispiele. WaveFont kann auch noch weitere, individuelle Merkmale in Untertiteln umsetzen, die ganz auf die Bedürfnisse der jeweiligen Zielgruppe zugeschnitten werden können.

Das sind ja vor allem gehörlose Menschen. Woher wussten Sie, dass eine solche Technologie gebraucht wird?

Weil ich bei deutschen Gehörlosenvereinen und -verbänden genau dazu Umfragen durchgeführt habe. Die Antworten zeigten, dass es einen deutlichen Bedarf für emotionalere Untertitel gibt. 98% der Befragten finden, dass so eine Technologie einen Mehrwert für sie hätte und würden WaveFont-Untertitel auch gern nutzen. Übrigens profitieren auch hörende Menschen von dieser emotionalen Darstellung von Schrift, zum Beispiel, wenn sie auf ihren Smartphones Videos ohne Ton schauen möchten. Oder Menschen, die gerade eine fremde Sprache lernen: Sie werden durch die visuellen Informationen in den Untertiteln zusätzlich beim Lernen unterstützt.


WaveFont in Aktion

Fußball ist ein sehr emotionaler Sport – für die Spieler auf dem Platz, für die Zuschauer, aber auch für die Sportjournalisten, die das Spiel aus dem Off beobachten und kommentieren. Der folgende Ausschnitt aus einem Spiel der Fußball-WM zeigt, wie mit WaveFont die Betonungen in der Stimme des Kommentators über die Untertitel transportiert werden (Video unten).

An die Hörenden unter euch: Schaltet doch mal den Ton aus und lest nur mit, während das Video läuft. Ihr werdet merken, dass es etwas Übung braucht, um die Betonungen richtig zu lesen – aber auch, dass die WaveFont-Untertitel wirklich mehr als nur inhaltliche Informationen transportieren können.
Wenn ihr noch mehr Video-Beispiele sehen wollt, schaut doch einfach auf der WaveFont-Facebookseite vorbei oder besucht den Instagram-Account von Silicon Surfer.

Warum reicht die bisherige Darstellung von Untertiteln für gehörlose Menschen nicht aus?

Weil menschliche Sprache ja nicht nur aus neutralen Informationen besteht. Der Tonfall und viele andere kleine Merkmale lassen Rückschlüsse auf den Charakter oder die Stimmung eines Menschen zu. Ist der Sprecher vielleicht gerade traurig und spricht deshalb sehr leise und langsam? Oder macht er gerade einen Witz und spricht dadurch eher laut und schnell? Vor allem dann, wenn jemand in einem Video aus dem „Off“ spricht, seine Mimik also nicht zu sehen ist, können Menschen mit einer Hörbehinderung solche Botschaften gar nicht entschlüsseln. Sie sind von diesen wichtigen Zusatzinformationen also komplett ausgeschlossen, und da helfen „normale“ Untertitel eben auch nicht weiter. Mit WaveFont will ich das ändern – und so langfristig zu mehr Barrierefreiheit und Inklusion im öffentlichen Raum beitragen.

Und wie finanzieren Sie Ihr Projekt?

Am Anfang durch eine erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne bei Startnext. Damit hatte ich die finanziellen Mittel, um die Technologie von Grund auf zu entwickeln und weiterzudenken. Die Kampagne ist Ende August 2018 ausgelaufen, seither habe ich mein Angebot sogar noch erweitern können.

Ihre Technologie ist also schon im Einsatz?

Ja! Jeder, der gerade einen Film produziert, kann uns einfach ansprechen und uns um ein Angebot bitten (Kontaktdaten siehe unten). Unsere Kunden senden uns dafür zuerst ihr Video zu. Wir machen dann anhand der Länge und Komplexität des Filmmaterials ein Angebot. Wenn der Kunde damit einverstanden ist, beginnen wir mit der Arbeit. Zum Schluss liefern wir den Film mit den schon eingebundenen WaveFont-Untertiteln zurück. Interessant ist so etwas zum Beispiel für Unternehmen, die inklusive Imagefilme produzieren wollen, aber auch für Fernsehsender, Filmproduzenten, Video-On-Demand-Anbieter, Mediathek-Betreiber oder Werbeagenturen. Im Prinzip können uns aber auch Privatpersonen ihre Filme zuschicken.


Gibt es WaveFont auch in anderen Sprachen?

Ja, neben Deutsch setze ich Video-Untertitel in englischer und in spanischer Sprache um. Dieses Angebot möchte ich jetzt schrittweise noch weiter ausbauen. Mein Ziel ist es, diesen Service eines Tages in sehr vielen anderen Sprachen anzubieten, damit weltweit Menschen davon profitieren können.

Was ist Ihr Plan für die Zukunft?

Ich will WaveFont eines Tages als Standardtechnologie etablieren. Dafür mache ich jetzt schon Kampagnen, weil diese Art von Untertiteln ja doch eine sehr neue Art ist, einen Film oder ein Video zu erleben. Außerdem will ich Gehörlose und Menschen mit Hörbehinderung weiterhin in den Prozess einbinden, um die Technologie für sie optimal weiterzuentwickeln. Dafür könnte ich mir zum Beispiel auch weitere Studien mit den Gehörlosen-Verbänden gut vorstellen.