Die Inklusion auf dem Arbeitsmarkt ist im Aufschwung

Die Situation in der Arbeitswelt verbessert sich für Menschen mit Behinderung stetig – das bestätigt das Inklusionsbarometer Arbeit 2018 auch in diesem Jahr wieder. Für diese Studie untersucht die Aktion Mensch seit fünf Jahren mit wissenschaftlichen Methoden, wie sich die Inklusion auf dem deutschen Arbeitsmarkt entwickelt. Wie schon in den vergangenen Jahren befragte die Stiftung dafür sowohl Unternehmen als auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Behinderung. Und sie arbeitete eng mit dem Handelsblatt Research Institute zusammen.

Arbeitslosenquote sinkt

Die beste Nachricht aus der Studie ist: Die Quote von Menschen mit Behinderung, die keinen festen Arbeitsplatz haben, wird geringer.
Dazu passt auch der Zahlenwert, mit dem das Inklusionsbarometer die Entwicklung des Arbeitsmarktes im Bereich Inklusion insgesamt anzeigt. Dieser ist dieses Jahr so hoch wie noch nie seit Erscheinen des ersten Inklusionsbarometers vor fünf Jahren (2013): Er liegt bei 107,2 Punkten im Vergleich zu 105,1 Punkten im Jahr 2017. Die Zahl drückt aus, ob sich der Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung insgesamt eher positiv oder eher negativ entwickelt. Wenn der Wert unter Hundert sinkt, bedeutet das eine Verschlechterung; steigt er über Hundert, ist die Arbeitsmarkt-Inklusion auf einem guten Weg. Und diese erfreuliche Entwicklung konnten die Forscherinnen und Forscher auch dieses Jahr wieder beobachten.

Illustration der Aktion Mensch mit den Zahlen aus dem Inklusionsbarometer Arbeit 2018.
Die wichtigsten Ergebnisse des Inklusionsbarometers 2018 als Grafik. Illustration: Aktion Mensch

Ostdeutschland hat die Nase vorn

Für die Studie wurde Deutschland in sechs Regionen aufgeteilt: Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und in die Region Ostdeutschland (Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen).
Alle sechs verbesserten sich im Vergleich zum Vorjahr. An der Spitze steht erneut die Region Ostdeutschland mit einem Wert von 111,9 (Vorjahr: 109,9), das Schlusslicht ist weiterhin Niedersachsen mit einem Wert von 103,8 (Vorjahr: 102,0).

Noch viel zu tun

Es gibt aber auch schlechte Nachrichten, vor allem im Vergleich zur Situation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ohne Behinderung. Die Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderung ist nach wie vor doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Behinderung (11,7 Prozent im Vergleich zu 5,7 Prozent). Auch der Anteil der Langzeitarbeitslosen unter arbeitslosen Menschen mit Schwerbehinderung (44,4 Prozent) ist deutlich höher als bei den allgemeinen Arbeitslosen (35,6 Prozent). Und Menschen mit Behinderung brauchen im Schnitt auch länger als Menschen ohne Handicap, um eine neue Stelle zu finden: Sie suchen rund 366 Tage nach einem neuen Job. Das sind 104 Tage mehr als bei allen anderen.




Was genau ist das „Budget für Arbeit“?

Herr Wedershoven, wie würden Sie einem Außenstehenden in wenigen Sätzen das Budget für Arbeit erklären, das Anfang 2018 im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes in ganz Deutschland eingeführt wurde?

Das Budget für Arbeit ist kein „Budget“ im eigentlichen Sinne, sondern eine Sammlung verschiedener Geldleistungen und Förderangebote. Diese sind dazu da, Menschen mit (schweren) Behinderungen dabei zu unterstützen, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, die aktuell noch in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) arbeiten oder kurz davor sind, zum Beispiel aus der Förderschule dorthin zu wechseln. Darüber hinaus können sich Menschen mit Behinderung und deren Arbeitgeber von Fachleuten der örtlichen Inklusionsfachdienste (IFD) begleiten lassen, damit die Zusammenarbeit für beide Seiten von Anfang an optimal gestaltet werden kann. Die Förderangebote richten sich aber nicht nur an Arbeitssuchende mit Behinderung selbst, sondern auch an Betriebe, die gern Menschen mit Behinderung einstellen möchten.

Was haben die Arbeitgeber davon?

Wenn sie neue Arbeitsplätze für Menschen mit Handicap schaffen, haben sie meist einen höheren Betreuungsaufwand und mehr Kosten, weil die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderung oft etwas langsamer arbeiten oder mehr Pausen einlegen müssen. Dafür bekommen die Unternehmen aber dann einen finanziellen Ausgleich über das Budget für Arbeit, den so genannten Nachteilsausgleich.

Wie ist dieses Programm entstanden – und wie verändert es das (Arbeits-)Leben von Menschen mit Behinderung?

In Nordrhein-Westfalen gibt es das Budget für Arbeit schon seit fast zehn Jahren – es hieß nur lange Zeit anders beziehungsweise war etwas anders aufgestellt. In Westfalen wird es vom LWL organisiert und finanziert, im Rheinland ist der Landschaftsverband Rheinland (LVR) zuständig. Angefangen hat in Westfalen alles mit den Programmen „aktion5“ und „Übergang plus“. Damit wurden zum Beispiel Schülerinnen und Schüler schon vor dem Schulabschluss mit einem so genannten „Vorbereitungsbudget“ für den späteren Berufsalltag in einem regulären Betrieb unterstützt. Auch Menschen, die schon einen solchen Job oder eine Ausbildung angefangen hatten, konnten mit „aktion5“ bestimmte Leistungen nutzen, die sie im Arbeitsalltag unterstützt haben – zum Beispiel Computerkurse. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) wurden zusätzlich mit dem Programm „Übergang plus“ dabei unterstützt, auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu wechseln.

Bekamen auch die Arbeitgeber in diesen beiden Modellen Unterstützung?

Ja, für sie gab es in beiden Programmen unter anderem Prämien, wenn sie einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz für einen Menschen mit schwerer Behinderung in ihrem Betrieb geschaffen hatten, und natürlich auch Lohnkostenzuschüsse. Mit „aktion5“ wurden so zwischen 2008 und 2017 insgesamt rund 8.500 Menschen oder Betriebe gefördert, mit „Übergang plus“ schafften rund 850 Menschen den Sprung aus der Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt.

Hat sich seit Anfang 2018 etwas verändert, als dieses Konzept unter dem Namen „Budget für Arbeit“ in ganz Deutschland eingeführt wurde?

Die Struktur wurde etwas verändert, ja. Aus zwei Programmen mit mehreren Modulen wurde ein Programm mit vier Modulen. Insgesamt ist der Ansatz aber gleich geblieben. Wir gehen fest davon aus, dass mit dieser Ausweitung des Programms auf ganz Deutschland noch viel mehr Menschen die Chance bekommen werden, aus der Schule oder aus Werkstätten in ein reguläres Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnis zu wechseln – also einen tariflich bezahlten, unbefristeten Arbeitsplatz zu finden, mit dem sie ihren Lebensunterhalt eigenständig finanzieren können.

Für wen ist dieses neue „Budget für Arbeit“ gedacht und wer kann es beantragen?

Das Programm richtet sich an Schülerinnen und Schüler aus Förderschulen, die kurz vor dem Abschluss stehen, aber auch an Menschen, die sich aktuell noch in psychiatrischen Einrichtungen befinden und wieder in den Arbeitsmarkt einsteigen möchten. Eine wichtige Zielgruppe sind auch Personen, die in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) arbeiten und wechseln wollen. Wir wollen also vor allem Arbeitsuchende erreichen, die vor der Entscheidung stehen, ob sie in einer Werkstatt anfangen beziehungsweise weiterarbeiten möchten oder ihren Weg auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt machen wollen. Wir begleiten auf diese Weise viele Menschen mit Behinderung sehr frühzeitig auf ihrer beruflichen Laufbahn, zeigen Chancen auf und helfen, die Weichen zu stellen. Das Ziel ist immer, sie auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln – das ist unsere wichtigste Botschaft und auch der Kern des Programms.

Wo sehen Sie Schwierigkeiten? Hören Sie auch kritische Stimmen von Menschen mit Behinderung, die das Budget für Arbeit nutzen?

Insgesamt kommen die Förderangebote sehr gut an, weil sie einfach viele tolle Chancen eröffnen und wir schon sehr viel damit erreicht haben. Aber sie greifen stellenweise leider immer noch zu kurz. Viele Menschen, die Leistungen aus dem Budget für Arbeit beantragt haben, finden sie zu gering. Manche Angebote wiederum können nur Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung nutzen, obwohl sie vielleicht auch für Menschen mit geringeren Behinderungen sinnvoll wären. Über das Budget für Arbeit werden leider auch keine schulischen Ausbildungen gefördert, was ebenfalls ein Manko ist. Und bei Werkstattwechslerinnen und -wechslern kann es vereinzelt vorkommen, dass ihre Rente geringer ausfällt, wenn sie auf einem regulären Arbeitsplatz ihr Geld verdienen, als wenn sie in der Werkstatt bleiben würden.

Können Sie als großer Träger von Sozialhilfeleistungen diese Probleme selbst angehen?

Nur zum Teil, weil die Zusammenhänge komplex sind: Oft sind uns durch die aktuelle Gesetzgebung die Hände gebunden, manchmal dürfen wir nur aus bestimmten Töpfen Geld schöpfen und kommen damit einfach nicht hin. Aber wie gesagt: Insgesamt ist das Budget für Arbeit ein sehr gutes Konzept, weil es das erreicht, was es soll: Möglichst viele Menschen mit Behinderung auf unbefristete Arbeitsplätze vermitteln und sie dauerhaft dort halten.

Nun gibt es seit 2008 auch noch das so genannte „Persönliche Budget“, das wieder häufiger Thema in den Medien war, seit das Bundesteilhabegesetz in Kraft getreten ist. Wo liegt der Unterschied zum Budget für Arbeit?

Grob erklärt ist das Persönliche Budget ein monatlicher Geldbetrag, der vom Staat allen Menschen mit einer anerkannten Behinderung zur Verfügung gestellt wird, wenn diese einen Anspruch auf eine Leistung der Eingliederungshilfe haben. Sie können damit dann bestimmte Leistungen bezahlen, zum Beispiel eine Einkaufshilfe oder einen Sprachcomputer – je nachdem, was gebraucht und gewünscht ist. Das Budget für Arbeit dagegen ist ein gezieltes Förderprogramm, mit dem Menschen mit schweren Behinderungen durch verschiedene Leistungen Chancen eröffnet werden sollen, aus einer Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu wechseln. Beide Budgets haben aber im Grunde das gleiche Ziel: Menschen mit Behinderung sollen selbst bestimmen können, wie sie ihr Leben gestalten möchten, und sie sollen sich dieses Leben auch selbst finanzieren können. Das geht aus unserer Sicht nur mit einem richtigen Job und einem vernünftigen Einkommen.





Unterstützen, beraten, begleiten: Schwerbehindertenvertretungen

Frau Wallmann, ab wann müssen Unternehmen in Deutschland eine Schwerbehindertenvertretung wählen lassen?

Wenn dauerhaft wenigstens fünf Menschen mit Schwerbehinderung in einer Firma arbeiten – oder Personen, die ihnen gleichgestellt sind –, dann dürfen sie zusammen eine so genannte Vertrauensperson und mindestens einen Stellvertreter wählen. Es können auch noch weitere Stellvertreter benannt werden, was spätestens bei mehr als 100 Mitarbeitern mit Schwerbehinderung im Betrieb auch sehr ratsam ist – die Vertrauensperson müsste sonst viel zu viele Aufgaben allein erledigen. Schwerbehindertenvertretungen können im Unternehmen sehr selbstständig agieren, sie brauchen keine Zustimmung des Betriebs- oder Personalrates, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Das ist bei Jugend- und Auszubildendenvertretungen zum Beispiel anders.

Warum sind Vertrauenspersonen und ihre Stellvertreter in einem Betrieb so wichtig?

Sie wahren die Interessen von Menschen mit Schwerbehinderung und sorgen zum Beispiel dafür, dass die Kolleginnen und Kollegen nicht benachteiligt werden. Dazu zählt unter anderem, dass Arbeitsplätze behinderungsgerecht gestaltet sein müssen. Die Schwerbehindertenvertretung achtet außerdem darauf, dass Arbeitgeber mit mehr als 20 Mitarbeitern ihren gesetzlichen Pflichten nachkommen und mindestens fünf Prozent der Arbeitsplätze mit Menschen besetzen, die eine Schwerbehinderung haben. Unternehmen sind auch zu präventiven Maßnahmen verpflichtet, um zu verhindern, dass betriebs-, personen- oder verhaltensbedingte Schwierigkeiten bei den Arbeitsverhältnissen auftreten. Sie müssen sich auch um Mitarbeiter kümmern, die länger als sechs Wochen innerhalb der vergangenen 12 Monate krank waren und wieder zur Arbeit zurückkehren möchten – das ist das so genannte Betriebliche Eingliederungsmanagement. Wenn ein Arbeitsplatz im Betrieb frei wird, prüft die Schwerbehindertenvertretung, ob die freie Stelle vielleicht für einen neuen Mitarbeiter mit Schwerbehinderung geeignet sein könnte. Und wenn es ein Vorstellungsgespräch gibt, sitzt sie immer mit am Tisch. Die Vertrauensperson berät die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Handicap auch, wenn sie eine Schwerbehinderung feststellen lassen wollen oder bei der Agentur für Arbeit eine Gleichstellung beantragen möchten.

Das klingt ja nach sehr viel Arbeit für die Vertretungen. Machen die das alles neben ihrem normalen Job?

Ja, die Interessenvertretungen arbeiten ehrenamtlich, sind aber zugleich Mitarbeiter in ihrem Betrieb. Deshalb haben sie das Recht, sich für diese Aufgaben freistellen zu lassen. Das heißt: Sie dürfen ihre beruflichen Pflichten reduzieren, ohne, dass sie weniger Lohn bekommen. Wie viel Zeit der Arbeitgeber dafür einräumen muss, hängt von der Anzahl der Menschen mit Schwerbehinderungen im Betrieb ab, aber auch von den Verhältnissen dort. Zum Beispiel spielen die Art und Schwere der Behinderungen eine Rolle oder die Lage der jeweiligen Arbeitsplätze, etwa die räumliche Entfernung zwischen einzelnen Betriebsteilen. Die Aufgaben der Schwerbehindertenvertretung haben zudem grundsätzlich Vorrang vor den betrieblichen Pflichten. Der Arbeitgeber muss also die Arbeit, die die Vertrauensperson für das Unternehmen erledigt, im Zweifel anders organisieren oder die Stelle sogar neu besetzen. Schwerbehindertenvertreter sollten ihre Tätigkeiten daher genau aufschreiben, um im Zweifel Auskunft darüber geben zu können, wie viel Zeit sie dafür aufgewendet haben.

Hefte zum Kursangebot des LWL-Inklusionsamts und zum Schwerbehindertenrecht.
Foto: Martin Steffen

Unterstützt auch der Gesetzgeber die Vertrauenspersonen?

Die Schwerbehindertenvertretungen haben beispielsweise das eben schon erwähnte Recht auf Freistellung, aber auch das so genannte „Initiativrecht für Maßnahmen“. Sie können also für Mitarbeiter mit Schwerbehinderung eigenständig Anträge stellen – etwa beim Arbeitgeber, bei den Inklusionsämtern oder bei den Rehabilitationsträgern. Die Vertrauenspersonen sollten allerdings den Arbeitgeber beziehungsweise den Inklusionsbeauftragten unterrichten, bevor sie externe Stellen einschalten.

Welche Rechte haben Schwerbehindertenvertretungen sonst noch?

Ganz wichtig ist das Recht auf Informationen durch den Arbeitgeber. Die Unternehmen sind hier in der Bringschuld: Sie müssen die Vertrauenspersonen unaufgefordert über alle Angelegenheiten im Betrieb informieren, von denen die Kollegen mit Behinderung betroffen sein könnten. Mindestens einmal im Jahr kann die Schwerbehindertenvertretung außerdem eine Versammlung abhalten, zu der alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Handicap kommen dürfen. Schwerbehindertenvertretungen dürfen auch an allen Sitzungen des Betriebs- oder Personalrats teilnehmen. Und wenn sie davon überzeugt sind, dass ein Beschluss dieses Gremiums die Interessen von Menschen mit Schwerbehinderung beeinträchtigt, können sie einen Antrag stellen, den Beschluss auszusetzen.

Können sich alle Beschäftigten eines Unternehmens als Schwerbehindertenvertreterin oder -vertreter aufstellen lassen – oder müssen sie bestimmte Qualifikationen mitbringen?

Theoretisch kann sich jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter eines Betriebs zur Wahl stellen. Dabei ist es egal, ob sie oder er selbst eine Behinderung hat, die Kandidaten müssen aber volljährig sein und dauerhaft seit mindestens sechs Monaten im Unternehmen arbeiten. Wahlberechtigt sind umgekehrt nur Menschen mit einer Schwerbehinderung oder Gleichstellung. Das anschließende Wahlverfahren ist davon abhängig, wie viele Menschen mit Handicap – und damit Wahlberechtigte – im Betrieb beschäftigt sind: Bei weniger als 50 genügt eine Versammlung mit einer geheimen und unmittelbaren Mehrheitswahl. Bei mehr als 50 Wahlberechtigten ist ein förmliches Wahlverfahren vorgeschrieben.
Vorkenntnisse braucht es für diese Aufgabe nicht. Allerdings sollten sich alle, die über so ein Ehrenamt nachdenken, bewusst mit den damit verbundenen Aufgaben und der Verantwortung auseinandersetzen. Die Vertrauenspersonen werden im Alltag oft angesprochen und um Rat gebeten, das gehört fest dazu. Zugleich müssen manche Beschäftigten erst davon überzeugt werden, dass es sich lohnt, die Unterstützung der Schwerbehindertenvertretung anzufragen. Das nötige Wissen für ihre Aufgaben können sich die Vertrauenspersonen nach und nach aneignen. Die Inklusionsämter in NRW bieten dafür eine ganze Reihe Kurse und Informationsveranstaltungen an.

Die Vertreter sind in ihren Betrieben also nicht auf sich allein gestellt?

Nein, im Gegenteil können sie auf ein sehr großes Netzwerk zurückgreifen. Dazu gehören neben den Inklusionsämtern auch die Integrationsfachdienste, die Agentur für Arbeit oder die Rehabilitationsträger. In NRW stehen außerdem die örtlichen Fachstellen bei den Städten und Kreisen als Ansprechpartner bereit.

Was ändert sich ab 2018 durch das Bundesteilhabegesetz?

Ab 2018 dürfen Arbeitgeber zum Beispiel ein Arbeitsverhältnis nicht mehr einfach beenden, ohne vorher die Schwerbehindertenvertretung einzubeziehen. Wenn sie das doch tun, gilt die Kündigung als unwirksam. Der Arbeitgeber muss dann mit einem Kündigungsschutzverfahren und arbeitsrechtlichen Strafen rechnen, die Schwerbehindertenvertretung kann künftig außerdem vor das Arbeitsgericht ziehen. Auch die Fortbildungsmöglichkeiten für die Stellvertreter werden ab 2018 besser, und alle Schwerbehindertenvertretungen können bei Bedarf eine Bürokraft einstellen, die sie bei ihren Aufgaben unterstützt. Das Bundesteilhabegesetz bringt an diesen Stellen also ein paar Verbesserungen mit sich. —




Das Inklusionsklima wird besser – aber es bleibt viel zu tun

Am 3.12. ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung. Pünktlich zu diesem Anlass meldet die Aktion Mensch einen positiven Trend beim Thema Inklusion in der Arbeitswelt: In ihrem „Inklusionsbarometer Arbeit 2017“ hat sie schon zum fünften Mal die Entwicklung des deutschen Arbeitsmarkts für Menschen mit Behinderung wissenschaftlich erhoben und vor einigen Tagen die Ergebnisse veröffentlicht. Für die Studie befragte die Aktion Mensch wieder gemeinsam mit dem Handelsblatt Research Institute Unternehmen und Arbeitnehmer mit Behinderung. Das Fazit: Die Lage verbessert sich weiter, aber es bleibt auch noch viel zu tun.

Positiv ist zum Beispiel, dass der Gesamtwert des Barometers (der ausdrückt, welche Tendenz die Entwicklung des Arbeitsmarktes im Bereich Inklusion hat) erneut einen deutlichen Sprung von im Vorjahr 106,7 auf 114,2 Punkte gemacht hat. Einer der Gründe dafür ist, dass Unternehmen die Inklusion erneut positiver einschätzen als noch im Vorjahr (von 35,5 auf 37,0). Aber auch Arbeitnehmer mit Behinderung selbst werden immer optimistischer: In diesem Bereich erreichte das Barometer dieses Jahr einen Rekordwert von 45,7 (Vorjahr: 38,7). Ab einem Schwellenwert von 50 spricht die Aktion Mensch hier von einem insgesamt positiven Trend beim Arbeitsklima – diese Marke ist dieses Jahr erstmals fast geknackt.

Neben diesen erfreulichen Entwicklungen gibt aber auch weiterhin viele Aufgaben zu lösen. Zu wenige Unternehmen sind barrierefrei gestaltet und ausgebaut, längst nicht alle haben schriftliche Grundsätze dazu ausgearbeitet. Sehr viele kennen und nutzen aber auch die staatlichen Förderungsmöglichkeiten nicht, die ihnen zustehen, wenn sie Menschen mit Behinderung beschäftigen: 39 Prozent der kleinen Unternehmen, die bereits Menschen mit Handicap beschäftigen, sind diese Zuschüsse gänzlich unbekannt und 23 Prozent der Personalverantwortlichen, denen die staatliche Förderung bekannt ist, nehmen diese Möglichkeiten nicht in Anspruch.




Wann hat ein Mensch vor dem Gesetz eine Behinderung?

Das Bundesteilhabegesetz soll eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft für Menschen mit Behinderung auf den Weg bringen. Es wurde im Jahr 2016 verabschiedet und wird über sieben Jahre hinweg stufenweise in Kraft gesetzt – ein komplexes Verfahren, das sehr viele verschiedene Änderungen umfasst. Ein Beispiel ist die neue Definition des Begriffs „Behinderung“ im Sozialgesetzbuch IX, die dort ab 2018 mit einer neuen Formulierung verankert sein wird. Dieser Text ist die Grundlage für vieles andere – und deshalb nicht nur sehr wichtig, sondern auch umstritten.
Die Ausführungen in diesem Interview geben nur die persönliche Auffassung von Dr. Till Sachadae wieder, sie sind getrennt von seinem dienstlichen Auftrag zu verstehen.


Herr Sachadae, warum ist eine neue Definition des Begriffs „Behinderung“ nötig?

Zuallererst, weil Deutschland gesetzlich dazu verpflichtet ist, seine Gesetze an die Regeln der UN-Behindertenrechtskonvention anzupassen. Damit sind rechtliche, inhaltliche und sprachliche Anforderungen verbunden, die in der aktuellen Definition des Begriffs „Behinderung“ nicht vollständig erfüllt sind. Zweitens bestimmt ja die Frage, ab wann ein Mensch laut Gesetz eine Behinderung hat und wodurch genau diese definiert wird, sehr stark mit, was sich in Sachen Inklusion in der Gesellschaft tun wird – oder eben nicht. Manchen Leuten mag die Diskussion über so einen kurzen Text also vielleicht kleinlich vorkommen, aber die Wirkung der Details darin ist weitreichend. Auf der Grundlage solcher sprachlichen Feinheiten wird nämlich entschieden, wer Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch IX beanspruchen kann und wer nicht.

Wie definiert das Sozialgesetzbuch den Begriff „Behinderung“ bisher, und was wird künftig anders sein?

Der bisher geltende Gesetzestext definiert eine Behinderung so: Der individuelle körperliche, geistige oder seelische Zustand eines Menschen muss von einem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und dadurch muss die Teilhabe dieses Menschen am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt sein. Aus Sicht des Gesetzgebers liegt dann ein Handicap vor und wird auch als solches anerkannt. Das Problem mit dieser Definition: Es wird davon ausgegangen, dass Beeinträchtigungen bei der Teilhabe aus einer körperlichen, geistigen oder seelischen Abweichung heraus resultieren müssen. Das greift aber gedanklich zu kurz. Ein Mensch mit Behinderung kann ja oft auch deshalb nicht gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben, weil die Gesellschaft ihn nicht lässt. Wie seine Umwelt gestaltet ist, denkt und handelt, bestimmt in hohem Maße mit, ob eine Behinderung überhaupt als solche empfunden wird oder nicht. Genau das besagt auch die UN-Behindertenrechtskonvention, doch die bisher geltende Definition des Begriffs Behinderung im Sozialgesetzbuch gibt dieses Denken nicht wieder. Verkürzt ausgedrückt stand der Gesetzgeber also jetzt vor der Aufgabe, den Behinderungsbegriff so anzupassen, dass damit ein neuer Leitsatz abgebildet wird, der auch einer Kampagne des Sozialverbandes Deutschland ihren Namen gegeben hat: „Ich bin nicht behindert, ich werde behindert!“

Ist das in der neuen Behinderungsdefinition aus Ihrer Sicht gelungen?

Das ist schwierig zu beantworten, weil das von der Auslegung der sprachlichen Feinheiten abhängt, aber auch davon, welche Erwartungen an diese neue Definition gestellt werden. Ging es den Juristen um mehr Klarheit in der Rechtslage? Sollte das Bewusstsein durch bessere Formulierungen geschärft werden? Das ist sicherlich gelungen. Aber sollte es auch inhaltliche Veränderungen in der neuen Definition geben, die tatsächlich rechtliche Konsequenzen haben? Das ist meiner Ansicht nach weitestgehend danebengegangen.

Woran machen Sie das fest?

Um das zu beantworten, stelle ich am besten mal beide Definitionen nebeneinander. Die bisherige Formulierung, die noch bis Ende 2017 gilt, lautet so:

„Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist […].“

Ab 2018 tritt die folgende neue Definition in Kraft:

„Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach S. 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.“

Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Versionen voneinander. Aber wenn man genauer hinschaut, wurden eigentlich nur ein paar neue Formulierungen eingebaut.

Warum reicht das aus Ihrer Sicht nicht aus?

Das Problem an dieser neuen Definition – und eine häufige, aus meiner Sicht berechtigte Kritik seitens der Behindertenverbände – ist, dass sich inhaltlich nichts verändert hat. Der Text ist sprachlich überarbeitet und in Teilen auch verbessert worden. Das ist fraglos wichtig, weil man annehmen kann, dass die Sprache auch ein Stück weit das Denken beeinflusst. Das wird aber leider kaum bis gar nicht dazu führen, dass die neue Definition auch rechtlich anders ausgelegt oder angewendet werden wird als die bisherige.

Was genau finden Sie an den Änderungen problematisch?

Zunächst einmal ist es dem Gesetzgeber nicht gelungen, die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention sauber umzusetzen, obwohl genau das eines der erklärten Ziele des Bundesteilhabegesetzes war. Ein Beispiel: Im neuen Gesetzestext wird jetzt ausdrücklich die „gleichberechtigte“ Teilhabe angesprochen. Das erscheint auf den ersten Blick zwar richtig formuliert, weil auch in der UN-Behindertenrechtskonvention von einer „vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe“ die Rede ist. Im Unterschied zum Konventionstext wurden im Bundesteilhabegesetz aber die Worte „voll“ und „wirksam“ komplett weggelassen. Damit wird das Thema Teilhabe abgeschwächt, wenn nicht sogar abgewertet.

Sehen Sie denn auch Annäherungen an die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention?

Ja, die gibt es schon, nur betreffen sie leider Bereiche der Definition, die keine echten Veränderungen bewirken – und das, obwohl man als Laie wahrscheinlich erstmal einen ganz positiven Eindruck bekommt. In der Definition ist beispielweise das Wort „Sinnesbeeinträchtigung“ ergänzt worden. Damit sind insbesondere Behinderungen des Sehens und Hörens gemeint, die im bisherigen Behindertenbegriff nicht extra erwähnt waren. Diese Änderung wirkt wie eine inhaltliche Neuerung, die mehr Behinderungsarten einschließt, es ist aber keine.

Warum nicht?

Weil diese Behinderungen ohnehin zu den körperlichen zählen, und die sind auch in der alten Definition erwähnt und damit abgedeckt. Dass das ergänzt wurde, trägt sicherlich zu einer Schärfung des Bewusstseins bei, weil etwas klarer wird, dass körperliche Behinderungen manchmal für andere Menschen nicht unbedingt auf den ersten Blick sichtbar sind. Rechtlich ist dadurch aber nichts anders geworden, auch hier ist nur eine rein sprachliche Annäherung an den Wortlaut der UN-Behindertenrechtskonvention passiert. Wie ich schon sagte, ist das überhaupt das größte Manko des neuen Textes aus meiner Sicht: Es gibt keine wirklichen inhaltlichen Veränderungen.

Was sind die Folgen für Menschen mit Handicap?

Viele von ihnen gelten durch die neue Definition auch weiterhin nicht als Menschen mit Behinderung. Sie haben deshalb keinen Anspruch auf Leistungen vom Staat oder auf sonstige Nachteilsausgleiche. Vorübergehende Behinderungen werden zum Beispiel weiterhin nicht anerkannt, obwohl auch für diese Menschen die gesellschaftliche Teilhabe ja nachweislich eingeschränkt ist. Auch altersbedingte Erkrankungen gelten in der neuen Definition nicht als Handicap. Im Text steht ja weiterhin, dass der Zustand eines Menschen von dem „für das Lebensalter typischen Zustand“ abweichen muss, und zwar „mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate“. Damit hat laut Gesetz weder ein junger Mann eine Behinderung, der einen schweren Unfall hatte und sich deshalb ein knappes halbes Jahr mit Rollstuhl durch seine Umwelt bewegt, noch eine alte Dame, die im dafür „typischen“ Lebensalter an einer Demenz erkrankt ist. Aus meiner Sicht leben aber beide Menschen nicht weniger mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung als andere auch.

Gibt es denn trotzdem sprachliche Veränderungen im Vergleich zu 2016, die Sie unverzichtbar finden?

Gut und wichtig ist, dass das Wort „behindert“ durch „Behinderung“ ersetzt wurde. Das stützt den schon erklärten Wechselwirkungsansatz, denn damit sind Menschen laut Gesetz nicht mehr behindert, sondern werden höchstens behindert, denn sie haben eine Behinderung. Damit wird auch eine sprachliche Norm geprägt, weil diese jetzt offiziell verankert wurde – und dadurch wird sich irgendwann hoffentlich auch etwas in den Köpfen tun. Die Formulierung „Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren“ ist in diesem Zusammenhang ebenfalls eine wichtige, weil damit nochmals klarer gemacht wird, dass eine Behinderung immer im Zusammenhang mit der Umwelt eines Menschen steht und auch dadurch zustande kommt. Mit den „einstellungsbedingten“ Barrieren werden außerdem Ängste und Vorurteile seitens der Arbeitgeber benannt, die Menschen mit Behinderung ein Berufsleben oft gänzlich unmöglich machen. Und gut ist auch, dass „umweltbedingte“ Barrieren erwähnt werden, mit denen sowohl bauliche und technische als auch kommunikative Hürden gemeint sein können. Eine zu komplexe Sprache gilt künftig also genauso als Barriere wie eine fehlende Rampe vor einem öffentlichen Gebäude. –




Praxistipps und Fortbildungen für Schwerbehindertenvertretungen & Co.

In Betrieben ab einer bestimmten Mitarbeiterzahl müssen verschiedene Vertreterinnen und Vertreter gewählt werden, die sich um die Belange von Menschen mit Behinderungen kümmern oder die Arbeitgeber beim Thema Inklusion im Unternehmen unterstützen.
Diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfüllen viele wichtige Aufgaben, die sie ehrenamtlich neben ihrem normalen Job im Betrieb erledigen: Sie helfen dabei, Konflikte zu lösen, die in einem Beschäftigungsverhältnis entstehen können, sie nehmen an Verhandlungen zum Kündigungsschutz teil und unterstützen dabei, Arbeitsplätze in den Betrieben und Dienststellen behinderungsgerecht zu gestalten. Sie beraten aber auch, zum Beispiel, wenn ein Mensch mit Schwerbehinderung neu eingestellt werden soll. Für all das müssen sie viel Fachkompetenz und Verhandlungsgeschick mitbringen, zugleich aber auch Durchsetzungs- und Einfühlungsvermögen haben.

Um die gewählten Vertreterinnen und Vertreter in Betrieben aus der Region Westfalen-Lippe bei ihren vielfältigen Aufgaben zu unterstützen und ihnen die passenden Handlungskompetenzen zu vermitteln, stellt das LWL-Inklusionsamt Arbeit jedes Jahr ein umfassendes Kursprogramm zu verschiedenen Schwerpunktthemen zusammen (Tipp für Interessierte außerhalb von Westfalen: Im Rheinland ist der LVR mit einem eigenen Kursangebot zuständig, in Regionen außerhalb von NRW jeweils andere Inklusionsämter oder sonstige Anbieter). Im Jahr 2018 werden für die Region Westfalen beispielsweise wieder viele Grund- und Aufbaukurse angeboten, die sich unter anderem um die Aufgaben und Pflichten von Schwerbehindertenvertretungen drehen. Es finden auch mehrere Themenkurse statt, etwa zur Vielfalt in Unternehmen, zum Thema Burnout und anderen psychischen Erkrankungen, zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) oder zum Umgang mit Suchterkrankten am Arbeitsplatz. Ergänzt wird das Angebot durch Fachseminare für Menschen mit Hörbehinderungen und wer möchte, kann auch an qualifizierten Aus- und Fortbildungen teilnehmen.

Die Veranstaltungen und Kurse werden von fachkundigen Referentinnen und Referenten aus dem LWL-Inklusionsamt Arbeit geleitet, es stehen aber auch weitere erfahrene Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Berufen zur Verfügung. Sie alle geben den Kursteilnehmern praxisnahe Hilfestellungen.

Das vollständige Kursprogramm kann hier auf den Seiten des LWL-Inklusionsamtes abgerufen werden – dort kann man sich einfach durch die verschiedenen Kurse klicken und sich jeweils unten auf den einzelnen Veranstaltungsseiten direkt online anmelden.




Bundesteilhabegesetz 2018: Die zehn wichtigsten Änderungen im Arbeitsleben

Deutschland ist dazu verpflichtet, seine Gesetze an die Regeln der UN-Behindertenrechtskonvention anzupassen. Damit sind einige Anforderungen verbunden, die künftig erfüllt werden müssen – rechtliche und inhaltliche, aber auch sprachliche. Für das Jahr 2018 wurde daher neben anderen Änderungen im Gesetz auch die bisher geltende Definition des Begriffs „Behinderung“ überarbeitet. Das hat im Vorfeld für sehr viel Streit und Protest gesorgt, weil sich viele Menschen mit Behinderung in dieser Definition nicht wiederfinden. Der Text ist sehr wichtig für sie, weil er rechtlich bindend festlegt, ab wann ein Mensch laut Gesetz eine Behinderung hat. Die Definition hat also große Auswirkungen für sehr viele Menschen und ist richtungsweisend dafür, ob und in welchem Umfang jemand Anspruch auf Leistungen vom Staat hat.

Ab 2018 sollen Menschen mit Schwerbehinderungen besser davor geschützt sein, wegen ihres Handicaps gekündigt zu werden. Wenn der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis beendet, ohne vorher die Schwerbehindertenvertretung einzubeziehen, ist die Kündigung unwirksam. Der Arbeitgeber muss dann mit einem Kündigungsschutzverfahren und arbeitsrechtlichen Strafen rechnen. Die Schwerbehindertenvertretung kann in solchen Fällen künftig auch vor das Arbeitsgericht ziehen. Dort kann sie fordern, dass die Entscheidung ausgesetzt wird, bis der Arbeitgeber sein Versäumnis nachgeholt hat. Widersetzt sich der Arbeitgeber, können Strafen von bis zu 250.000 Euro anfallen.

Vertrauenspersonen sind die Schwerbehindertenvertretungen eines Betriebes. Sie beraten und unterstützen ihre Kolleginnen und Kollegen mit Behinderung ehrenamtlich. Damit sind sie Interessenvertreter, zugleich aber auch Beschäftigte des Betriebes, die ihre Arbeit wie jeder andere verrichten müssen. Dadurch entsteht für sie eine Doppelbelastung, die in den vergangenen Jahren immer größer geworden ist. Vertrauenspersonen haben deshalb einen gesetzlichen Anspruch darauf, sich vorübergehend von ihrer Arbeit freistellen zu lassen. Der Gesetzgeber entlastet sie zum Jahr 2018 noch weiter, indem er den betrieblichen  Schwellenwert von 200 auf 100 senkt. Das heißt: Wenn in einer Organisation, einem Betrieb oder Unternehmen mindestens 100 Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigt sind, dürfen sich die Vertrauensperson auf Wunsch nur noch auf ihre Beratungstätigkeit konzentrieren.

Übrigens: Auch Vertrauenspersonen in kleineren Betrieben können sich freistellen lassen, allerdings nur in einem kleineren Umfang und soweit es für ihr Amt in der Interessenvertretung wirklich erforderlich ist. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Inklusionsämter empfiehlt deshalb, dass Vertrauenspersonen ihre Arbeit transparent machen und dem Arbeitgeber so deutlich wie möglich zeigen sollten, was sie alles zum Wohl der Beschäftigten und somit für den gesamten Betrieb tun.

Schon seit 2016 regelt das Bundesteilhabegesetz, dass ein Schwerbehindertenvertreter bestimmte Aufgaben an einen Stellvertreter abtreten darf – sofern im Unternehmen mehr als 100 Menschen mit Schwerbehinderung arbeiten. Bei mehr als 200 Menschen mit Handicap im Betrieb darf die Vertrauensperson sich von einem weiteren Stellvertreter unterstützen lassen. Ab 2018 gilt neuerdings: Jedes Mal, wenn im Betrieb die Marke von weiteren 100 Mitarbeitern mit Behinderung erreicht ist, darf die Vertrauensperson einen zusätzlichen Stellvertreter benennen. Die ehrenamtliche Arbeit soll so auf mehrere Personen verteilt und die Menschen im Betrieb besser unterstützt und beraten werden.

Bisher war es für die Stellvertreter einer Vertrauensperson nur unter sehr engen Bedingungen möglich, sich für ihre Amtsaufgaben aus- und weiterbilden zu lassen. Dafür mussten sie zum Beispiel schon besonders oft oder ständig herangezogen worden sein beziehungsweise die Vertrauensperson schon häufig vollständig vertreten haben. Hintergrund war, dass für den Gesetzgeber bisher erst dann ein ausreichender Anlass für Weiterbildungen gegeben war. Er ging nämlich davon aus, dass wegen des häufigen Einspringens zu erwarten war, dass er Stellvertreter bald ins Hauptamt aufrücken würde. Diese Regelung passt aber längst nicht mehr zu den Anforderungen an die Stellvertreter, die sie auch dann schon erfüllen müssen, wenn sie nicht in absehbarer Zeit die Vertrauensperson ersetzen. Der Gesetzgeber geht ab 2018 davon aus, dass die Schwerbehindertenvertretung in einem Betrieb jederzeit ausfallen kann, denn in der Regel besteht diese nur aus einem gut ausgebildeten Mitarbeiter: der Vertrauensperson selbst. Ab dem neuen Jahr dürfen deshalb auch alle Stellvertreter entsprechende Weiterbildungen besuchen.

Noch mehr Entlastung für die Vertrauenspersonen: Ab 2018 steht den Schwerbehindertenvertretungen in Betrieben eine Bürokraft zu, die sie bei ihren täglichen Aufgaben unterstützen und entlasten soll. Die Kosten dafür trägt der Arbeitgeber.

Wenn ein Betrieb nicht mehr in seiner ursprünglichen Form weiterbestehen kann, endet damit normalerweise auch die Amtszeit des Betriebsrates und der Schwerbehindertenvertretungen. Das bedeutet aber, dass gerade in einer schwierigen Zeit für die Arbeitnehmer eine „Lücke“ entsteht. Für Betriebsräte gilt in diesen Situationen schon lange ein so genanntes „Übergangmandat“: Sie behalten auch in der Phase, in der ein Betrieb neu organisiert und strukturiert wird, ihre Mitbestimmungsrechte und dürfen Neuwahlen einleiten. Dieses Mandat endet erst dann, wenn die Umstrukturierungen abgeschlossen sind, in den neu entstandenen Betrieben ein neuer Betriebsrat gewählt wurde und das Wahlergebnis bekannt gegeben ist – spätestens jedoch nach sechs Monaten. Durch einen Tarifvertrag oder eine Betriebsvereinbarung kann das Übergangsmandat auf bis zu insgesamt ein Jahr verlängert werden. Ab 2018 gelten diese Regelungen und Rechte nun auch für die Schwerbehindertenvertretungen. Nur der öffentliche Dienst ist davon aufgrund anderer Bestimmungen ausgenommen, hier gelten weiterhin die so genannten Personalvertretungsgesetze.

In größeren Unternehmen und Organisationen gibt es nicht nur eine, sondern mehrere Vertrauenspersonen, die auf mehreren Ebenen eingesetzt werden. Zum Beispiel gibt es eine eigene Schwerbehindertenvertretung für die Konzern-Zentrale, eine andere für Unternehmenstöchter und wieder weitere für die einzelne Bezirke, in denen die Unternehmen tätig sind. Für die Vertretungen ist es da gar nicht so einfach, den Überblick zu behalten. Ab dem Jahr 2018 vereinfacht der Gesetzgeber deshalb das Verfahren, mit dem die Wahlen dieser vielen Schwerbehindertenvertretungen organisiert werden dürfen.

Arbeitgeber sind schon seit dem Jahr 2016 dazu verpflichtet, frei gewordene Stellen in ihrem Betrieb an die Bundesagentur für Arbeit zu melden. Diese schaut dann, ob es einen arbeitsuchenden Menschen mit Behinderung gibt, der für die Stelle in Frage kommen könnte. Ab 2018 wird diese Regelung abgeändert, weil öffentliche Einrichtungen bestimmte haushaltsrechtliche Vorschriften erfüllen müssen. Eine Stadtverwaltung zum Beispiel ist dazu verpflichtet, zuerst nach internen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu schauen, bevor sie den Arbeitsplatz neu ausschreibt. Wenn es in der Verwaltung niemanden gibt, der passt, müssen auch öffentliche Arbeitgeber die freie Stelle umgehend an die Bundesagentur für Arbeit melden.

Die Arbeitgeber sind schon seit Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes 2016 dazu verpflichtet, die Inklusion in ihren Unternehmen vorantreiben. Der Gesetzgeber legte deshalb fest, dass in jedem Betrieb verantwortliche Vertreter der Geschäftsführung benannt werden müssen, die sich im Unternehmen für die Belange der Beschäftigten mit Schwerbehinderung einsetzen. Idealerweise sollten diese Personen selbst eine Schwerbehinderung haben. Ab 2018 tragen diese Vertreterinnen und Vertreter, passend zu ihrer Funktion, den Titel „Inklusionsbeauftragte“. Was im Gesetz allerdings nach wie vor fehlt, ist eine konkrete Liste der Aufgaben, die sie haben und erledigen sollen.




Ein steiniger Weg an die Uni

Der Aufhänger ist eine beeindruckende aktuelle Zahl: drei Millionen. So viele junge Menschen sind heute an deutschen Hochschulen eingeschrieben. Das ist tatsächlich viel und auch deutlich mehr als früher, deshalb spricht die Politik davon oft, um zu zeigen, dass das Bildungsniveau in Deutschland steigt. Was an dieser Zahl aber nicht deutlich wird: Gleichberechtigt ist der Zugang an die Unis längst nicht für alle jungen Mitglieder der Gesellschaft, deren Leistungen aber gut genug sind, um ein Hochschulstudium absolvieren zu können. Kinder aus finanziell schwächeren Haushalten haben es zum Beispiel besonders schwer, hier Fuß zu fassen. Und wenn dann noch eine Behinderung dazukommt – wie bei Sabrina Vielmayer, die mit einer spinalen Muskelatrophie geboren wurde –, werden die Hürden noch viel komplexer.

Wie die junge Frau es auch nach wiederholten Rückschlägen trotzdem geschafft hat, ihren Bildungsweg bis zur Hochschule zu schaffen, diese abzuschließen und erfolgreich in ihren ersten Job zu starten, könnt ihr in dieser Reportage in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nachlesen – eine Geschichte, die hoffentlich auch vielen anderen jungen Menschen Mut macht, trotz vieler Barrieren ihren Weg zu gehen!




Digitale Barrieren abbauen

Herr Warnke, Sie leben selbst mit einer Sehbeeinträchtigung. Welche Barrieren begegnen Ihnen besonders oft beim Umgang mit dem Computer?

Ich arbeite mit einem Windows-PC und nutze ein Vergrößerungsprogramm, eine Art Lupe. Damit steht mir nur ein kleiner, vergrößerter Bildschirmausschnitt zur Verfügung, mit dem ich über den Bildschirm navigiere. Es ist wichtig, dass das Vergrößerungsfenster immer dort ist, wo ich gerade schreibe oder per Tastatur in Menüs eine Auswahl treffe. Eigentlich eine praktische Hilfe, aber leider funktioniert dies nicht immer reibungslos. Es kommt vor, dass es nach einem Windows-Update erhebliche Probleme gibt, bis hin zum Systemabsturz. Manche der Probleme verschwinden, wenn endlich das nächste Update für das Vergrößerungsprogramm kommt. Darüber hinaus kann ich in der neuesten Windows-Version nicht mehr die Fensterhintergrundfarbe frei wählen – ich hatte früher immer hellgrau eingestellt. Das ist für mich wichtig, weil ich sehr lichtempfindlich bin. Heute geht das nicht mehr, weil Microsoft so gut wie keine individuellen Einstellungen mehr zulässt. Dadurch ist für mich das Arbeiten am PC viel anstrengender geworden.

Wie sieht es mit dem Smartphone aus?

Für mich ist mein Smartphone ein universelles Hilfsmittel: beim Navigieren, beim Reisen mit Bahn und Bus, beim Lesen oder Vorlesen Lassen von Büchern und Zeitungen, als elektronische Lupe oder sogar als Fernrohr. Ich nutze ein Gerät, das schon von Hause aus für sehbeeinträchtigte Menschen gut nutzbar ist. Problematisch wird es aber immer, wenn die Apps, die ich verwende, nicht barrierefrei sind – wenn ich also zum Beispiel Inhalte nicht vergrößern kann, wenn Kontraste zu schwach sind, wenn es ungünstige Farbkombinationen gibt oder ich die Sprachausgabe nicht nutzen kann.

Welche Hilfsmittel setzen Sie beim Surfen ein und wie gut funktioniert das? Welche Hürden begegnen Ihnen besonders oft?

Ich benutze auch hier das PC-Vergrößerungsprogramm, das ich oben beschrieben habe. Das geht bei klar strukturierten Websites ganz gut. Allerdings unterscheiden sich die meisten Seiten in ihrem Aufbau sehr deutlich voneinander, ich muss sie also jedes Mal wieder neu erkunden. Das kann sehr anstrengend sein. Oft sind die Kontraste so schwach, dass ich Schriften nicht gut erkennen kann. Wenn dann noch ständig Werbung dazwischen „funkt“ wird es für mich noch schwieriger beim Surfen. Formulare kann ich oft auch nicht mühelos ausfüllen, weil die Namen der Felder nicht per Sprachausgabe vorgelesen werden können. Ich weiß dann nicht, was ich wo in welcher Reihenfolge eintragen muss. Dadurch ist es schon vorgekommen, dass ich eine Buchung oder einen Interneteinkauf vorzeitig abbrechen musste.

Welche Hindernisse könnten aus Ihrer Sicht leicht vermieden werden – und wie?

Für sehbeeinträchtigte Menschen sind klar strukturierte, kontrastreiche Programmoberflächen und Webseiten sehr wichtig. Eine wesentliche Erleichterung ist auch, wenn barrierefreie PDF-Dokumente zur Verfügung stehen, deren Texte für Sprachausgaben lesbar sind. Es gibt hier offizielle Vorgaben für die barrierefreie Gestaltung von Programmoberflächen und Web-Inhalten. Leider werden diese immer noch zu wenig beachtet und umgesetzt.

Gibt es eine Möglichkeit, die eigene Webseite oder Apps auf Barrieren prüfen zu lassen?

Ja. Für Webinhalte gibt es den so genannten BITV-Test. BITV steht für „Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung“. Apps wiederum können mit dem BITi-Prüfverfahren auf Barrierefreiheit geprüft werden.

Entstehen automatisch Mehrkosten, wenn Anbieter ihre Seiten oder Angebote barrierefrei gestalten wollen?

Der Schlüssel ist, Barrierefreiheit von Anfang an mitzudenken und bei der Entwicklung umzusetzen, denn nachträglich ist dies oft nicht mehr möglich. Und wenn schon in der Konzeptphase für ein Programm oder eine Website die Standards für Barrierefreiheit berücksichtigt und durch das IT-Personal auch konsequent umgesetzt werden, dann entstehen auch kaum Mehrkosten. Falls doch, überwiegt trotzdem der Gewinn, weil durch eine anwenderfreundliche und barrierefreie Gestaltung generell mehr Nutzerinnen und Nutzer gewonnen werden können.

Gibt es empfehlenswerte Websites oder Apps, die Menschen mit Sehbehinderung besonders gut nutzen können und von denen Anbieter sich inspirieren lassen können?

Ja, auf der BITV-Test-Seite gibt es eine Reihe vorbildlicher Websites, die von kompetenten Agenturen entwickelt worden sind. Eine vergleichbare Sammlung von mobilen Apps kenne ich leider nicht.

An wen können sich Redaktionsteams, Entwickler oder Webdesigner wenden, wenn sie Probleme von vorn herein vermeiden wollen?

Beratungsstellen des BITV-Test-Prüfverbunds bieten an, den Entwicklungsprozess von Websites und Apps mit Tests zu begleiten. Außerdem gibt es Checklisten für die Web- und App-Entwicklung, zum Beispiel die BITV-Checkliste des Rechenzentrums Erlangen oder der Qualitäts-Guide für mobile Apps der TU Dortmund.

Welche Anlaufstellen gibt es für Betroffene, denen Barrieren im Netz oder auch sonst im digitalen Bereich begegnet sind?

Ein guter Anlaufpunkt ist die Meldestelle für digitale Barrieren. Menschen mit Sehbeeinträchtigungen können aber auch ihren örtlichen Blinden- und Sehbehindertenverein ansprechen.

Welche Rolle spielt das Projekt BIT inklusiv in diesem Zusammenhang, das Sie geleitet haben?

BIT inklusiv war ein Projekt des Deutschen Vereins der Blinden Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V. (DVBS). Die Abkürzung steht für „Barrierefreie Informationstechnik für inklusives Arbeiten“. Genau das war unser Ziel: Wir wollten digitale Angebote dahingehend verbessern, dass sie für alle Menschen zugänglich sind. Konkret wurden mit dem Projekt IT-Experten in öffentlichen Verwaltungen und privatwirtschaftlichen Unternehmen für barrierefreie Informationstechnik sensibilisiert. Außerdem haben wir ihnen das Know-How an die Hand gegeben, Websites und Apps barrierefrei umzusetzen und Testverfahren anzuwenden. Aus dieser Arbeit sind mehrere Kompetenzzentren für barrierefreie IT hervorgegangen. Einige haben am Ende der Projektphase begonnen, auf den freien Markt zu gehen, um ihr Angebot zu verbreiten und ihr Wissen stärker in die Öffentlichkeit zu tragen. –




Wie werden Menschen mit Sehbehinderung in NRW an ihrem Arbeitsplatz unterstützt?

In Nordrhein-Westfalen sind vor allem der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) und der Landschaftsverband Rheinland (LVR) dafür zuständig, die Leistungen für Menschen mit Behinderungen zu bündeln und zu organisieren. Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Sehbehinderung sind die so genannten Integrationsfachdienste im gesamten Bundesland gute erste Anlaufstellen, ebenso wie die Hilfsmittelberatungsstellen der beiden Berufsbildungswerke in Soest und in Düren. In Westfalen-Lippe gibt es darüber hinaus eine Einrichtung, deren Experten speziell blinde und sehbehinderte Berufstätige beraten und sie dabei unterstützen, entsprechende Leistungen am Arbeitsplatz zu beantragen: Den Fachdienst für Menschen mit Sehbehinderung beim LWL-Inklusionsamt Arbeit. Wir stellen das Angebot in diesem Artikel vor.

(Tipp für Leser aus dem Rheinland: Am Ende des Textes haben wir einige Informationen zu den Anlaufstellen für Menschen mit Sehbehinderungen aus dieser Region zusammengestellt.)


Welche Aufgaben hat der Fachdienst für Menschen mit Sehbehinderung, der an das LWL-Inklusionsamt Arbeit in Westfalen-Lippe angedockt ist? 

Beim Fachdienst arbeiten interne und externe Experten zusammen. Ihre Aufgabe ist es, berufstätige Menschen mit Sehbehinderungen aus Westfalen-Lippe an ihren Arbeitsplätzen zu unterstützen, damit diese so eigenständig wie möglich arbeiten können. Wenn auf eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter in einem Betrieb zum Beispiel neue Aufgaben zukommen, kann der Fachdienst zusammen mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei den Integrationsfachdiensten dabei helfen, diese so zu gestalten, dass das gewünschte Ziel auch mit einer Seheinschränkung erreicht werden kann. Wenn jemand einen Job ganz neu beginnt, helfen die Experten außerdem dabei, den Arbeitsplatz von vornherein barrierefrei zu gestalten. Sie betreuen jeden Fall ganz individuell, informieren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer etwa über neue Hilfsmittel, beraten sie oder geben Schulungen. Im Zuge der NRW-weiten Initiative „Schule trifft Arbeitswelt“ (STAR) helfen sie auch Schülerinnen und Schülern kurz vor dem Abschluss dabei, ein Praktikum zu finden und sich für einen Beruf zu entscheiden. Das STAR-Angebot gilt übrigens auch für junge Menschen im Rheinland. Allerdings gibt es dort keinen eigenen Fachdienst für Menschen mit Sehbehinderung.

Wer hat Anspruch auf die Leistungen der Fachdienste – und wie wird festgestellt, welchen Unterstützungsbedarf eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer mit Sehbehinderung hat?

In Westfalen-Lippe können sich grundsätzlich alle (angehenden) Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einer nachweislichen Sehbehinderung direkt an den Fachdienst wenden, um Unterstützung zu beantragen. Bevor es mit konkreten Maßnahmen losgeht, wird erst einmal das Sehvermögen der Person geprüft, die die Hilfe beantragen möchte. Anschließend wird die aktuelle Arbeitssituation genau begutachtet und dokumentiert. Auf dieser Grundlage ermitteln die Experten dann, welche Hilfsmittel nötig sind, damit die Arbeit ohne Barrieren erledigt werden kann.

Inwiefern können die Arbeitnehmer ebenso wie die Arbeitgeber mit entscheiden, was wie umgesetzt wird – wie stark sind diese beiden also in die Umgestaltung eines Arbeitsplatzes und in eventuelle Fördermaßnahmen involviert?

Sämtliche Lösungen werden immer gemeinsam mit dem Menschen mit der Sehbehinderung entwickelt, der die Hilfe beantragt hat. Damit sie oder er selbstständig arbeiten kann, muss einerseits eine gewisse Bereitschaft da sein, etwas zu verändern, zugleich muss sie oder er sich mit den Neuerungen natürlich auch wohlfühlen. Die Expertinnen und Experten des Fachdienstes beim LVR-Inklusionsamt und den Integrationsfachdiensten nehmen sich daher viel Zeit, um die Personen, die sie unterstützen, sowie deren Bedürfnisse und deren Fähigkeiten genau kennenzulernen. Erst dann kann ein Arbeitsplatz passend individuell umgestaltet werden. Es werden nie einfach nach standardisierten Vorgaben zum Beispiel technische Hilfsmittel empfohlen. Jeder Fall wird einzeln betrachtet – mit dem Ziel, eine optimale Lösung für alle Beteiligten zu finden, also auch für die Arbeitgeber.

Wie lange dauert die Umgestaltung oder Anpassung eines Arbeitsplatzes ab dem Erstkontakt?

Das kann von Fall zu Fall stark variieren. Wenn es ganz besonders eilig ist, zum Beispiel, weil sich die Sehfähigkeit eines Menschen plötzlich verschlechtert hat, bemühen sich die Experten natürlich sehr, möglichst unbürokratisch und schnell zu agieren. Dazu gibt es einen Hilfsmittelpool bei den beiden Berufsbildungswerken in Soest (Westfalen-Lippe) und Düren (Rheinland), aus dem in solchen Fällen geschöpft werden darf, so dass technische Hilfen auch mal sehr kurzfristig zur Verfügung gestellt werden können. Normalerweise werden solche Hilfen aber langfristig geplant und beantragt, so dass der gesamte Prozess inklusive des Antrags, der Feststellung des Bedarfs, dem Umbau des Arbeitsplatzes und den nötigen Schulungen mehrere Wochen dauern kann.

Was sind typische Hilfsmittel, mit denen die Voraussetzungen am Arbeitsplatz besonders schnell und einfach verbessert werden können?

Das sind vor allem technische Geräte wie größere Monitore, Monitor-Schwenkarme, Kamera-Lesegeräte, Großschrift-Programme, Braillezeilen, spezielle Leuchten und optische Hilfen, aber auch Tablets mit Lupenfunktion. Wichtig ist nichtsdestotrotz eine intensive und ganzheitliche Schulung zum fachgerechten Umgang mit diesen Geräten. Dabei helfen die so genannten Hilfsmittelspezialisten bei den beiden Berufsbildungswerken. Sie üben mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ausgiebig ein, wie ein Hilfsmittel benutzt werden muss – und daraus entsteht dann meist schnell eine viel größere Barriere- und Bewegungsfreiheit am Arbeitsplatz.

Wohin können sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einer Sehbehinderung aus dem Rheinland wenden, für die der Fachdienst in Westfalen-Lippe nicht zuständig ist?

Die ersten Anlaufstellen im Rheinland sind, wie in Westfalen-Lippe auch, die örtlichen Integrationsfachdienste. Die Ansprechpartner dort beraten und helfen auch bei Fragen zu Kosten, Zuschüssen oder Schulungen weiter. Bei Bedarf stellen sie den Kontakt zu technischen Experten her, die für die behinderungsgerechte Arbeitsplatz-Gestaltung sorgen. Zu diesem Thema berät im Rheinland in erster Linie der technische Beratungsdienst des dortigen LVR-Inklusionsamtes, und zwar sowohl Unternehmen als auch schwerbehinderte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das Ganze ist kostenlos. Auch die Hilfsmittelberatungsstelle beim Berufsförderungswerk Düren im Rheinland ist ein guter Ansprechpartner für eine Erstberatung. Wer möchte, kann sich aber auch von spezialisierten Optikerinnen oder Orthoptisten in vielen Augenarztpraxen in der Region beraten lassen. Tipp: In der Broschüre „Sehbehinderung im Beruf“ hat der LVR seine Unterstützungsangebote für betroffene Menschen und Arbeitgeber kompakt zusammengefasst.