„Damit hatten wir überhaupt nicht gerechnet“

Eduard Wiebe hebt eine Einkaufstasche aus seinem Rollstuhlanhänger, dabei rieseln ein paar goldene Konfettischnipsel zu Boden. „Die sind noch von der Siegerehrung bei ProSieben“, sagt er grinsend. Er sammelt die glänzenden Schnipsel auf und legt sie auf seinen Schreibtisch.

Ende März 2019 stand der Fertigungsleiter des Bielefelder Unternehmens Teuto InServ zusammen mit Geschäftsführer und Mit-Erfinder Andreas Neitzel im Goldregen auf der Bühne der ProSieben-Erfindershow „Das Ding des Jahres“. 41 Prozent der Fernsehzuschauer hatten bei der telefonischen Abstimmung im Finale live für die beiden angerufen und ihre Erfindung „Rollikup“ zur besten Idee gekürt. Damit wurde die weltweit erste Anhängerkupplung für Rollstühle auf einen Schlag bekannt. Und auch das Preisgeld kann sich sehen lassen: 100.000 Euro.

Menschen mit Behinderung den Alltag erleichtern

„Damit hatten wir überhaupt nicht gerechnet“, sagt Andreas Neitzel. Eigentlich geht es bei der Show darum, dass die Zuschauer eine Erfindung wählen, die sie selbst gut gebrauchen könnten. Dieses Mal stimmte eine überwältigende Mehrheit für „Rollikup“. Der Name für die Erfindung ist aus den Wörtern „Rollstuhl“ und „Kupplung“ zusammengesetzt, denn mit ihr lassen sich Koffer, Kinder- und Transportanhänger mit einer Hand sicher an Rollstühlen verschiedenster Hersteller befestigen. Menschen, die mit Rollstuhl leben und Oberkörper und Arme frei bewegen können, können so viel einfacher und ohne Hilfe einkaufen, verreisen und mit kleinen Kindern unterwegs sein – das ist eine große Erleichterung im Alltag.

Geht nicht? Gibt’s nicht!

Die „Rollikup“-Erfolgsgeschichte begann im Herbst 2017. Damals erfuhr das Teuto-InServ-Team von einem Mann, der mit Rollstuhl lebte und gern allein sein Kind vom Kindergarten abholen wollte. „Er suchte nach einer Möglichkeit, einen Kinder-Caddy an seinem Rollstuhl zu befestigen“, erklärt Wiebe. „Aber Kupplungssysteme für Fahrradanhänger passen nicht an einen Rollstuhl und sind in der Bedienung auch viel zu kompliziert. Also dachten wir: Wenn es da noch nichts Passendes gibt, entwickeln wir das halt.“ Der Betriebsleiter des Inklusionsunternehmens begann zu tüfteln. Er brütete in den Mittagspausen zusammen mit Andreas Neitzel über Entwürfen, arbeitete abends, manchmal sogar nachts zu Hause an seiner Idee.

Anfang 2018 war der Prototyp fertig. Dafür schraubten die beiden eine Kupplung dauerhaft an einen Rollstuhl, an der sich ein Anhänger mit einem Handgriff sicher anklicken und mit einem weiteren Handgriff wieder lösen lässt. Während der Fahrt funktioniert die Kupplung wie ein flexibles Kugelgelenk. Die Nutzerin oder der Nutzer kann so einen Anhänger oder Koffer bequem um jede Kurve ziehen. Wiebe und Neitzel haben diesen Entwurf inzwischen weiterentwickelt und einen nur zwölf Kilo schweren Anhänger konstruiert, mit dem sich zwei große Einkaufstaschen oder eine Wasserkiste transportieren lassen. Selbst in einen Auto-Kofferraum passt der Anhänger bequem hinein.

Eduard Wiebe führt in diesem kleinen Zeitraffer-ideo vor, wie der Rollikup einfach auseinandergebaut und im Auto verstaut werden kann.

„Bewirb dich ruhig, aber das wird sowieso nichts“

Eine ehemalige Praktikantin brachte Wiebe und Neitzel im vergangenen Sommer auf eine Idee: Sie schlug vor, dass die beiden ihre Erfindung doch im Fernsehen vorstellen und sie so bekannter machen sollten. „Sie empfahl uns ‚Das Ding des Jahres‘ und schickte uns auch gleich die Bewerbungsunterlagen mit“, erinnert sich Wiebe lächelnd. „Sie hat sich so viel Mühe gegeben, dass wir gar nicht anders konnten, als uns zu bewerben.“ Andreas Neitzel war von der Idee anfangs noch wenig begeistert. Aber er stimmte zähneknirschend zu: „Ich habe gesagt: ‚Mach doch, aber das wird sowieso nichts.‘“ Heute lacht er, wenn er das erzählt. Denn es wurde doch etwas.

„Das Casting war ein Kampf“

Andreas Neitzel und Eduard Wiebe kamen in die engere Auswahl aus 400 Erfinderinnen und Erfindern, die das Pro7-Team aus knapp 1.000 Bewerbungen ausgesucht und zum Casting eingeladen hatte. Im September fuhren sie nach Köln und präsentierten den „Rollikup“ einer ersten Jury. „Das Casting war ein echter Kampf“, sagt Wiebe. „Die Konkurrenz war groß und die Atmosphäre war sehr angespannt, denn es gab ja auch viele andere Teams, die sich bei mehreren Sendungen gleichzeitig beworben hatten und unbedingt weiterkommen wollten. Manche Erfinder hatten sogar ihren Job gekündigt und alles auf eine Karte gesetzt“, erzählt er.

Olympischer Geist und Zusammenhalt

Doch das Teuto-InServ-Team überzeugte die Casting-Jury. Im Januar reisten die Bielefelder zum zweiten Mal nach Köln, um ihren ersten Fernsehauftritt aufzuzeichnen, begleitet von Ines Rose. Die Geschäftsführerin der Werkhaus GmbH, dem Mutterunternehmen von Teuto-InServ, hatte die beiden von Anfang an unterstützt und fieberte nun im ProSieben-Studio im Publikum mit.

Ihre Idee vor laufender Kamera vorzuführen, war für Neitzel und Wiebe ein spannendes Erlebnis, aber unter den Teilnehmern war die Stimmung jetzt lockerer: „Alle Erfinderteams waren im selben Hotel untergebracht. Dadurch haben wir uns untereinander schon etwas kennengelernt“, erzählt Andreas Neitzel. „Wir haben uns nett unterhalten – und statt Konkurrenzdenken herrschte eher olympischer Geist: Wir hatten alle sowieso schon gewonnen, indem wir teilnehmen durften.“ Für die „Rollikup“-Erfinder war das tatsächlich so, denn sie hatten ihr Hauptziel schon mit dem ersten Auftritt erreicht: Das Kupplungssystem wurde bekannter, noch dazu gab es eine Menge Lob von der ProSieben-Jury und begeistertes Feedback von potenziellen Kundinnen und Kunden.

Andreas Neitzel und Eduard Wiebe in einem Büro
Neitzel und Wiebe arbeiteten abends und manchmal auch nachts an den Entwürfen für ihre Erfindung, um den Rollikup perfekt zu machen. Foto: LWL/Busch

Inklusive Produktion

Doch damit war der Weg noch nicht zu Ende. Die beiden Erfinder qualifizierten sich für das Finale und setzten sich dort live gegen die übrigen fünf Finalisten durch. Die Freude war auch unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Bielefeld riesig, sagt Neitzel, der nach dem aufregenden Fernsehauftritt und dem Presserummel noch etwas müde, aber sehr zufrieden aussieht. „Wir feiern gleich einen dreifachen Sieg. Wir sind die Gewinner der Show und können das Preisgeld in unser Unternehmen investieren. Menschen, die mit Rollstuhl leben, gewinnen durch unsere Erfindung eine Menge Lebensqualität. Und unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch die Werkstatt der Werkhaus GmbH selbst haben in Zukunft eine spannende neue Aufgabe.“

Damit meint er die insgesamt 28 Menschen, die bei Teuto InServ arbeiten. Zwei Drittel von ihnen haben eine Behinderung. Ihre Aufgaben: Sie bearbeiten, prüfen und verpacken Bauteile für einen großen Automobil-Zulieferer und andere Unternehmen. Der „Rollikup“ ist das erste eigene Produkt des Inklusionsunternehmens, die ersten 1.000 Exemplare der innovativen Kupplung haben die Mitarbeiter schon gefertigt, die nächste Charge ist geplant. Von der Produktion profitieren auch die Beschäftigten in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung der Werkhaus GmbH. Sie fertigen ein Bauteil für den „Rollikup“ mit ihrer CNC-Maschine.

Ein toller Motivationsschub

Die Produktionszahlen steigen, und das ist auch dringend nötig. Denn der Bedarf nach einer solchen Lösung ist offenbar riesig. Das haben beiden Erfinder schon nach der Ausstrahlung der ersten ProSieben-Show gemerkt: „Wir haben eine Menge Anrufe und Nachrichten von Rollstuhlfahrerinnen und -fahrern bekommen, die die Kupplung haben wollten. Einige haben sogar gesagt: ‚Egal, was der Rollikup kostet, ich brauche sowas!‘“, erzählt Eduard Wiebe.

Mindestens ebenso wichtig wie das positive Feedback und die zusätzlichen Umsätze ist für beide Unternehmen aber auch der Motivationsschub, den sie in den vergangenen Wochen bekommen haben. „Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind wahnsinnig stolz auf den Erfolg und die vielen positiven Medienberichte“, sagt die Geschäftsführerin der Werkhaus GmbH Ines Rose. „Einige unserer Beschäftigten haben die Zeitungsartikel über die Fernsehshow sogar ausgeschnitten und an ihrem Arbeitsplatz aufgehängt. Dieses tolle Erlebnis hat uns allen neuen Schwung gegeben.





Eine Anhängerkupplung für Rollstühle

Die Entwicklung des Erfinder-Duos der Teuto InServ aus Bielefeld ist ebenso simpel wie genial: zwei Mitarbeiter des Inklusionsunternehmens haben ein Kupplungssystem für den Rollstuhl entwickelt, an dem man Koffer, Transport- oder Kinderanhänger sicher befestigen kann. „Rollikup“ heißt diese Entwicklung von Andreas Neitzel und Eduard Wiebe, zusammengesetzt aus den Wörtern „Rollstuhl“ und „Kupplung“. Das System ist das weltweit erste seiner Art, denn anders als zum Beispiel schon existierende Kupplungen für Fahrradanhänger lässt sich „Rollikup“ auch hinter dem Rücken und mit einer Hand bedienen.

Das Entwickler-Team stellt seine Erfindung am Dienstag, 19. März, in der TV-Show „Das Ding des Jahres“ vor. Es bewirbt sich damit um ein Preisgeld von 100.000 Euro. Zur Jury gehören unter anderem der Moderator Joko Winterscheidt und das Model Lena Gercke. Die Show wird um 20.15 Uhr auf Pro Sieben ausgestrahlt.

Übrigens: Wenn ihr wissen wollt, was der Inklusionsbetrieb Teuto InServ sonst noch so alles macht, lest hier unser Porträt über das Unternehmen!




Ein Gemeinschaftsbüro für alle

Barrierefreie Räume, höhenverstellbare Schreibtische, Braille-Tastaturen: Das und noch vieles mehr bietet Deutschlands erster inklusiver Coworking-Space „TUECHTIG“ seit dem Jahr 2017.

Das Gemeinschaftsbüro liegt mitten im Berliner Stadtteil Wedding. Menschen mit und ohne Handicap können hier einen Schreibtisch oder Konferenzraum anmieten, sich mit anderen Gründerinnen und Freiberuflern austauschen oder auch gemeinsame Projekte entwickeln.

Das „TUECHTIG“ bietet auf Wunsch auch Angestellten einen Ort zum Arbeiten an, die nach einem Unfall oder einer Erkrankung einen barrierefreien Arbeitsplatz brauchen, ihr Arbeitgeber diesen aber noch nicht zur Verfügung stellen kann.

Den ganzen Tag lang stehen im Gemeinschaftsbüro mehrere Arbeitsassistentinnen und -assistenten bereit. Sie unterstützen alle, die es wünschen, bei der Arbeit. Außerdem ist im „TUECHTIG“ eine Psychologin fest angestellt. Sie begleitet zum Beispiel Menschen nach einem Burn-Out oder anderen Erkrankungen dabei, wieder ins Berufsleben zurückzukehren und neue Arbeitsabläufe zu entwickeln.




Irgendwas mit Computern

Frau Ray, welche Entwicklungen im IT-Bereich machen diesen Berufszweig für Menschen mit Behinderung interessant?

Die IT-Branche wächst seit Jahren, im vergangenen Jahr sogar um fast 3 Prozent. Wir selbst, die akquinet AG, sind ein IT-Dienstleister für andere Unternehmen, bei denen wir zum Beispiel ERP- und Kollaborations-Systeme einführen. Die Abkürzung „ERP“ heißt „Enterprise-Resource-Planning“. Das sind IT-Anwendungen, mit denen die Betriebe ihre Prozesse besser steuern und die Zusammenarbeit der Mitarbeiter fördern können.
Wir entwickeln darüber hinaus auch eigene Softwarelösungen und pflegen in unseren Rechenzentren die IT-Systeme und Daten unserer Kunden. Da heute viele Unternehmen immer mehr in ihre IT investieren und sie ausbauen, haben viele Dienstleister – also auch wir – einen immer größeren Bedarf an zusätzlichen Experten, vor allem in den Bereichen Entwicklung, Consulting, Sales und Support. Diese Leute werden natürlich allerseits heiß umworben. Genau hier liegt aus meiner Sicht eine große Chance für Menschen mit Behinderung.

Welche Chancen meinen Sie damit?

In der Branche sind sehr viele Arbeitsplätze unbesetzt, daher suchen wir immer neues Fachpersonal. Menschen mit Behinderungen könnten von diesem positiven Trend im IT-Berufszweig sehr profitieren, weil sie hier mit weniger mit anderen Bewerberinnen und Bewerbern konkurrieren müssen. Laut der Bundesagentur für Arbeit arbeiten im Moment aber leider nur etwa 23.000 Menschen mit schwereren Behinderungen im IT-Sektor – da schlummern aus meiner Sicht riesige Potenziale und viele Chancen.

Was tun Sie als Integrationsbeauftragte in Ihrem Unternehmen, um diese Kluft zu schließen?

Wir haben unter anderem eine Inklusionskampagne mit dem Namen „Inklusion? – na klar!“ ins Leben gerufen. Damit wollen wir nach und nach ein Netzwerk in der IT-Branche zur beruflichen Inklusion von Menschen mit Behinderungen aufbauen. Wir setzen uns zum Beispiel dafür ein, dass der Austausch zwischen IT-Branchenvertretern, Interessenverbänden und Akteuren der beruflichen Rehabilitation stärker und besser wird.
Eine der Maßnahmen in der Kampagne war außerdem, dass wir 2017 als akquinet AG eine Woche lang am Online-Format „Karriereratgeber“ des Magazins Computerwoche teilgenommen haben. Dort haben wir gezielt Menschen mit Behinderungen zu Jobs in der IT-Branche beraten.
Auch jetzt noch können Interessierte auf der Plattform regelmäßig mit Insidern in Kontakt treten und ihnen Fragen stellen – zum Beispiel zu deren Arbeitsalltag, dem Ablauf der Mitarbeitersuche in Unternehmen und zu den nötigen Qualifikationen für verschiedene Berufsbilder in der Branche.

Wie war die Resonanz auf das Angebot?

Gut! Wir bekamen einige Anfragen über das Online-Forum und hatten außerdem auch direkten Kontakt mit Interessierten. Der schöne Nebeneffekt für uns als Unternehmen ist, dass wir durch solche Aktionen am IT-Arbeitsmarkt mittlerweile als Inklusionstreiber gesehen werden. Und das schlägt sich unter anderem darin nieder, dass wir inzwischen mehr qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber auf ausgeschriebene Stellen haben. Wir hoffen, damit unseren Bedarf an neuen Experten nach und nach zu decken und zugleich anderen vorleben zu können, wie angewandte Inklusion in der IT-Branche funktioniert.

Welche Fragen wurden Ihnen während dieser Woche am häufigsten gestellt, wo gibt es also besonderen Informationsbedarf?

Es haben vor allem sehr viele junge Menschen mit Behinderungen Kontakt mit uns aufgenommen. Sie möchten nach der Schule gern in einem Beruf in der IT-Branche arbeiten, wissen aber nicht, wie sie sich dafür qualifizieren müssen und können. Wir haben sie im Rahmen der Aktionswoche zu den Weiterbildungsmöglichkeiten in der Branche informiert. Es gibt beispielsweise gute IT-Fernstudiengänge oder auch duale Ausbildungen, die einen stärkeren Praxisbezug haben. Solche dualen Studiengänge bieten wir zum Beispiel auch selbst an, und zwar gemeinsam mit dem Institut für Softwaretechnik und Outsourcing an der FH Wedel.
Ein weiteres großes Thema war das der Teilhabe, also die Frage danach, wie die berufliche Inklusion in einem IT-Unternehmen funktioniert. Das hatte ich als Inklusionsbeauftragte schon erwartet. Die große Frage dahinter ist immer die gleiche: Wie können Strukturen und die Verhaltensweisen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einem Unternehmen so verändert, gefördert und gelebt werden, dass alle gleichberechtigt sind und gut arbeiten können?

Und wie geht das?

Eine große Verantwortung haben immer die Köpfe eines Teams, also die Chefs. Durch eine klare Aufgabenverteilung und die begleitende Kommunikation im Berufsalltag können sie entscheidend dazu beitragen, dass die inklusive Zusammenarbeit im Team möglich wird. Umgekehrt sollten Menschen mit Behinderungen schon im Bewerbungsprozess darauf achten, ob die vorgegebenen Strukturen passend für gelebte Teilhabe sind. Für solche Fragen sind vor allem die Inklusionsbeauftragten eines Unternehmens sehr wichtige Ansprechpersonen, vor allem für neue Jobanwärterinnen und -anwärter.

Was war die ungewöhnlichste Frage, die Sie während der Kampagne gehört oder gelesen haben?

Dazu muss ich ein wenig ausholen. Ich habe in meinem Beruf täglich mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beziehungsweise Bewerberinnen und Bewerben zu tun, die eine Behinderung haben. Das ist für uns Alltagsroutine und ganz normal. In vielen anderen Unternehmen und auch in der Gesellschaft ist das aber leider noch nicht so. Bei einigen Anfragen zeigte sich dann, dass manche Menschen mit Behinderungen gar nicht so recht wissen, ob sie ihre Behinderung im Bewerbungsprozess überhaupt erwähnen sollten. Diese Unsicherheit entsteht häufig aus der Sorge vor Nachteilen.
Ich sehe das aber so: Wenn man in einem Umfeld arbeitet, in dem schon durch den Job viel von einem gefordert wird, ist es besonders wichtig, offen mit den persönlichen Bedingungen und eventuellen Einschränkungen umzugehen. Das ist sogar eine Voraussetzung dafür, einen vertrauensvollen und konfliktfreien Umgang mit Kolleginnen und Kollegen oder den Führungskräften zu erreichen. Deshalb ist mein Rat: Geht von Beginn an offen mit eurer Behinderung um. Stört euch nicht an Fragen und Unsicherheiten eures Umfelds, sondern nehmt sie als Chance an. Unsicherheiten sind menschlich und gehören von beiden Seiten dazu. Je offener ihr also selbst mit eurer Behinderung seid, desto größere Chancen entstehen auch für die Menschen in eurem Arbeitsumfeld, respektvoll und selbstverständlich damit umzugehen.






Impfen, füttern, ausmisten: Wie ein 19-Jähriger seinen Traumjob fand

Tobias Koddebusch steht im Stallgang zwischen zwei großen Sauenboxen. Er greift einen großen Schwung Heu aus einer Schubkarre und stopft das Futter in die Raufe der rechten Box. Unter dem Behälter drängeln sich schon einige Sauen, die ungeduldig die ersten Halme herausrupfen. „Die Schweine müssen sich schon etwas anstrengen, um das Heu aus den kleinen Löchern der Raufe zu ziehen“, erklärt der 19-Jährige. „Das ist für sie wie ein Spiel und deshalb eine gute Beschäftigung.“ Er versorgt auch die Sauen in der anderen Box mit Heu, dann geht er weiter in den nächsten Stallbereich, schnappt sich die Mistschaufel und macht sich daran, die Boxen der Mutterschweine und Ferkel auszumisten.

Seit gut zwei Jahren kümmert sich Tobias Koddebusch zusammen mit zwei Kollegen um die rund 550 Tiere, die auf dem Hof der Bertelsbeck GbR im münsterländischen Coesfeld leben. Mit der Arbeitsstelle hat sich der größte Traum des jungen Mannes erfüllt, der das Down-Syndrom hat. Er wollte schon als kleiner Junge später einmal Landwirt werden, denn seine Eltern führen selbst einen landwirtschaftlichen Betrieb im 40 Kilometer entfernten Lüdinghausen. Dem 19-Jährigen sind die Arbeiten rund um Hof und Tiere also schon lange vertraut.

Wegen seiner Behinderung war es für Tobias Koddebusch aber trotzdem nicht selbstverständlich, dass er seinen Traumberuf auch tatsächlich ergreifen konnte. Nachdem er die Hauptschule abgeschlossen hatte, stand er vor der Frage, ob er in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung arbeiten sollte oder ob er eine Stelle in einem Inklusionsbetrieb finden würde. „Ich bin dann hier gelandet“, sagt er strahlend. „Und hier bin ich sehr glücklich.“

Tobias Koddebusch mistet gerade in seiner Arbeitskleidung den Schweine-Stall aus.
Der junge Mann macht alle Aufgaben gerne, auch das Ausmisten des Stalls. Foto: LWL/Busch

Inklusion aus Überzeugung

Den Weg in diesen Beruf ebnete ihm zu einem großen Teil die Betriebsleiterin Silke Witte. Gemeinsam mit ihren Arbeitgebern Alois Homann und Bernhard Langehaneberg machte sie aus der Bertelsbeck GbR das inklusive Unternehmen, das sie heute ist – aus Überzeugung und Leidenschaft für das Konzept. „Mein Vater leitet in Münster auch einen inklusiven landwirtschaftlichen Betrieb, in dem ich sehr viele Erfahrungen sammeln konnte“, erzählt die 33-Jährige. „Die tolle Stimmung dort hat mich total begeistert. Das wollte ich auch machen.“
Nach ihrer Landwirtschaftslehre absolvierte Silke Witte eine Fortbildung zur staatlich geprüften Agrarbetriebswirtin, seit 2015 leitet sie den Hof in Coesfeld im Auftrag der Bertelsbeck GbR. Als im Jahr 2016 ein Kollege in den Ruhestand ging, wurde eine Stelle frei. Die Betriebsleiterin nutzte die Gelegenheit und wandte sich an Mechthild Schickhoff, die Inklusionsberaterin der Landwirtschaftskammer NRW. Sie stellte den Kontakt zu Tobias Koddebusch her, der zunächst ein Jahrespraktikum im Betrieb machte. Heute ist er als landwirtschaftlicher Helfer fest bei der Bertelsbeck GbR angestellt.

Enge Zusammenarbeit und Unterstützung

An vier Tagen pro Woche hilft der junge Mann im Stall mit. Eine seiner Hauptaufgaben ist es, die Ferkel zu versorgen. Drei Tage nach der Geburt impft er die Tiere gegen verschiedene Krankheiten, setzt ihnen Ohrmarken und kupiert die Schwänze. All das hat er in Coesfeld gelernt, denn auf dem Hof seiner Eltern werden keine Ferkel, sondern nur etwas ältere Jungsauen aufgezogen. „Am Anfang war das merkwürdig für mich, ich musste so viel Neues lernen und behalten“, erinnert er sich. Silke Witte und ihr Kollege Markus Schwaag begleiteten ihn während dieser Phase eng und unterstützen ihn auch heute noch bei seinen Aufgaben.

Als die Mittagspause vorbei ist, steht für Tobias Koddebusch die Ferkelfütterung auf dem Plan. Silke Witte hilft dabei, die richtigen Futtermengen abzumessen. „Wie viel Trockenfutter die Tiere bekommen, hängt von ihrem Alter ab“, sagt die Betriebsleiterin. „Tobias hat manchmal Schwierigkeiten, das genau auszurechnen.“ Es stört sie aber nicht, dass ihr Helfer ab und zu mehr Unterstützung braucht als andere Mitarbeiter. „Ich muss damit umgehen können, dass manches einfach etwas länger dauert oder öfter wiederholt werden muss“, sagt Silke Witte. „Aber das geht gut. Für uns und unser Team ist die Zusammenarbeit eine Bereicherung und wir haben dabei immer viel Spaß miteinander.“

Silke Witte und Tobias Koddebusch auf dem Hof
Tobias Koddebuschs Chefin Silke Witte hat sich damals dafür eingesetzt, einen Mitarbeiter mit Behinderung einzustellen. Foto: LWL/Busch

Lieblingsaufgabe: Stall waschen

Das Trockenfutter für alle Schweine-Altersgruppen steht bereit, Silke Witte verlässt den Stall wieder: den Rest kann Tobias Koddebusch allein. Er teilt den Ferkeln ihre Portionen zu und schaut sich nebenbei jedes Tier ganz genau an. Die Schweine könnten trotz der Impfungen krank werden. „Wenn ich bemerke, dass ein Tier Durchfall oder Husten hat, sage ich sofort den Kollegen Bescheid“, erklärt der junge Mann. „Sie versorgen es dann, damit es ihm schnell besser geht.“ Nach dem Füttern fegt er die Gänge in den Ställen und mistet noch einmal aus. Dann tauscht er seine Arbeitskleidung gegen einen wasserfesten Overall und Ohrenschützer. Er grinst dabei die ganze Zeit, denn jetzt kommt seine Lieblingsaufgabe: den Stall waschen. Wie jeden Mittwoch säubert er mit dem Hochdruckreiniger die Boxen, die nach dem Verkauf einiger Jungschweine freigeworden sind.

Schnell ist alles blitzsauber und bereit für die neuen Ferkel, die in den nächsten Tagen geboren werden. Tobias Koddebusch hängt seinen Overall zum Trocknen auf, zieht Jeans und Pullover an und holt sein E-Bike aus dem Büro. Eine Stunde wird er für den Heimweg brauchen. Insgesamt ist er jeden Tag zwei Stunden unterwegs: Morgens fährt er mit dem Rad vom Hof seiner Eltern zum Bahnhof in Lüdinghausen, von dort mit der Bahn nach Coesfeld und dann wieder mit dem Fahrrad zu seinem Arbeitsplatz, abends denselben Weg zurück. „Die Strecke macht mir aber gar nichts aus“, sagt er. „Ich freu mich schon auf morgen!“





Bald auf dem Markt: preisgekrönte Gebärden-Lern-App für Kinder

Anke, wie bist du auf die Idee gekommen, eine inklusive App zu entwickeln?

Durch meinen Sohn Lasse. Er hat das Down-Syndrom, ist neun Jahre alt und besucht eine Regelschule in Hamburg. Er spricht noch unverständlich, deshalb brauchen er und seine Mitschülerinnen und Mitschüler viel Geduld, um sich miteinander zu verständigen. Im Moment müssen die anderen Kinder häufig Lasses Sprachcomputer zu Hilfe nehmen, oder sein Schulbegleiter muss für ihn dolmetschen. Das ist eine große Barriere, die die anderen Kinder frustriert und Lasse oft traurig macht. Seine Sonderpädagogin hat deshalb damit angefangen, mit der ganzen Klasse Gebärden der Deutschen Gebärdensprache zu lernen.

Und um das zu unterstützen, entwickelt ihr die EiS-App?

Genau, denn mein Sohn braucht für alles, was er lernen will, mehr Wiederholungen als seine Mitschüler. Im Schul- oder Familienalltag lässt sich dieses zeitintensive Lernen nicht immer in dem Umfang unterbringen, den er benötigt. Lasse wiederholt Lerninhalte aber sehr gern für sich allein und in seinem Tempo, am liebsten mit Videos. Er schaut sie sich immer wieder an und ahmt sie nach. Ich wollte ihn beim Gebärdenlernen mit Videos unterstützen, habe aber keine adäquate kindgerechte Software gefunden.

Wie bist du an das Projekt herangegangen?

Ich habe meine Idee 2017 beim Hackathon „Die Zukunft der Bildung“ vorgestellt. Das war ein Wettbewerb der Wochenzeitung „DIE ZEIT“, der sich um Bildung im Zeitalter der Digitalisierung drehte. Dort habe ich mein Team kennengelernt: Luisa Heinrich, Marcus Willner, Ron Drongowski und Saskia Heim.
Luisa kümmert sich als Grundschullehrerin – mit viel Erfahrung in Inklusionsklassen und mit Kindern mit Migrationshintergrund – gemeinsam mit mir um das Inhaltliche und Pädagogische. Marcus ist Entwickler und Geschäftsführer der tapLab GmbH, er kennt sich mit Softwareentwicklung aus. Ron leitet die Backend-Entwicklung bei ZEIT ONLINE. Die beiden kümmern sich um die Programmierung der App. Saskia leitet das Team Bildungsmarketing im ZEIT-Verlag und übernimmt zusammen mit mir die Aufgabe, die App bekannt zu machen und zu vertreiben. Es war ein echter Glücksfall für mich, so ein tolles Team zu finden. Gemeinsam haben wir den Hackathon gewonnen. Damit hatten wir ein Startkapital.

Anke Schöttler hebt den Finger im Gespräch mit einer Kollegin, die nicht im Bild zu sehen ist.
Anke Schöttler im Bootcamp zur Digital Imagination Challenge 2018. Die EiS-App war unter den fünf Finalisten und hat den Wettbewerb gewonnen.
Foto: Andi Weiland/gesellschaftsbilder.de

Wie funktioniert die App und wie ist sie aufgebaut?

Wir haben eine Basis-Version entwickelt, die rund 200 Begriffe enthält. Jeder diese Begriffe ist in vier Varianten in der App hinterlegt: als geschriebenes Wort, als METACOMSymbol, als Audio-Datei und als Gebärden-Video. So haben die Kinder unterschiedliche Zugänge und können zum Lernen die Variante wählen, mit der sie am besten kommunizieren können. Zugleich ist die App sehr einfach und klar strukturiert. Auch Kinder mit kognitiven Einschränkungen können sie leicht bedienen und nutzen. Überhaupt kann jeder mit dem Programm einen Grundwortschatz an Gebärden lernen, egal ob sie oder er besser lesen, schreiben, hören oder sprechen kann.

Und wie habt ihr die Begriffe ausgewählt, die in der Basis-Version enthalten sind?

Wir haben uns an der Arbeit von Prof. Dr. Jens Boenisch und Dr. Stefanie Sachse orientiert. Die beiden Wissenschaftler von der Uni Köln haben herausgefunden, dass Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung in 80 Prozent ihrer Unterhaltungen nur rund 200 Wörter verwenden. Wir haben uns also auf genau diese Begriffe konzentriert. Das sind zum Beispiel Worte wie „ich“, „du“, „wollen“, „können“ oder „nicht“. Die komplexe Grammatik der Deutschen Gebärdensprache können wir dabei allerdings nicht abbilden, die sollte man sowieso von Muttersprachlerinnen und Muttersprachlern lernen. Einige Landesverbände des Deutschen Gehörlosen-Bunds und viele Volkshochschulen bieten dazu entsprechende Kurse an.

Die App richtet sich also speziell an Kinder?

Ja, sie ist als Alltagshilfe für Kinder gedacht, die unterstützt kommunizieren, also eine Ergänzung zur Lautsprache brauchen. Wir möchten aber auch Kinder unterstützen, die Deutsch als Zweitsprache lernen, Sprachentwicklungsverzögerungen haben oder sich einfach noch nicht trauen, zu sprechen. Auch ihre Familien und Freunde können so einen Grundwortschatz an Gebärden erlernen. Und natürlich Erzieherinnen, Assistenten und alle anderen, die diese Kinder beim Lernen begleiten.

Wie erreicht ihr diese junge Zielgruppe?

Wir wenden uns mit unserem Angebot vor allem an Kitas und Schulen. In Hamburg haben wir schon ein gutes Netzwerk aufgebaut, stehen in Kontakt zu Kitaträgern und auch zur Schulbehörde. Von Hamburg aus wollen wir dann bundesweit wachsen. Im Mai werde ich die EiS-App beim Sonderpädagogischen Kongress in Weimar vorstellen, und das Lehrerinstitut in Hamburg hat uns kürzlich zu einer Tagung zur Unterstützten Kommunikation eingeladen.

Können Eltern die App schon für ihre Kinder herunterladen?

Nein, noch nicht, wir sind nämlich gerade erst mit der Testphase fertig. Dafür haben wir ausführlich mit den unterschiedlichsten Expertinnen und Experten zusammengearbeitet, zum Beispiel mit Kindern, Eltern, Sonderpädagogen, Therapeutinnen, Schulbegleitern und Fachleuten für Unterstützte Kommunikation. Sie haben die App durchgetestet. Das Feedback war toll: Sie haben bestätigt, dass die EiS-App eine echte Alltagshilfe sein kann. Dieser erste Prototyp, mit dem die Tester gearbeitet haben, ist eine Web-App. Jetzt entwickeln Marcus und Ron die Versionen für iOS und Android. Wir wollen die Basis-Version der EiS-App Ende des ersten Quartals 2019 in die App-Stores und damit auf den Markt bringen.

Wird die App etwas kosten?

Ja, denn wir wollen sie ja langfristig anbieten und weiterentwickeln. Im Moment arbeiten wir komplett ehrenamtlich und finanzieren die gesamte Entwicklungsarbeit über die Preisgelder, die wir bisher gewonnen haben. Das ist auf Dauer kein tragfähiges Modell.

Einer der Wettbewerbe, die ihr gewonnen habt, war die Digital Imagination Challenge 2018. Welche Impulse habt ihr aus dem Innovations-Wettbewerb mitgenommen?

Sehr viele! Zunächst einmal hat uns das positive Feedback der anderen Finalisten, der Coaches und der Jury gezeigt, dass unser Engagement eine große gesellschaftliche Wirkung haben kann. Es geht bei der EiS-App ja nicht nur um die Situationen im Alltag, in denen die Software Kindern dabei hilft, sich zu verständigen. Wir sensibilisieren Kinder mit und ohne Behinderung auch für eine inklusive Gesellschaft. Sie lernen mit Hilfe der App, wie vielfältig Kommunikation sein kann – und mit dieser Erkenntnis können sie auch die Erwachsenen „anstecken“.
Das achtwöchige Support-Programm der Challenge wiederum hat uns praktisch sehr weitergebracht. Wir haben damit unser Projekt besser strukturiert und unsere Business-Beraterin hatte auch viele gute Ideen und Anregungen für uns. Wie kalkulieren wir zum Beispiel den finanziellen Aufwand, der nötig ist, um die App nachhaltig zu betreiben? Welche Investoren könnten wir gewinnen? Welche Fördertöpfe sind für uns interessant? Das hat uns sehr inspiriert und motiviert, weiterzumachen.

Wie wollt ihr die Basis-Version der App in Zukunft erweitern?

Da haben wir schon sehr viele Ideen. Wir möchten ein Memory, ein Quiz oder andere Spiele einbauen, mit denen Kinder die gelernten Begriffe spielerisch einüben und festigen können. Die Nutzerinnen und Nutzer sollen in der App später auch einen eigenen Wortschatz anlegen und eigene Videos integrieren können. Wir denken außerdem darüber nach, eine Augensteuerung für die App zu entwickeln, damit auch motorisch eingeschränkte Kinder sie nutzen können. Und das Programm soll Screenreader-fähig werden, damit Menschen mit Sehbehinderung sich die Inhalte von einer entsprechenden Software vorlesen lassen können. Sie können damit zwar keine Gebärden lernen, weil man die Handbewegungen tatsächlich sehen muss, um sie nachzuahmen. Aber die App kann trotzdem die Kommunikation zwischen blinden Kindern und Kindern mit Sprachschwierigkeiten erleichtern, weil die Wörter ja auch als Audio-Datei hinterlegt sind. So finden dann wirklich alle eine Möglichkeit, sich miteinander zu verständigen.






Computerschrift zeigt Gefühle

Herr Schlippe, Sie haben 2015 Ihr Startup Silicon Surfer gegründet und es zuerst in Teilzeit betrieben, ab Anfang 2018 dann in Vollzeit. Kurz danach haben Sie „WaveFont“ entwickelt. Was ist das für eine Software und was hat sie mit Inklusion zu tun?

WaveFont ist eine Technologie, mit der es zum ersten Mal möglich ist, Informationen in Filmen einzubinden, von denen Menschen mit einer Hörbehinderung bisher oft ausgeschlossen waren. Diese Infos können nämlich nur hörende Menschen entschlüsseln – zum Beispiel die Betonung und die Geschwindigkeit, mit der Menschen in einem Film sprechen oder die Pausen, die sie einlegen. Mit meiner Software werden solche Emotionen in der Sprecherstimme automatisch analysiert und können dann in den Untertiteln eines Videos dargestellt werden.

Wie genau funktioniert die Software?

Der Ausgangspunkt ist die gesprochene Sprache. Sie ist entweder in der Audiospur eines Videos vorhanden oder sie wird über ein Mikrofon aufgenommen. WaveFont analysiert die Aussprache der Sätze, Wörter und einzelnen Buchstaben. Aktuell werden die Geschwindigkeit und Lautstärke des Gesprochenen ausgewertet und anschließend in Zahlen umgewandelt. Dafür setzen wir Künstliche Intelligenz und Machine-Learning-Technologien ein.
Im nächsten Schritt werden diese Zahlenwerte in Schrift umgewandelt. Ein laut gesprochenes Wort wird zum Beispiel in fetter Schrift dargestellt, die beim Lesen automatisch mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ein sehr langsam gesprochenes Wort erzeugt dagegen breite Buchstaben. Daraus entstehen breitere Wörter, für die man automatisch mehr Zeit zum Lesen braucht – und damit verlangsamt sich der Lesefluss. Das sind nur zwei Beispiele. WaveFont kann auch noch weitere, individuelle Merkmale in Untertiteln umsetzen, die ganz auf die Bedürfnisse der jeweiligen Zielgruppe zugeschnitten werden können.

Das sind ja vor allem gehörlose Menschen. Woher wussten Sie, dass eine solche Technologie gebraucht wird?

Weil ich bei deutschen Gehörlosenvereinen und -verbänden genau dazu Umfragen durchgeführt habe. Die Antworten zeigten, dass es einen deutlichen Bedarf für emotionalere Untertitel gibt. 98% der Befragten finden, dass so eine Technologie einen Mehrwert für sie hätte und würden WaveFont-Untertitel auch gern nutzen. Übrigens profitieren auch hörende Menschen von dieser emotionalen Darstellung von Schrift, zum Beispiel, wenn sie auf ihren Smartphones Videos ohne Ton schauen möchten. Oder Menschen, die gerade eine fremde Sprache lernen: Sie werden durch die visuellen Informationen in den Untertiteln zusätzlich beim Lernen unterstützt.


WaveFont in Aktion

Fußball ist ein sehr emotionaler Sport – für die Spieler auf dem Platz, für die Zuschauer, aber auch für die Sportjournalisten, die das Spiel aus dem Off beobachten und kommentieren. Der folgende Ausschnitt aus einem Spiel der Fußball-WM zeigt, wie mit WaveFont die Betonungen in der Stimme des Kommentators über die Untertitel transportiert werden (Video unten).

An die Hörenden unter euch: Schaltet doch mal den Ton aus und lest nur mit, während das Video läuft. Ihr werdet merken, dass es etwas Übung braucht, um die Betonungen richtig zu lesen – aber auch, dass die WaveFont-Untertitel wirklich mehr als nur inhaltliche Informationen transportieren können.
Wenn ihr noch mehr Video-Beispiele sehen wollt, schaut doch einfach auf der WaveFont-Facebookseite vorbei oder besucht den Instagram-Account von Silicon Surfer.

Warum reicht die bisherige Darstellung von Untertiteln für gehörlose Menschen nicht aus?

Weil menschliche Sprache ja nicht nur aus neutralen Informationen besteht. Der Tonfall und viele andere kleine Merkmale lassen Rückschlüsse auf den Charakter oder die Stimmung eines Menschen zu. Ist der Sprecher vielleicht gerade traurig und spricht deshalb sehr leise und langsam? Oder macht er gerade einen Witz und spricht dadurch eher laut und schnell? Vor allem dann, wenn jemand in einem Video aus dem „Off“ spricht, seine Mimik also nicht zu sehen ist, können Menschen mit einer Hörbehinderung solche Botschaften gar nicht entschlüsseln. Sie sind von diesen wichtigen Zusatzinformationen also komplett ausgeschlossen, und da helfen „normale“ Untertitel eben auch nicht weiter. Mit WaveFont will ich das ändern – und so langfristig zu mehr Barrierefreiheit und Inklusion im öffentlichen Raum beitragen.

Und wie finanzieren Sie Ihr Projekt?

Am Anfang durch eine erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne bei Startnext. Damit hatte ich die finanziellen Mittel, um die Technologie von Grund auf zu entwickeln und weiterzudenken. Die Kampagne ist Ende August 2018 ausgelaufen, seither habe ich mein Angebot sogar noch erweitern können.

Ihre Technologie ist also schon im Einsatz?

Ja! Jeder, der gerade einen Film produziert, kann uns einfach ansprechen und uns um ein Angebot bitten (Kontaktdaten siehe unten). Unsere Kunden senden uns dafür zuerst ihr Video zu. Wir machen dann anhand der Länge und Komplexität des Filmmaterials ein Angebot. Wenn der Kunde damit einverstanden ist, beginnen wir mit der Arbeit. Zum Schluss liefern wir den Film mit den schon eingebundenen WaveFont-Untertiteln zurück. Interessant ist so etwas zum Beispiel für Unternehmen, die inklusive Imagefilme produzieren wollen, aber auch für Fernsehsender, Filmproduzenten, Video-On-Demand-Anbieter, Mediathek-Betreiber oder Werbeagenturen. Im Prinzip können uns aber auch Privatpersonen ihre Filme zuschicken.


Gibt es WaveFont auch in anderen Sprachen?

Ja, neben Deutsch setze ich Video-Untertitel in englischer und in spanischer Sprache um. Dieses Angebot möchte ich jetzt schrittweise noch weiter ausbauen. Mein Ziel ist es, diesen Service eines Tages in sehr vielen anderen Sprachen anzubieten, damit weltweit Menschen davon profitieren können.

Was ist Ihr Plan für die Zukunft?

Ich will WaveFont eines Tages als Standardtechnologie etablieren. Dafür mache ich jetzt schon Kampagnen, weil diese Art von Untertiteln ja doch eine sehr neue Art ist, einen Film oder ein Video zu erleben. Außerdem will ich Gehörlose und Menschen mit Hörbehinderung weiterhin in den Prozess einbinden, um die Technologie für sie optimal weiterzuentwickeln. Dafür könnte ich mir zum Beispiel auch weitere Studien mit den Gehörlosen-Verbänden gut vorstellen.




Digitale Innovationen für mehr Inklusion im Alltag

 #1: Das Deaf Magazine – ein analoges Heft mit digitalen Inhalten

Die Macher des ‚Deaf Mag‘ bezeichnen ihr Heft als „Lifestyle- und Gesellschaftsmagazin für die deutsche Gehörlosenszene“. Sie möchten damit Kommunikationsbarrieren für Gehörlose und für Menschen mit Hörbehinderung abbauen. Und das geht so: Das Magazin ist ein gedrucktes Heft, das neben Texten und Bildern auch Verweise auf Gebärdensprach-Videos enthält. Möglich wird das mit Augmented Reality (Übersetzung: Erweiterte Realität). Mit dieser Technologie werden kleine Codes in die Bilder des Magazins eingefügt, die auf Videos im Netz verweisen. Die Leser müssen nur die App zum Magazin auf ihrem Smartphone installieren und können das Telefon dann einfach über einen solchen Code halten – damit gelangen sie direkt zu den Videos. Die kleinen Filme ergänzen die Beiträge im Magazin mit Infos in Gebärdensprache, zum Beispiel zu Persönlichkeiten aus der Gehörlosen-Szene, Veranstaltungen, Barrierefreiheit oder der Gebärdensprachkultur in anderen Ländern. Die Videos sind zusätzlich untertitelt.

Der Hintergrund der Idee zum Magazin ist, dass viele gehörlose Menschen mit der Deutschen Schriftsprache Schwierigkeiten haben, weil sie auf der gesprochenen Sprache basiert. Die Muttersprache von Menschen mit Hörbehinderung ist aber die Gebärdensprache – und diese unterscheidet sich in Grammatik und Wortbildung sehr stark von der Lautsprache. Das Deaf Mag berücksichtigt genau das und erleichtert Gehörlosen durch die per Code eingebundenen Videos in Gebärdensprache den Zugang zu den Inhalten des Magazins. Nebenbei können die Leser außerdem neue Wörter in Schriftsprache lernen – oder sich umgekehrt, dank der Untertitel unter den Videos, die Gebärdensprache aneignen.

Zwei junge Männer schauen auf ein Smartphone, auf dem die App des Deaf Magazine aufgerufen ist.
Wer die App des Deaf Magazine herunterlädt, kann darin Videos zu den Artikeln im Magazin anschauen. Foto: Andi Weiland/ Gesellschaftsbilder.de

#2: Die EiS-App – Gebärdensprache spielerisch lernen

Die EiS-App (Abkürzung für ‚Eine inklusive Sprachlern-App‘) soll Kinder mit einer verzögert entwickelten Sprache dabei unterstützen, die Gebärdensprache zu erlernen. Die Mädchen und Jungen haben nämlich oft Schwierigkeiten, sich in Lautsprache mit anderen zu unterhalten. Wenn sie und ihre Freunde aber einen „Grundwortschatz“ in Deutscher Gebärdensprache hätten, könnten sie unkompliziert und spielerisch miteinander kommunizieren. Genau das ist die Idee der Entwickler, die ihre App an Schulen und Kindergärten als Hilfsmittel zum Erlernen der Gebärdensprache etablieren wollen. Sie hoffen, damit auch Berührungsängste zwischen Kindern mit und ohne Behinderung abzubauen. Aktuell ist die App noch in der Testphase.

Die Software funktioniert wie ein Wörterbuch, das den Wortschatz und die Grammatik der Gebärdensprache vermittelt: Neben dem ausgeschriebenen Wort erscheinen ein Symbol und ein Gebärdenvideo, außerdem ist der jeweilige Begriff als Audio-Datei hinterlegt. Die App ist damit sehr intuitiv bedienbar und auch das barrierefreie Design ist genau auf Menschen mit kognitiven Behinderungen zugeschnitten.

#3: Match My Maker – günstige Hilfsmittel von Bastlern und Tüftlern

Diese Online-Plattform will gezielt Menschen mit Behinderung und kreative Köpfe zusammenbringen, die ihre Talente und Fähigkeiten einsetzen möchten, um individuelle Hilfsmittel zu entwickeln. Match My Maker ist also ein Netzwerk für private oder professionelle „Macher“, die sich mit moderner Technik auskennen und verschiedenste Objekte bauen oder umgestalten können – zum Beispiel einen Getränkehalter für einen Rollstuhl oder individuell angepasste Griffe für einen Gehstock aus dem 3D-Drucker.

Die Plattform stellt aber nicht nur Kontakte her, sondern unterstützt die inklusiven Projektteams auch mit Coachings. Außerdem können die Entwickler ihre Lösungen in einer Datenbank erfassen, damit auch andere Menschen auf ihre Ideen zugreifen und diese für sich oder ihre Angehörigen weiternutzen können.

Drei Frauen besprechen an einem Flipchart die Ideen für ihr Projekt.
Was können wir mit unserer Idee erreichen und was müssen wir dafür tun? Mit diesen und anderen Fragen erarbeiten die Finalisten Projektpläne für ihre Start-ups. Foto: Andi Weiland/Gesellschaftsbilder.de

#4: „Kultur mit allen Sinnen“ – eine inklusive Museums-App

Der Name der App, die von der Berlinischen Galerie zusammen mit dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband DBSV entwickelt wurde, ist wörtlich gemeint: Sie soll es allen Menschen mit und ohne Behinderung ermöglichen, Kultur und Kunstwerke mit verschiedenen Sinnen zu erleben. Die Software führt die Besucherinnen und Besucher zu den 17 wichtigsten Stationen der Dauerausstellung „Kunst in Berlin 1880-1980“ und liefert dort nicht nur Hintergrundinformationen zum jeweiligen Künstler, dessen Technik und zur Entstehungszeit der Gemälde und Skulpturen, sondern auch eine sehr detaillierte akustische Beschreibung der Werke. Die Inhalte werden automatisch abgespielt, sobald die Besucher an einer Station angelangt sind. Ergänzt wird das Kultur-Erlebnis durch ein taktiles Bodenleitsystem, das sich durch die gesamte Ausstellung zieht.

Die App kann übrigens auch in anderen Museen eingesetzt werden und ist beliebig erweiterbar. Zum Beispiel können Infos in Gebärdensprache oder Leichter Sprache ergänzt werden. Und: Die App unterstützt ihre Nutzer auch schon vor dem Museumsbesuch. Wer möchte, kann akustische Wegbeschreibungen von Haltestellen der Öffentlichen Verkehrsmittel zum Museum oder Hinweise zur Orientierung im Museum abrufen.

Die App für iOS und Android ist im App-Store und Google Play-Store verfügbar (Suchbegriff „Berlinische Galerie“).

#5: Ever Guide Ein Indoor-Navigations-System fürs Smartphone

An Flughäfen, in Behörden, in Einkaufszentren oder in ähnlich unübersichtlichen Gebäuden ist es für Menschen mit Sehbehinderung oft nicht einfach, sich zurechtzufinden und sicher zu bewegen. Das Fraunhofer Institut für offene Kommunikationssysteme (FOKUS) möchte das mit seinem Indoor-Navigationssystem „Ever Guide“ ändern. Das Programm nutzt Sensordaten des Smartphones – zum Beispiel der Kamera und des Beschleunigungssensors – und errechnet daraus sehr präzise den Standort des Nutzers innerhalb eines Gebäudes. Diese Technik kann Menschen mit Sehbehinderung dadurch besonders genau führen, was mit einer herkömmlichen GPS-Navigation bisher nicht möglich war.

Ever Guide ist barrierefrei und eignet sich besonders für Menschen mit Sehbehinderung. Aber auch Menschen mit körperlichen Behinderungen profitieren von dem Programm: Es bietet neben der genauen Wegführung auch eine Funktion, mit der barrierefreie Wege im Inneren eines Gebäudes angezeigt werden können.





„Eine vermeintliche Einschränkung kann eine Bereicherung für alle sein“

Frau Roye, die Initiative Discovering Hands ist noch vergleichsweise jung, viele Frauen kennen die Tastuntersuchung durch eine Medizinisch-Taktile Untersucherin wie Sie noch nicht. Wie läuft so ein Termin bei Ihnen ab?

Für eine gründliche Tastuntersuchung nehme ich mir – abhängig von der Größe der Brust – 30 bis 50 Minuten Zeit. Ich beginne immer mit einer Anamnese, also einem Vorgespräch mit der Patientin. Das ist sehr wichtig, um mir einen Überblick über mögliche Risikofaktoren zu verschaffen. Ich frage die Patientin beispielsweise, ob sie sich einer längeren Hormontherapie unterzogen hat, ob Familienangehörige Brustkrebs haben oder hatten oder ob sie selbst schon einmal erkrankt war.
Während sie sitzt, führe ich schon eine erste Untersuchung durch, taste die Brust ab und untersuche die Lymphbahnen in den Achseln, am Schlüsselbein und am Hals. Anschließend legt sich die Patientin hin. Ich klebe dann fünf Spezialklebestreifen auf ihren Oberkörper, die eine Art Raster bilden. Daran orientiere ich mich bei der Untersuchung und kann die Brust damit zentimetergenau, in ganzer Breite und in allen Gewebetiefen abtasten.

Wie geht es danach weiter?

Ich arbeite in meinem Beruf sehr eng mit den Gynäkologinnen und Gynäkologen der jeweiligen Praxen zusammen und dokumentiere für sie meinen Befund ganz genau. Die Ärztinnen und Ärzte besprechen das Ergebnis dann mit der Patientin.
Wenn ich eine Veränderung oder einen Knoten im Drüsengewebe ertastet habe, teile ich das der Patientin schon während der Untersuchung behutsam mit. Wichtig ist aber, dass natürlich nicht jede Veränderung sofort bedeutet, dass sie an Brustkrebs erkrankt ist. Es gibt auch viele harmlose Befunde. Um das abzuklären, übernimmt der behandelnde Arzt oder die Ärztin die weitere Diagnostik und führt zum Beispiel eine Ultraschalluntersuchung der Brust durch. Wenn die Gewebeveränderungen dann immer noch unklar sind, werden der Patientin Gewebeproben entnommen.
Übrigens sprechen wir immer automatisch von „der Patientin“ – dabei können auch Männer an Brustkrebs erkranken. Sie dürfen die spezielle Früherkennungsuntersuchung durch eine MTU ebenfalls in Anspruch nehmen, denn unter den rund 70.000 neuerkrankten Menschen in Deutschland sind zwar nur ein Prozent Männer, aber bei ihnen wird ein Tumor in der Brust oft erst sehr spät entdeckt.

Wie haben Sie sich während der Ausbildung auf Ihren Berufsalltag vorbereitet? Sie mussten diese Untersuchungen ja bestimmt auch praktisch üben.

Ja, praktischer Unterricht gehörte natürlich auch dazu. Unsere Ausbilderin hat uns in den Übungen unter anderem gezeigt, wo und wie wir die Orientierungsstreifen anbringen und wie genau wir die Untersuchung durchführen müssen. Wir Kursteilnehmerinnen haben uns dafür im Unterricht gegenseitig untersucht, außerdem hatten wir Testpatientinnen, die sich zu Lernzwecken für die Untersuchung zur Verfügung gestellt haben.
Ein ebenso wichtiger Teil der Ausbildung ist natürlich auch das medizinische Fachwissen, das im theoretischen Unterricht vermittelt wird. Ich kenne beispielsweise die Anatomie der weiblichen Brust sehr genau, genauso wie die gut- und bösartigen Erkrankungen, die in diesem Gewebe auftreten können. Die medizinische Ausbildung dauert insgesamt neun Monate, danach absolviert jede MTU ein dreimonatiges Praktikum in einer gynäkologischen Praxis oder Klinik, um erste Erfahrungen zu sammeln.

Was ist für Ihren Beruf – außer eines ausgeprägten Tastsinns – noch wichtig?

Großes Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit, ruhig und gut mit Menschen zu kommunizieren. Viele Patientinnen sind vor der Untersuchung aufgeregt und hoffen natürlich darauf, dass ich nichts finde und Entwarnung geben kann. Manche haben richtig Angst und brechen in Tränen aus. Ihnen muss ich dann ganz besonders zur Seite stehen. Aber auch für diejenigen, die sich keine so großen Sorgen machen, ist das eine sehr intime und oft ungewohnte Situation. Als MTU muss ich eine vertrauensvolle Atmosphäre schaffen, damit jede Patientin und jeder Patient sich nicht nur fachlich, sondern auch zwischenmenschlich gut aufgehoben fühlt.

Was mögen Sie besonders an Ihrer Arbeit?

Ich gehe gern mit Menschen um und freue mich, wenn ich ihnen helfen kann. In diesem Beruf kann ich die Arbeit von Ärztinnen und Ärzten sinnvoll ergänzen, indem ich meinen ausgeprägten Tastsinn einsetze. Das ist schon toll, weil ich so einen wichtigen Beitrag zur Krebsprävention leisten kann. Die Mediziner schätzen das sehr, und auch von den Patientinnen und Patienten bekomme ich viele positive Rückmeldungen. Ich freue mich einfach, die Dankbarkeit dafür mitzuerleben, dass es meinen Beruf gibt und ich damit etwas Gutes leisten kann.

Hat sich durch Ihre Arbeit als MTU ihre Einstellung dazu verändert, blind zu sein?

Ich finde, dass jeder Mensch auf seine Stärken setzen sollte. Eine vermeintliche Einschränkung wie meine Sehbehinderung kann eine Bereicherung für alle sein. Mein Beruf ist ein ganz besonders schönes Beispiel dafür und hat mich so immer mehr in meiner Haltung bestärkt. Ich pflege mit meinen Kolleginnen und Kollegen, egal, ob sehend oder blind, einen lockeren und tollen Umgang auf Augenhöhe. So sollte es ja eigentlich auch in allen Bereichen des Lebens sein: Man sollte eine Einschränkung gar nicht erst zu einer Behinderung machen oder werden lassen.




„Changemaker“ gesucht: Ashoka fördert soziale Innovationen

Frau Haverkamp, was sind soziale Entrepreneure und was macht sie aus?

Das sind Frauen und Männer, die sich mit innovativen, übertragbaren Ansätzen und mit unternehmerischem Geist dafür einsetzen, gesellschaftliche Probleme zu lösen – und dafür meist eine Organisation gründen. Auch wenn der Begriff vergleichsweise neu ist: „Social Entrepreneurs“, also soziale Gründerinnen und Gründer, hat es eigentlich schon immer gegeben. Berühmte Beispiele sind Maria Montessori, die Begründerin der Reformpädagogik, oder Henry Dunant, Mitgründer des Roten Kreuzes. Innovative Ansätze gehen oft von engagierten Einzelpersonen aus, die sich kreativ für einen neuen Zustand unserer Gesellschaft einsetzen. Das gilt für alle Bereiche: Die Themen unserer Fellows reichen von Umweltschutz über Bildung bis hin zur ökonomischen Teilhabe oder der Unterstützung von Familien.

Was ist denn das Besondere an diesem Engagement? Solche Impulse für gesellschaftliche Veränderungen könnten ja zum Beispiel auch aus der Politik kommen.

Wir glauben, dass es kaum etwas Kraftvolleres gibt als eine soziale Innovation, die von einer unternehmerischen Persönlichkeit geführt wird – und daran, dass vielversprechende Ansätze möglichst früh aufgespürt und gefördert werden müssen, anstatt sie erst nach ihrem Durchbruch zu feiern. Dann sind nämlich die anfänglichen, oft sehr hohen Hürden schon längst überwunden, zum Beispiel solche geistigen Haltungen wie „Das haben wir doch noch nie so gemacht!“ und „Dafür sind doch andere zuständig!“. Die Fellows in unserem Netzwerk nehmen sich oftmals Themen vor, die sich über mehrere Generationen hinweg entwickeln – das sind also keine Konzepte und Unternehmen, die übermorgen fertig sind.

Nach welchen Kriterien wählen Sie aus, wer gefördert wird, und wie spüren Sie entsprechende Persönlichkeiten und Ansätze auf?

Ob eine Person Ashoka-Fellow werden kann, entscheiden wir nach weltweit gültigen Kriterien: Unsere Gründerinnen und Gründer müssen kreativ sein, ethisch denken und handeln und Unternehmergeist mitbringen. Das Ziel ihres Ansatzes, den sie mindestens in einem Pilotvorhaben erfolgreich umsetzt haben, sollte es sein, grundlegende gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Um solche Menschen und Projekte zu finden, recherchieren wir selbst aktiv und nutzen dabei unsere mehr als 35 Jahre globale Erfahrung, Weltveränderer zu erkennen und zu begleiten. Im Laufe dieser langen Zeit haben wir ein sehr engagiertes Netzwerk aufgebaut, das immer wieder sehr hilfreich ist und aus dem viele Ideen an uns herangetragen werden. Außerdem gibt es auf unserer Website die Möglichkeit, Kandidatinnen und Kandidaten zu nominieren. Auf diesem Weg erreichen uns pro Jahr etwa 200 Hinweise auf Persönlichkeiten, die für die Ashoka Fellowship vorgeschlagen werden – und wir freuen uns über jeden einzelnen davon!

Fördert Ashoka auch Persönlichkeiten und Projekte, die sich mit Inklusion beschäftigen?

Natürlich, das ist ein sehr wichtiges gesellschaftliches Feld. Vielen unserer Gründerinnen und Gründern gelingt es, den Blick der Gesellschaft auf vermeintliche „Behinderungen“ zu verändern, indem sie zeigen, dass darin auch ein besonderes Talent schlummern kann. Zu unseren Fellows gehört zum Beispiel Andreas Heinecke, der mit den Ausstellungen „Dialog im Dunkeln“ und „Dialog mit der Zeit“ unseren Blick auf Blindheit oder das Altern verändert. Manuela Richter-Werling hat das Präventions-Programm „Verrückt? Na und!“ gegründet und setzt sich damit dafür ein, Tabus rund um das Thema der psychischen Gesundheit abzubauen. Der Clou: Sie setzt Betroffene aktiv als Botschafterinnen und Botschafter ein, die authentisch von ihren Erfahrungen berichten. Jan Wulf-Schnabel wiederum hat das Institut für inklusive Bildung gegründet und bildet dort Menschen mit (geistiger) Behinderung zu Bildungsfachkräften aus. Diese lehren dann in Fachhochschulen und Universitäten, um die inklusive Lehrkompetenz von Studierenden zu stärken (Anm. d. Red.: In unserem Blog-Interview mit einer Mitarbeiterin des Instituts erfahrt ihr genauer, wie dieses Konzept funktioniert). Diese Liste ließe sich noch um viele Beispiele erweitern.

Wie unterstützt Ashoka die Unternehmen?

Wir begleiten unsere Ashoka-Fellows, sofern sie möchten, ein Leben lang auf ihrer Mission, indem wir Impulse geben, Beratungsangebote vermitteln, einen Dialog zwischen ganz unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft aufbauen und Brücken schlagen. Und: Bei Bedarf können wir bis zu drei Jahre lang ein Lebenshaltungsstipendium zahlen, mit dem die geförderten Unternehmerinnen und Unternehmer ihre Alltagsausgaben decken und sich damit gerade in der Anfangs- und Aufbauphase ganz auf ihr unternehmerisches Engagement konzentrieren können.

Wie finanzieren Sie dieses Modell?

Ashoka ist weltanschaulich und politisch unabhängig und nimmt deshalb keine staatlichen Gelder an. Die Finanzierung der Organisation kommt ausschließlich durch die Unterstützung einer Gruppe engagierter Unternehmerinnen und Unternehmer sowie einiger Stiftungen und Unternehmen zustande.

Und wie finanzieren die Gründerinnen und Gründer sich und ihre Start-ups?

Soziale Gründerinnen und Gründer brennen dafür, ihre Ideen und Ansätze in die Welt hinaus zu tragen – und genau dabei gibt es oft Hürden zu überwinden, gerade, weil sie oft unkonventionell vorgehen. Ein Beispiel ist die Finanzierung sozialer Innovationen und deren Verbreitung. Das Komplexe beim Thema Finanzierung ist, dass wir das oft noch sehr verbreitete Denken in den Schubladen ‚Spenden‘ und ‚Investieren‘ überwinden und erst einmal fragen müssen: Welche Finanzierung braucht eine soziale Innovation zu welchem Zeitpunkt, damit sie die bestmögliche Wirkung entfalten kann? In den vergangenen Jahren haben wir uns daher viel mit der Frage auseinandergesetzt, welche Finanzierungsmodelle soziale Innovationen wirklich voranbringen. Aus diesen Überlegungen ist unter anderem die „Finanzierungsagentur für Social Entrepreneurship (FASE)“ hervorgegangen, die wir mit einigen Partnern zusammen aufgebaut haben. Jetzt können wir auf eine Reihe oft unkonventioneller – und ebenso spannender – Finanzierungsmodelle zurückgreifen. Viele soziale Innovationen brauchen nämlich eine ganz andere und oft längere Anfangsinvestition, bei der es erst einmal nicht um Geld, sondern um die gute Sache geht. Andere Start-ups richten sich schneller an finanzieller Rendite aus – das funktioniert bei sozialen Gründungen vor allem am Anfang oft noch nicht.

Welche neuen Aufgaben wollen Sie in Zukunft angehen?

Ganz wichtig ist für uns die Frage, wie gute Ideen den Weg überall dorthin finden, wo sie hilfreich und wirkungsvoll sein können – auch (zurück) in große Institutionen und Strukturen hinein, also in Wohlfahrtsorganisationen, Kommunen und Unternehmen. Hier müssen wir noch viel dafür tun, einen Dialog zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren herzustellen, und Allianzen schmieden, die eine Verbreitung wirkungsvoller Ideen und Ansätze ermöglichen. Wir müssen den Blick zu erweitern: Wer müsste eigentlich wie zusammenarbeiten, damit eine soziale Innovation sich in der Breite durchsetzen kann? Der nächste Schritt wäre die Suche nach Modellen, damit eine entsprechende Kooperation zustande kommen kann.