Von Menschen und ihre Geschichten

102 Jahre Schwerbehindertenvertretung: Interview mit zwei Vertrauenspersonen, die seit 20 Jahren dabei sind

Im Oktober und November 2022 werden neue Schwerbehindertenvertretungen gewählt. Diese so genannten Vertrauenspersonen treten in Unternehmen für die Belange von Menschen mit Schwerbehinderung ein. Thomas Graute und Bärbel Porcher engagieren sich auf diese Weise schon seit 20 Jahren in zwei Kliniken des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe – und sie stellen sich auch diesen Herbst wieder zur Wahl. Im Interview erzählen sie, welche Aufgaben das Amt mit sich bringt und über welche Erfolge sie sich besonders freuen.

Schild mit der Aufschrift „102 Jahre SBV“

Frau Porcher, Herr Graute, Sie blicken auf zwei Jahrzehnte Erfahrung damit zurück, Menschen mit Schwerbehinderung innerhalb Ihrer Kliniken zu unterstützen. Sie kennen den Job also sehr gut. Was sollte jemand mitbringen, die oder der sich als Vertrauensperson engagieren möchte?

Graute: Als erstes fällt mir Beharrlichkeit ein. Auch wenn ein Anliegen auf den ersten Blick gar nicht so kompliziert zu sein scheint, ist es manchmal ganz schön komplex, das zu organisieren. Ein Beispiel: Menschen mit Sehbehinderung brauchen einen Computer mit einem großen Arbeitsspeicher, das hat mit der Software zu tun, die Texte auf dem Bildschirm vorliest. Bei der Anschaffung eines solchen Geräts sind beim jeweiligen Kostenträger unter Umständen mehrere Abteilungen oder Sachbearbeiter:innen beteiligt, zwischen denen wir vermitteln müssen. Als Vertreter muss ich also bei allen immer wieder nachhaken und dranbleiben. Oft müssen wir auch erst einmal klären, welcher Kostenträger zuständig ist und ob die Beschäftigten selbst oder die Arbeitgeber ein Hilfsmittel beantragen müssen. Dann meldet sich noch die hauseigene IT-Abteilung, die Probleme mit Geräten hat, die sie nicht selbst angeschafft und zertifiziert hat. All das kann sehr kleinteilig und langwierig sein.

Porcher: Davor sollte aber niemand Angst haben. Vertrauenspersonen müssen meiner Erfahrung nach vor allem empathisch sein und Lust haben, Menschen zu helfen und zu unterstützen. Wer das mitbringt, kann sich das nötige Wissen schrittweise aneignen. Dann lässt es sich sehr zielführend einsetzen. Und das macht Spaß.

Sie beide haben sich also vor 20 Jahren noch einmal in einen ganz neuen „Job“ eingearbeitet. Hatten Sie dabei Hilfe?

Porcher: Ja, es gibt verschiedene Fortbildungen, in denen Vertrauenspersonen das nötige Handwerkszeug lernen, es wird also niemand damit allein gelassen. Wir müssen zum Beispiel über die gesetzlichen Rechte und Pflichten der Schwerbehindertenvertretung Bescheid wissen. Ich engagiere mich seit 2014 auch in der Gesamtschwerbehindertenvertretung des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe. Auch dafür habe ich mich weitergebildet. Heute bin ich außerdem Ansprechpartnerin für das Betriebliche Eingliederungsmanagement.

Ihre Aufgaben haben sich also mit der Zeit entwickelt und Sie mussten nicht von Anfang an über alles Bescheid wissen?

Porcher: Nein, das geht ja auch gar nicht, denn wir beraten ja zu ganz verschiedenen Themen. Im Laufe der Jahre haben wir nach und nach die nötige Erfahrung und das Wissen angesammelt. Ich habe zum Beispiel Kolleg:innen mit einem Rückenleiden dabei unterstützt, die nötigen Anträge zu stellen, damit eine Schwerbehinderung oder eine Gleichstellung bei ihnen anerkannt wird. Wenn Beschäftigte lange krank waren und wiederkommen möchten, helfe ich bei der Wiedereingliederung. Kolleg:innen mit Hörbehinderung brauchen oft bestimmte Hilfsmittel. Ich unterstütze sie dabei, diese auch zu bekommen.
Die eigene Gesundheit oder eben Erkrankung ist ja etwas sehr Persönliches, die Kolleg:innen bringen uns sehr viel Vertrauen entgegen. Dem möchte ich natürlich gerecht werden. Wichtig ist, ein gutes Netzwerk aufzubauen, um immer schnell die benötigte Hilfe oder einen Rat zu bekommen.

Schon gewusst?

Wenn in einem Betrieb mehr als 100 Menschen mit Schwerbehinderung oder Gleichstellung arbeiten, wird eine Vertrauensperson, die die Belange dieser Menschen vertritt, von ihrem eigentlichen Beruf freigestellt. Bei weniger als 100 Kolleg:innen mit Schwerbehinderung wird die Vertrauenspersonen anteilig freigestellt, sie arbeitet dann nur noch in Teilzeit in ihrem eigentlichen Beruf.
Mehr zu den Aufgaben und Rechten einer Schwerbehindertenvertretung in einem Unternehmen oder einer Organisation erfahrt ihr in diesem Blog-Interview mit Petra Wallmann vom LWL-Inklusionsamt Arbeit.

Wie ist es Ihnen im Laufe der Jahre damit ergangen, dass die Kolleg:innen sich Ihnen so anvertrauen?

Graute: Das ist ein sehr schönes Gefühl und ja auch einer der Gründe, warum ich diesen Job so gerne mache. Manchmal ist das aber nicht so leicht. Es kommt vor, dass Kolleg:innen mir von einer schweren Erkrankung erzählen, etwa von einer Krebserkrankung mit schlechter Prognose. Oft suchen sie gar keinen konkreten Rat, sondern möchten sich einfach jemandem anvertrauen. In solchen Momenten geht mir das schon sehr nahe.

Porcher: So etwas habe ich auch schon erlebt, das ist mir auch sehr nahegegangen. Aber es gehört dazu, auch dann, wenn man selbst starke Gefühle mit einer Situation hat, empathisch zu sein und zu helfen, so gut es geht.

Und was ist Ihnen aus Ihrer bisherigen Amtszeit besonders positiv in Erinnerung geblieben?

Porcher: Für mich sind es die vielen kleinen Erfolge, über die ich mich freue und die diese Aufgabe so schön machen. Ich bin immer wieder begeistert, wenn Kolleg:innen mit Hörbehinderung dank ihrer Hilfsmittel in Teambesprechungen alles mitbekommen. Das ist nicht nur für sie, sondern für das ganze Team einfacher und entspannter. Und ich freue mich, wenn erkrankte Beschäftigte gut wieder in den Job einsteigen können. Oder auch, wenn wir für jemanden eine Erwerbsminderungsrente auf Zeit erreichen, damit die- oder derjenige sich vollständig von einer Krankheit erholen kann.

Graute: Ich erinnere mich an ein Vorstellungsgespräch in unserer Küche. Der Küchenchef hatte seinen Stellvertreter geschickt. Das stellte sich als großer Glücksfall heraus. Es hatte sich nämlich ein Gehörloser beworben, und der stellvertretende Küchenchef beherrschte die Deutsche Gebärdensprache. Wir haben die Zusammenarbeit ausprobiert, und es klappte gut. Inzwischen arbeiten vier Gehörlose in der Küche. Der frühere stellvertretende Küchenchef, der innerhalb des Teams übersetzen konnte, ist zwar heute nicht mehr da. Aber es klappt im Arbeitsalltag trotzdem gut, weil alle gelernt haben, sich gegenseitig zu verstehen. Das ist für mich ein toller Erfolg.

Was geben Sie Menschen mit auf den Weg, die ganz neu dabei sind, also das erste Mal als Vertrauensperson arbeiten?

Graute: Lasst euch nicht entmutigen, sondern bleibt einfach dran! Bei mir selbst hat es damals auch lange gedauert, bis alle mich in der neuen Rolle akzeptiert und meine Vorschläge angenommen haben. Dass Bärbel Porcher und ich heute oft so gut helfen können, liegt ja auch daran, dass wir schon so lange im Amt sind. Wir haben uns ein großes Netzwerk und einen guten Ruf aufgebaut. Das braucht einfach Zeit. Wer Unterstützung sucht oder sich austauschen möchte, kann sich mit anderen Vertrauenspersonen vernetzen, hier in Nordrhein-Westfalen geht das in der Arbeitsgemeinschaft der Schwerbehindertenvertretungen.

Porcher: Ich finde es wichtig, sich bei Konflikten sofort mit allen Beteiligten zusammenzusetzen, auch mit den Vorgesetzten. Meiner Erfahrung nach ist es am besten, Lösungen aufzuzeigen. Ich versuche immer, zu erklären, wie eine solche Lösung den Arbeitsaufwand reduzieren oder dabei helfen kann, dass jemand gar nicht erst krank wird und ausfällt. Das ist ja eine Win-Win-Situation, die Arbeitgeber:innen meistens gerne unterstützen und umsetzen. —

Fotos: privat

Über Bärbel Porcher & Thomas Graute

Bärbel Porcher engagiert sich seit 2002 in der Schwerbehindertenvertretung in der LWL-Klinik Marl-Sinsen, nachdem der Vorsitzende des Personalrats der Klinik mit dieser Idee auf sie zukam. Sie wurde noch im selben Jahr zur Vertrauensperson gewählt. Heute vertritt sie 58 Kolleg:innen mit Schwerbehinderung (oder gleichgestellte Menschen) innerhalb der LWL-Klinik und des LWL-Wohnverbunds Marl-Sinsen. Darüber hinaus arbeitet sie als Stellvertreterin der Gesamtschwerbehindertenvertretung innerhalb des LWL und als Ansprechpartnerin für das Betriebliche Eingliederungsmanagement in Marl-Sinsen.

Thomas Graute engagierte sich einige Jahre im Personalrat der LWL-Klinik Dortmund, bevor er 2002 dort zum Schwerbehindertenvertreter gewählt wurde. Er setzt sich in diesem Amt heute für die Belange von insgesamt 140 Klinik-Mitarbeiter:innen mit Schwerbehinderung ein. Sein Antrieb: Die Unterstützung von Mitarbeiter:innen vor Ort seitens der Klinik empfand er immer als sehr gut, doch ihm fiel auf, dass sich niemand bei Kolleg:innen meldete, die länger krankheitsbedingt ausfielen. Neben der Beratung zu verschiedenen Themen machte er es zu seinem Thema, das zu ändern.


Die Geschichte der Schwerbehindertenvertretungen

Der Grundstein für die Schwerbehindertenvertretung in Betrieben, wie wir sie heute kennen, wurde schon im Jahr 1920 gelegt. Die Zwischenstationen von damals bis heute:

6. April 1920

Das (damals noch so genannte) Schwerbeschädigtengesetz tritt in Kraft.

Betriebe mit mindestens 100 Arbeitnehmer:innen waren damit erstmals gesetzlich verpflichtet, einen Vetrauensmann einzuführen.

6. April 1920
19. April 1974

Das Schwerbehindertengesetz löst das Schwerbeschädigtengesetz ab.

Der geschützte Personenkreis erstreckt sich nun auf alle Menschen mit Schwerbehinderung, unabhängig von Art und Ursache ihrer Behinderung.

19. April 1974
1. Juli 2001

Das Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) wird eingeführt.

Der (heutige) Teil 3 des Sozialgesetzbuchs umfasst das Schwerbehindertenrecht. Es wird in den Folgejahren umfassend reformiert. Dabei werden unter anderem die Inklusionsvereinbarung und das Betriebliche Eingliederungsmanagement eingeführt.

1. Juli 2001
26. März 2009

In Deutschland tritt die UN-Behindertenrechtskonvention tritt in Kraft.

Das Ziel der Konvention ist die volle Gleichberechtigung für alle Menschen mit Behinderungen mit Blick auf sämtliche Menschenrechte und Grundfreiheiten.

26. März 2009
23. Dezember 2016

Das Bundesteilhabegesetz wird erlassen.

Es tritt in vier Reformstufen bis 2023 in Kraft und umfasst Maßnahmen, die die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen verbessern sollen. Unter anderem erhält die Schwerbehindertenvertretung in Betrieben und Unternehmen (die so genannte Vertrauensperson) mehr Rechte und wird damit gestärkt.

23. Dezember 2016
1. Juli 2022

Die Schwerbehindertenvertretung feiert ihren 102. Geburtstag!

Außerdem werden die Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber (EAA) eingeführt. Sie informieren, beraten und unterstützen Arbeitgeber:innen bei der Ausbildung, Einstellung und Beschäftigung von Menschen mit Schwerbehinderung.

1. Juli 2022
image_printDruckansicht
Schließen
Schließen