Wenn es mal hektisch zugeht, zählt jedes Paar Hände. Und in der Josefs-Brauerei gehört seit der Neueröffnung ein gewisses Maß an Hektik zum Alltag. „Eigentlich gibt es uns schon seit 22 Jahren, aber im Endeffekt sind wir wie ein Start-up“, sagt Victoria Schulte-Broer, die Inklusionsbeauftragte des Unternehmens.
Für sie bedeutet das heute, dass auch ihre Hände gefragt sind. Im gelben Sommerkleid und bei Temperaturen jenseits der 30 Grad packt die 39-Jährige mit an und hievt für eine spontane Lieferung kistenweise Bier und alkoholfreie Getränke in den Firmentransporter. Der lokale Krankenhausträger hat kurzfristig angerufen und bestellt – für das junge alte Unternehmen in der Findungsphase eine wichtige Gelegenheit. „Wenn sowas kommt, müssen wir liefern“, resümiert die Teilzeit-Lageristin.
Alle Hände sind gefragt
Die Dynamik zieht sich durch die ganze Brauerei, in der sieben der 13 Beschäftigten eine Schwerbehinderung haben. Den Transporter fährt heute zum Beispiel Guido Hentze, Geschäftsführer und einer der sechs Gesellschafter des Unternehmens. Den ganzen Vormittag läuft der Paderborner in Cargoshorts und verwaschenem T-Shirt von einer Ecke des neuen Fabrikgeländes in die andere. Erst ein unangekündigter Besuch des Kreisbauamtes, dann muss er kassieren, ein Interview geben und jetzt noch ausliefern. Zwischendurch unterbricht die Titelmelodie der „Glorreichen Sieben“ das Geschehen, Hentzes Klingelton. Noch ist hier alles ein Lernprozess: „Wir sind einfach ins kalte Wasser gesprungen und sagten ‚Yeah, jetzt fangen wir an zu schwimmen.‘“
In all dem produktiven Trubel kann Victoria Schulte-Broer ein positives erstes Fazit ziehen. Das Fest zur Neueröffnung war ein gutbesuchter Erfolg, die ersten lokal gebrauten Biere sind in der Flasche, seit zwei Wochen läuft die Dosenabfüllung und am nächsten Tag steht die erste Führung an. Das Rezept für den Erfolg? Zum einen die motivierten Kollegen, die sich gerne an einem Arbeitsplatz engagieren, „an dem alle mit Respekt behandelt werden.“ Zum anderen die neuen Gesellschafter, die auch mal selbst in die Bresche springen, wenn es brennt: „Unsere Chefs sind, glaube ich, ganz gute Glücklichmacher“, sagt Schulte-Broer und grinst. Das helfe beim Neustart ungemein.
Puzzles und Zufälle
Als die Brauerei im Jahr 2000 in Olsberg eröffnete, war sie die einzige inklusive Brauerei Europas. Im Frühjahr 2020 musste das Unternehmen coronabedingt schließen und meldete finanzielle Schwierigkeiten – die Zukunft des Betriebs stand auf der Kippe. Ralf Eckel, selbst Vater eines Sohnes mit Behinderung, hörte durch Zufall von der möglichen Schließung und sah Handlungsbedarf. „Ralf kam zu uns sagte ‚Komm, wir machen eine Brauereibesichtigung‘“, erinnert sich Guido Hentze. Auf der Hinfahrt waren die befreundeten Unternehmer Andreas Spreier, Patric Danzer, Markus Kleineheismann und Christian Hafer mit dabei. Im Auto eröffnete Ralf Eckel der Gruppe das eigentliche Anliegen: Sie sollten gemeinsam dafür sorgen, dass die inklusiven Arbeitsplätze in dem Unternehmen erhalten bleiben. Schon am nächsten Morgen waren alle sechs bei dem Projekt an Bord.
In Bad Lippspringe hatten die Paderborner, die schon verschiedene Unternehmen gemeinsam geführt haben, erst kürzlich ein großes Gelände erworben. Für die in Schieflage geratene Brauerei ideal: Um das Unternehmen wirtschaftlich neu aufzustellen, bot sich hier der perfekte Platz für neue und vor allem größere Anlagen.
Aber wie zieht eine Brauerei um? Die Reise der Produktionsstrecke von Olsberg nach Bad Lippspringe wurde laut Schulte-Broer zum „größten Puzzle Deutschlands“, das vor Ort erst einmal gelöst werden wollte.
Rückkehrer und Reisende
Mit von der Partie war die alte Belegschaft. Ein Großteil der Mitarbeiter:innen in Olsberg, von denen manche schon Jahre in der Brauerei gearbeitet hatten und nun andere Zukunftspläne schmiedeten, kam noch einmal zurück, um den Betrieb am Laufen zu halten. Die neuen Gesellschafter machten allen ein Übernahmeangebot. Zwar entschied sich schlussendlich nur ein Mitarbeiter mit Behinderung für den Umzug nach Bad Lippspringe, es wurde aber für alle eine Anschlussvermittlung gefunden.
Unerlässlich für den geglückten Umzug war auch die Expertise von Braumeister Wolfgang Mehringer (32). Der Bayer kennt die Branche durch seine Familie schon seit seiner Kindheit und sein ganzes Berufsleben lang. Er ist seit 2018 im Betrieb, war also schon am alten Standort tätig. Als er damals anfing, optimierte er erst einmal die Rezeptur für das Weizenbier der Josefs-Brauerei.
Große Unterschiede zur Arbeit in anderen Brauereien sieht Mehringer nicht. Nur der Umfang der automatisierten Abläufe sei hier etwas geringer, damit die inklusiven Arbeitsplätze gesichert werden können. Von der Konkurrenz unterscheide man sich eher im Prozess und im Geschmack. Die hier angewandten traditionelleren Brauweisen – etwa liegende Tanks, eine richtige Nachgärung und lange Lagerzeiten – führen sogar zu einem Sortiment, „das sich schon ein bisschen abhebt“, sagt Mehringer. Am neuen Arbeitsplatz schätzt er insbesondere die vergrößerten Produktionsmöglichkeiten: Mit bis zu 20.000 Hektoliter pro Jahr gehe deutlich mehr als noch in Olsberg.
Auch Dirk Witt hat den Umzug mitgemacht. Seit 2014 ist der 41-Jährige, der eine Lernbehinderung hat, bereits im Unternehmen tätig. Er mag die Arbeit, „sonst wäre ich ja schließlich nicht mit umgezogen“, erzählt er mit einem Lächeln. Im Traditions-Start-up muss jeder Mitarbeiter an jeder Station einsetzbar sein, und auf Witt ist da Verlass. Er übernimmt in der Brauerei gerne auch die schwierigeren Handgriffe an der Mühle oder Spezialaufgaben. Der Job macht ihm Spaß und bedeutet für ihn vor allem auch finanzielle Selbstständigkeit: „Ich wollte unabhängig sein, das habe ich geschafft.“
Traditionsbrauerei (22) sucht…
Andere wie Jörg Poppe kamen neu dazu. Ein schwerer Autounfall machte es dem gelernten Fleischer unmöglich, weiter in seinem früheren Beruf zu arbeiten. Als er hörte, dass die Brauerei an ihrem neuen Standort Personal suchte, bewarb sich der Mittfünfziger bei Schulte-Broer mit der Aussage „Ich will das unbedingt.“. Mittlerweile ist er gut in seinem neuen Job angekommen und stolz auf das Produkt. „Das Bier ist schon etwas Besonderes“, sagt er und empfiehlt mit einem Augenzwinkern zwei bis drei Flaschen, um den Unterschied auch angemessen würdigen zu können.
Um neue Beschäftigte zu gewinnen, hat das Unternehmen vor dem Umzug Werbung gemacht und alle Institutionen und Trägerschaften im Umkreis angeschrieben. Zur ersten Infoveranstaltung kamen 60 Interessierte, ein Kreis, der in einer zweiten Auswahlrunde auf 16 Bewerber reduziert wurde. Von diesen 16 wurden anschließend vier Personen zu einem Praktikum eingeladen. Das ist sind unerlässlich, damit beide Seiten ausprobieren können, ob die körperlich belastende Arbeit den Bewerbern zusagt und sie sie bewältigen können. Dirk Witt und ein Kollege übernahmen in dieser Kennenlernphase je zwei der Praktikanten und machten sie mit dem neuen Arbeitsplatz vertraut.
Mittlerweile arbeiten 13 Menschen in der Brauerei, sieben davon haben eine Schwerbehinderung. Alle Angestellten werden je nach Bedarf flexibel in der Produktion, der Lagerhaltung und der Reinigung eingesetzt, denn alle kennen sich in allen Bereichen aus. Dennoch gibt es einen klaren Favoriten unter den Arbeitsplätzen: die Kontrolle. Hier zieht jede Flasche am Band vorbei und wird inspiziert. Für diesen Berührungspunkt bekommt Schulte-Broer das beste Feedback, aus gutem Grund: „Hier sehen die Kollegen, was sie geschafft haben.“ Bier und andere Getränke herzustellen, sei eben durchaus eine emotionale Sache. Aus Sicht der Inklusionsbeauftragten ist das ein weiterer Grund für den guten Anfang des Start-ups, das aus dem Traditionsbetrieb hervorgegangen ist.
Ein gutes Produkt – und ein gutes Projekt
Bisher ist die Belegschaft, abgesehen von Victoria Schulte-Broer, noch ausschließlich männlich. Aber die Inklusionsbeauftragte hofft, dass bald noch ein paar Frauen hinzustoßen werden. In Zukunft soll die Brauerei auch inklusive Ausbildungsplätze anbieten, aber dafür muss zunächst alles laufen und das Unternehmen muss schwarze Zahlen schreiben. Eine Frage, die dabei im Raum steht, ist, wie die Kund:innen mit Inklusion umgehen. Für das Unternehmen jedenfalls seien sowohl das gute Projekt als auch das gute Produkt wichtige Säulen, sagt Gesellschafter Guido Hentze.
Kunden wie Helmut Böhmer wissen dieses doppelt gute Konzept zu schätzen. Böhmer ist Geschäftsführer des Haxterpark, eines inklusiv betriebenen Golfplatzes mit Gasthof in Paderborn. Nachdem die Brauerei in die Region kam, bemühte er sich sofort, die Biere ins eigene Sortiment aufzunehmen. Böhmers Gasthof führt mittlerweile das Märzenbier und das Dunkle Bier. Und seine glühende Empfehlung gilt sowohl dem Produkt als auch dem Prinzip des Unternehmens: „Die Produktqualität und die Einbettung in den gesellschaftlichen Rahmen gehen da wirklich einzigartig Hand in Hand.“ —