Von Projekte und Unternehmen

„Eine der größten Hürden für Kreative mit Behinderung ist der fehlende Zugang zu künstlerischer Bildung“

Wer an einer Hochschule studieren möchte, braucht mindestens die Fachhochschulreife oder muss eine umfassende künstlerische Vorbildung mitbringen, um die Begabtenprüfung zu bestehen. Viele Menschen mit Behinderung haben allein deshalb kaum Chancen, einen künstlerischen Beruf zu erlernen. Hier setzt der Verein EUCREA mit seinem Programm ARTplus an. Er testet zusammen mit verschiedenen Kunstakademien und -hochschulen, wie das Studium in diesem Bereich inklusiver werden könnte. Programmleiterin Angela Müller-Giannetti erzählt im Interview, warum neue Zugangsregeln allein das Problem nicht lösen – und wie sich EUCREA über sein Programm hinaus für eine vielfältigere Kultur einsetzt.

Eine Frau mit Down-Syndrom tanzt zusammen mit anderen auf einer Bühne

Frau Müller-Giannetti, wie inklusiv ist die Kunst- und Kulturbranche schon?

In den letzten fünf Jahren ist viel in Bewegung gekommen. Die Branche hat ein starkes Bewusstsein dafür entwickelt, dass etwas passieren muss. Aber diese Veränderungen stehen noch am Anfang und viele Verantwortliche sind unsicher, wie Inklusion in der künstlerischen Arbeit aussehen kann und muss.

EUCREA will diese Lücke schließen und engagiert sich für mehr Vielfalt in der Kunst. Was bedeutet das genau?

Zum einen unterstützen wir Künstler:innen mit Behinderung dabei, ihre Ideen umzusetzen und neue Impulse einzubringen. Dazu organisieren wir regelmäßig inklusive Projekte wie das „Democratic Bootcamp“ im vergangenen Jahr, bei dem Künstler:innen mit und ohne Lernschwierigkeiten gemeinsam eine große Show entwickelt haben. Sowohl das Handlungskonzept als auch die Dramaturgie, die Ausstattung und am Ende die Umsetzung haben inklusive Teams gestaltet. Bei dem Projekt ging es um demokratische Strukturen im künstlerischen Bereich. Und – wie bei all unseren Projekten – darum, Künstler:innen mit Behinderung sichtbar und hörbar zu machen.
Neben solchen Produktionen beschäftigen wir uns bei EUCREA auch mit den Strukturen in der Branche. Wir versuchen, grundsätzliche Veränderungen anzustoßen.

Mit welchen Mitteln versuchen Sie, die Strukturen aufzubrechen?

Wir richten Fachtagungen aus und machen viel Öffentlichkeitsarbeit. Seit ein paar Jahren sind wir außerdem politischer geworden und mischen uns mit Positionspapieren in öffentliche Debatten ein. Die Branche muss sich verändern, die künstlerische Ausbildung und der Arbeitsmarkt müssen sich öffnen. Und das beginnt gerade.

Woran merken Sie, dass sich etwas bewegt?

Bei unserem Programm ARTplus arbeiten wir mit vielen verschiedenen Hochschulen zusammen, an denen Menschen mit Behinderung eine künstlerische Ausbildung absolvieren. Unser Ziel ist es, junge Kreative zu fördern, die später beruflich tanzen, schauspielern, Musik machen oder in der bildenden Kunst ihren Weg machen wollen. Gleichzeitig möchten wir herausfinden, was sich an den Akademien und Unis strukturell verändern muss, damit mehr Teilhabe möglich wird. Als wir das Programm vor ein paar Jahren geplant haben, mussten wir noch richtig „Klinken putzen“, um Hochschulen dafür zu gewinnen. Die Verantwortlichen fanden das Thema zwar schon irgendwie gut, aber es hatte für sie keine Priorität. Viele hatten einfach noch nicht auf dem Schirm, dass der Kulturbetrieb viel diverser werden muss. Inzwischen melden sich Hochschulen sogar von sich aus bei uns und wir haben auch große, öffentliche Unis dabei, was eine gute Außenwirkung hat und so andere nachzieht.

Welche Barrieren für Kreative mit Behinderung sehen Sie an den Hochschulen?

Eine der größten Hürden ist es, überhaupt Zugang zur künstlerischen Bildung zu bekommen. In der Regel können Bewerber:innen an den Hochschulen zwar jetzt schon eine Begabtenprüfung ablegen, um auch ohne Abitur einen Studienplatz zu bekommen. Für viele Menschen mit Behinderungen ist der Weg bis zu dieser Aufnahmeprüfung aber sehr weit. Sie trauen sie sich oft nicht zu oder verfügen nicht über die entsprechende Vorbildung, weil sie als Kinder und Jugendliche künstlerisch weniger gefördert wurden als Gleichaltrige ohne Behinderung. In einzelnen Künsten, zum Beispiel im darstellenden Bereich, sind Menschen mit physischen, sichtbaren Behinderungen für das Genre noch neu.

Neue Regeln für den Zugang zu künstlerischen Studiengängen reichen also nicht aus?

Ich würde viel früher ansetzen. Viele junge Menschen mit Behinderung sind schon seit mehreren Jahren nicht mehr zur Schule gegangen, wenn sie 18 oder 19 Jahre alt sind, also zu dem Zeitpunkt, an dem sie sich eigentlich an einer Hochschule bewerben müssten. Stattdessen haben sie einen anderen Weg eingeschlagen, waren zum Beispiel in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Es ist dann eine riesige Hürde für sie, wieder ins Bildungssystem einzusteigen. Und wenn es ihnen gelingt, starten sie trotzdem unter schlechteren Voraussetzungen als diejenigen, die das Abitur oder die Fachhochschulreife haben.

Haben Sie einen Vorschlag, wie der Zugang barriereärmer gestaltet werden könnte?

Das deutsche Schulsystem ist sehr stark darauf ausgerichtet, dass bestimmte Abschlüsse erreicht werden müssen. Ich würde mir wünschen, dass es sich davon etwas löst und es künftig stattdessen darum geht, jungen Menschen so lange wie möglich den Zugang zu Bildung offenzuhalten.

Das Schulsystem wird sich aber sicher nicht so bald ändern.

Nein, und genau hier setzen wir mit ARTplus an. Wir möchten diese Lücke gemeinsam mit den Hochschulen schließen. Die Unis können Kurse anbieten, mit denen sich junge Menschen auf die Aufnahmeprüfung und das Studium vorbereiten können. Diese Kurse vermitteln künstlerische Bildung, aber auch, wie Studieren funktioniert.

Könnte das auch anderen Menschen helfen? Zum Beispiel solchen, die nicht aus Akademikerfamilien stammen und deshalb weniger über darüber wissen, wie die Abläufe in höheren Bildungseinrichtungen sind?

Ganz sicher, das wäre für viele ein Gewinn. Für mich ist genau das der Grundgedanke von Inklusion: Dass wir gesellschaftliches Potenzial nicht dadurch verschenken, dass wir Menschen von vornherein ausschließen.

Bei ARTplus geht es auch darum, wie das Studium als solches inklusiver werden könnte. Welche Antworten haben Sie auf diese Frage schon gefunden?

Neben barrierefreier Infrastruktur geht es um die Willkommenskultur der Hochschulen und den Zugang zur Aufnahmeprüfung. Darüber hinaus müssen die Hochschulen hinsichtlich Leistungsnachweisen und Prüfungen neue Formen des Nachteilsausgleichs entwickeln. Inklusive Lehrformate, die für mehr Menschen zugänglich sind, sind ein weiteres Thema. Und manche Studierende mit Behinderung brauchen einen barrierearmen Zugang zu staatlich finanzierten Assistenzleistungen.

Das klingt nach viel Arbeit.

Ja, vor allem anfangs müssen wir Zeit investieren und uns viele Gedanken machen. Aber ich bin überzeugt davon, dass es nach dieser Startphase, in der viel umgestellt und eine Infrastruktur entwickelt werden muss, im weiteren Betrieb ohne zusätzlichen Aufwand laufen kann. Und ich glaube, dass wir mit ARTplus viel erarbeiten können, was sich später auch auf andere Fachbereiche übertragen lässt. In der Kunst gibt es viele Möglichkeiten, Dinge auszuprobieren, und die meisten Dozent:innen und Studierenden sind offen für Neues. Wir können zeigen, was alles möglich ist.

Wie geht es für die jungen Künstler:innen nach dem Studium weiter?

Wir von EUCREA bemühen uns darum, Türen für mehr Inklusion zu öffnen. Viele Verantwortliche in Kulturbetrieben sind aber auch schon von sich aus interessiert und brauchen eher praktische Unterstützung. Ein Thema ist zum Beispiel die Auffindbarkeit. Manche Filmschaffende möchten gerne Schauspieler:innen mit Behinderung engagieren, haben aber noch gar keine passenden Kontakte. Wir haben deshalb mit dem internationalen Portal „Filmmakers“ zusammengearbeitet, in dem Darsteller:innen sich mit einem Foto und ihrem Profil präsentieren können. Die Betreiber:innen haben auf unseren Vorschlag hin die Funktion ergänzt, mit der auch eine Behinderung angegeben werden kann, die dann in der Suche auftaucht beziehungsweise nach der Filmproduzent:innen und Castingagenturen filtern können. Die Nachfrage ist ja da – und solche kleinen Stellschrauben können helfen, Chancen zu eröffnen.


Über unsere Interviewpartnerin

Porträtfoto von Angela Müller-Giannetti
Foto: Anja Paap

Name: Angela Müller-Giannetti
Geburtsjahr: 1967
Wohn-/Arbeitsort: Hamburg
Beruf: Kulturmanagerin
(Persönlicher Bezug zum Thema) Behinderung: Hat selbst erlebt, wie schwierig ein späterer Zugang zum Bildungssystem sein kann, wenn man nicht von Anfang an die richtigen Voraussetzungen mitbringt. Ihrer Ansicht nach lässt unsere Gesellschaft den Flaschenhals der Bildung zu früh zu eng werden, was auch für Kinder und Jugendliche ohne Behinderung gilt. Besonders kritisiert sie, wie Menschen mit Lernschwierigkeiten das Recht auf Bildung verwehrt wird. Sie findet: Der Selektionsgedanke ist tief in unserer Wettbewerbskultur verankert. Darunter leiden nicht nur viele, wir verschenken auch ein ungeheures Potenzial. Das zu ändern, interessiert sie.


Über EUCREA

Der Verein EUCREA ist der Dachverband zum Thema Kunst und Behinderung in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das inklusive Team entwickelt Konzepte für mehr Vielfalt in der Kunst, setzt inklusive Projekte um und berät und vernetzt Künstler:innen mit Behinderung.

EUCREA finanziert seine Arbeit über Projektförderungen von Bund und Ländern, manchmal unterstützen auch Stiftungen den Verein. In den nächsten Jahren möchte das Team unter anderem ARTplus vom Modellprogramm zu einem festen Baustein der künstlerischen Ausbildung weiterentwickeln und neue Projekte auf den Weg bringen. Sobald es finanziell möglich ist, soll das Team wachsen. Dann will EUCREA Stellen ausschreiben und mehr Menschen mit Behinderung beschäftigen.

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