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Ein Pilotprojekt für Autor:innen mit Lernschwierigkeiten: die „Literatur-Bootschaft“ des Vereins ‚Ohrenschmaus‘

Der Wiener Verein ‚Ohrenschmaus‘ fördert Autor:innen mit Lernschwierigkeiten mit einem Literaturpreis – und seit ein paar Jahren auch mit einem Stipendium. Jetzt hat er ein weiteres Projekt ins Leben gerufen: die „Literatur-Bootschaft“. Drei Autor:innen werden dabei für eineinhalb Jahre fest angestellt, um an Texten zu arbeiten, ihr Schreiben zu verbessern und sich auszutauschen. Projektleiterin Christin Figl und Teilnehmer Anton Tatzber erzählen im Interview, welche Ziele das Projekt hat und wie die praktische Unterstützung für die Schreibenden aussieht. Anton Tatzber wollte im Interview gerne mit „Toni“ angesprochen werden.

Das Team der Literatur-Bootschaft mit und ohne Behinderung draußen vor einem Stadtpanorama

Toni, warum haben Sie sich für die „Literatur-Bootschaft“ beworben?

Toni: Ich drücke mich gerne mit Worten aus und habe schon als Jugendlicher angefangen, zu schreiben. Im Deutschunterricht in der Schule haben wir uns aber eher mit Grammatik als mit Geschichten beschäftigt. Ich habe mich zwar damals und auch als Erwachsener in meiner Freizeit an meine Texte gesetzt, aber leider immer wieder den Faden verloren. Durch das Projekt habe ich jetzt die Unterstützung, die mir vorher gefehlt hat. Wir sind alle hier, um zu schreiben, und sprechen viel über unsere Texte. Das hilft sehr. Ich habe in den ersten Wochen schon zwei Kurzgeschichten fertig geschrieben.

In welchem Beruf haben Sie bisher gearbeitet?

Toni: Ich bin gelernter Einzelhandelskaufmann, konnte irgendwann aber aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in dem Beruf arbeiten. Ein paar Jahre lang habe ich Gelegenheitsjobs angenommen. Im vergangenen Winter habe ich dann eine Stelle als Rezeptionist in einem Hotel bekommen. Das hat mir Spaß gemacht, allerdings bin ich mit der 45-Stunden-Woche nicht so gut zurechtgekommen.

Wie sieht Ihr Tagesablauf in der „Literatur-Bootschaft“ aus?

Toni: Die beiden anderen Autor:innen, unsere Mentorinnen und ich treffen uns morgens auf dem Badeschiff am Donaukanal (Anm.: ein Veranstaltungsort mit Schwimmbad und Gastronomie, der von einem inklusiven Team betrieben wird). Unsere Mentorinnen stellen uns jeden Tag eine neue Gedicht- oder Textart vor und erklären, welche Regeln wir beim Schreiben beachten müssen. Wir probieren dann selbst aus, tragen unsere Entwürfe vor, besprechen sie mit den anderen und arbeiten anschließend daran weiter. Es ist eine Art interaktiver Unterricht.

Frau Figl, Sie leiten die „Literatur-Bootschaft“ und begleiten die Autor:innen als Mentorin, blicken also von der anderen Seite auf das Projekt. Wie unterstützen Sie die Teilnehmer:innen über den Unterricht hinaus?

Figl: Meine Kolleginnen und ich helfen den Schreibenden zum Beispiel dabei, ihren Arbeitsalltag zu organisieren. Es ist für die meisten ja sehr ungewohnt, so vieles selbst zu gestalten. Wir machen deshalb gemeinsam mit ihnen Wochenpläne, tragen am Ende der Woche die Arbeitsstunden ein und unterstützen sie dabei, Texte und andere Dateien nach einem sinnvollen System abzuspeichern. Wir sind drei Mentorinnen, jede von uns betreut bestimmte Unterrichtsmodule und begleitet jeweils eine Person im Projekt. In diesen Tandems besprechen wir einmal pro Woche, welche Ziele wir erreichen möchten und wie wir Mentorinnen dabei unterstützen können. Das Ganze ist im Moment noch relativ schulisch, das wird sich aber im Laufe der Zeit sicher verändern.

Die Teilnehmer:innen der „Literatur-Bootschaft“ sind im Verein für eineinhalb Jahre fest angestellt. Wie werden sie bezahlt?

Figl: Die Autor:innen arbeiten 20 Stunden pro Woche, das Gehalt richtet sich nach dem Fair Pay Schema für eine Assistenz im Kulturbereich.

Wie viele Autor:innen haben sich für das Projekt beworben?

Figl: Nach unserem ersten Aufruf war der Rücklauf erst einmal zögerlich. Wir haben nur vier Bewerbungen bekommen. Das hat uns selbst etwas überrascht, weil der Verein „Ohrenschmaus“ ja sehr etabliert und als einzige Anlaufstelle für Autor:innen mit Lernschwierigkeiten bekannt ist. Ein Grund könnte sein, dass manche Autor:innen, die wir schon von anderen „Ohrenschmaus“-Projekten kennen, in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeiten. Für die „Literatur-Bootschaft“ hätten sie die Werkstatt zumindest vorübergehend verlassen müssen – da gab es viele Unsicherheiten und Fragen. Wir haben versucht, viele davon zu beantworten, und noch einmal für das Projekt geworben. Am Ende konnten wir zehn Bewerbungen an unsere Jury weitergeben, zu der unter anderem Autorinnen und eine Journalistin gehören.

Über die „Literatur-Bootschaft“

Das Projekt wird mit Unterstützung aus dem Jubiläumsfonds des Vereins ‚Licht ins Dunkel‘ finanziert. Neben Anton Tatzber lernen und schreiben aktuell auch Stuart Safai und Vanessa Veith in der „Literatur-Bootschaft“. Die drei Autor:innen – auch „Bootschafter:innen“ genannt – stellen sich auf der Website des Projekts vor.
Einmal im Monat lesen sie Texte im Literaturcafé, das der Verein ‚Ohrenschmaus‘ auf dem Badeschiff in Wien ausrichtet. Zu diesen inklusiven Veranstaltungen können auch andere Menschen kommen, die gerne etwas vorlesen oder an Schreibübungen teilnehmen möchten.
Wer nicht in Wien ist, kann trotzdem etwas von den drei Bootschafter:innen lesen. Sie schreiben online in einem Blog, ihrem „Logbuch“, über ihre Ausbildung und ihre Arbeit. In Zukunft möchten sie außerdem Texte in Magazinen oder Büchern veröffentlichen.

Übrigens: ‚Ohrenschmaus‘ vergibt auch ein Stipendium, mit dem gezielt Autor:innen mit Lernschwierigkeiten gefördert werden. Ein umfassendes Wochenprogramm wie in der „Literatur-Bootschaft“ gibt es hierbei allerdings nicht, weil sich das Stipendium an Autor:innen richtet, die bereits Ideen für ganz konkrete Texte haben. Auf Wunsch bekommen sie beim Schreiben aber textbezogene Unterstützung von Mentor:innen.

Nach welchen Kriterien hat die Jury die Teilnehmenden ausgewählt?

Figl: Es ist natürlich sehr schwierig, kreative Arbeit zu beurteilen und zu vergleichen. Die Expert:innen in der Jury haben Kriterien wie Fantasie, Textaufbau und den sprachlichen Ausdruck diskutiert. Ein Thema war außerdem, ob und wie stark wir die Konstellation der Projektgruppe mitbedenken wollen. Eine reine Männergruppe fänden wir zum Beispiel eher unglücklich. Jede Person in der Jury hat vor dem Hintergrund dieser Überlegungen drei Bewerbungstexte ausgesucht, in denen sie Potenzial gesehen hat. Dadurch sind vier Bewerber:innen in die engere Auswahl gekommen, die wir zum Gespräch eingeladen haben. Im Organisationsteam überlegen und besprechen wir nun erneut, wie wir das Auswahlverfahren in der nächsten Runde gestalten wollen. Das ist ein ständiger Lernprozess.

Der erste Projektzeitraum endet im Herbst 2024. Was möchten Sie bis dahin erreichen?

Figl: Wir haben das Projekt in drei Abschnitte von je einem halben Jahr aufgeteilt. Der erste hat im Mai begonnen. In dieser Phase ging es erst einmal darum, beim Schreiben Neues kennenzulernen und sich auszuprobieren. Im zweiten Abschnitt werden wir dieses Wissen und die neuen Fähigkeiten vertiefen. Im dritten Block schauen wir dann schon auf die Zeit nach dem Projekt: Welchen Berufsweg können sich die Teilnehmenden vorstellen? Was möchten sie gerne praktisch ausprobieren? Es gibt ja sehr viele Möglichkeiten für Autor:innen und Texter:innen. Sie könnten sich auf Praktikumsplätze bewerben oder auf Stellen in der Öffentlichkeitsarbeit bei Unternehmen. Oder sie schreiben Ausstellungstexte in einfacher Sprache für Museen. Vielleicht möchte jemand auch gerne Veranstaltungen moderieren oder im Kulturbereich Führungen anbieten. Wir helfen unseren Autor:innen bei der Orientierung und natürlich auch bei den Bewerbungen. Und wir hoffen, dass wir durch unser Projekt Autor:innen mit Lernschwierigkeiten im Laufe der Zeit sichtbarer machen und ihnen neue Türen öffnen.

Toni, noch einmal Ihre Sicht als Autor im Projekt: Was ist Ihr persönliches Ziel für die Zeit nach der „Literatur-Bootschaft“?

Toni: Mein Traum ist es, Drehbuchautor zu werden und auf diesem Weg Themen in die Welt zu bringen, die mir wichtig sind. Ich finde, die Gesellschaft wird immer introvertierter. Viele Menschen glauben, dass sie niemanden brauchen. Sie sind mit sich selbst zufrieden. Meiner Meinung nach stecken Enttäuschungen hinter dieser Haltung. Aber wenn man sich davor versteckt, zieht man sich ja auch von den positiven Dingen zurück. Deshalb sollte man besser lernen, mit Enttäuschungen umzugehen.

Warum möchten Sie Ihre Themen gern in Filmen und nicht mit Texten zeigen?

Toni: Filme haben eine große Reichweite und sprechen viele Menschen direkter an als Bücher. Außerdem schreiben Drehbuchautor:innen ja nicht allein und für sich, sondern arbeiten mit anderen Filmleuten zusammen. Das gefällt mir. —


Über unsere Interviewpartner:innen

Anton Tatzber

Porträtfoto von Anton Tatzber, Literatur-Bootschaft
Foto: Ohrenschmaus

Geburtsjahr: 1986
Wohn-/Arbeitsort: Wien
Beruf: Literatur-Bootschafter:in
(Persönlicher Bezug zum Thema) Behinderung: leidet darunter, dass er zwar in vielen Bereichen großes Potenzial hat, es aber nicht nutzen kann, weil er sich mit alltäglichen Dingen schwertut.

Christin Figl

Porträtfoto von Christin Figl, Literatur-Bootschaft
Foto: Ohrenschmaus

Geburtsjahr: 1992
Wohn-/Arbeitsort: Wien
Beruf: Mentorin und Projektleiterin
(Persönlicher Bezug zum Thema) Behinderung: ist während des Studiums auf die Hürden aufmerksam geworden, denen Künstler:innen mit Behinderungen gegenüberstehen, und findet: Es ist höchste Zeit für einen inklusiveren Kunst- und Literaturbetrieb.

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