Herr Schramm, Sie beraten Menschen, die sich wegen eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit beruflich neu orientieren müssen. Wer kann sich von Ihnen unterstützen lassen?
Wer aus den genannten Gründen seinen Beruf nicht mehr ausüben kann und einen Versicherungsschutz über die gesetzliche Unfallversicherung hat, kann von uns unterstützt werden, sofern sein Unfallversicherungsträger uns damit beauftragt. Dabei ist es egal, wie schwerwiegend die gesundheitliche Beeinträchtigung ist. Denn nicht nur Schwerbehinderungen, sondern auch kleinste Gesundheitseinschränkungen können sich auf das Berufsleben auswirken. Ein Beispiel: Eine kleine Schnittverletzung am Zeigefinger führt möglicherweise dazu, dass ein Feinmechaniker mit seiner Führungshand seiner Arbeit nicht mehr nachgehen kann. Eine solche Verletzung würde nicht dazu führen, dass der Mechaniker eine Rente aus der Unfallversicherung erhält. Er müsste seinen Lebensunterhalt weiterhin komplett selbst erarbeiten. Wir helfen in solchen Fällen dabei, eine neue Stelle zu finden. Das machen wir übrigens auch vorbeugend: Wir unterstützen auch Menschen, die ihren Job aufgeben müssen, damit gar nicht erst eine Berufskrankheit eintritt.
Wie hilft „DGUV job“ bei einem solchen Berufswechsel?
Für das erste Beratungsgespräch besuchen wir die Menschen zu Hause. Das entlastet sie, schafft Vertrauen und hat den praktischen Vorteil, dass alle Unterlagen schnell zur Hand sind. Gleichzeitig bekommen wir einen Eindruck vom familiären Umfeld und den Lebensbedingungen. Für die berufliche Neuorientierung sind ja viele verschiedene Faktoren wichtig: Wie wirken sich die gesundheitlichen Einschränkungen auf den Alltag und ein künftiges Berufsleben aus? Wie empfindet ein Mensch ganz persönlich seine neue Situation? Wie sind die Infrastruktur und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vor Ort? All das kann hilfreich sein, um gemeinsam weiter zu planen.
Im Anschluss an die erste Beratung bieten wir Unterstützung bei Stellenbewerbungen an: Wir helfen dabei, die Unterlagen zu optimieren und eine Strategie für die Bewerbungsphase zu entwickeln. Dazu gehört zum Beispiel, dass wir mit den Ratsuchenden ein positives Talent- und Potenzialprofil erarbeiten. Das bedeutet: Wir schreiben gemeinsam auf, was eine Person beruflich machen möchte und kann. Wir schauen so bewusst auf die Fähigkeiten und Möglichkeiten statt auf die eventuellen Einschränkungen. Das ist wichtig für die innere Haltung der Menschen und dafür, wie sie sich in den Bewerbungsverfahren darstellen, also ihre Stärken, Fähigkeiten und Potenziale zeigen.
Wenn wir alle Informationen beisammen haben, übertragen wir sie in unser IT-System und schicken der Person passende Stellenangebote. Seit 2023 gibt es außerdem eine App, mit der viele Funktionen im Bewerbungsmanagement direkt und digital selbst erledigt werden können.
Ist Ihre Unterstützung zeitlich begrenzt?
Nein, eine zeitliche Befristung gibt es nicht. Wir begleiten die Menschen so lange, bis sie eine neue Stelle oder eine andere Perspektive gefunden haben.
Die Berater:innen stellen im Rahmen von „DGUV job“ auch Kontakte zu Arbeitgeber:innen her. Wie wählen sie diese aus?
Die Unfallversicherungsträger pflegen überall in Deutschland Kontakte zu Unternehmen in ihren Regionen und tragen offene Stellen in unseren internen Stellenmarkt ein. Auf diesen können wir dann in der Beratung zugreifen. Darüber hinaus haben wir ein innovatives Rechercheinstrument, das täglich mehr als zwei Millionen freie Stellen aus einer Vielzahl an Quellen analysiert. Damit können wir die Möglichkeiten einer Person am jeweiligen regionalen Arbeitsmarkt noch besser einschätzen. Aus all diesen Informationen erarbeiten wir dann für die Menschen eine oder mehrere individuelle Strategien und machen konkrete Vorschläge. Der Vorteil ist die konkrete und pragmatische Analyse zur realistischen Umsetzung.
Die DGUV bietet in ihrem Online-Portal auch den „Wegweiser Berufsumstieg“ an, mit dem sich Menschen über mögliche neue Berufe und die Arbeitsbedingungen informieren können. Wie funktioniert dieses Programm?
Dieses Instrument steht allen Menschen offen, unabhängig von ihrem jeweiligen Versicherungsstatus. Interessierte können dort ihre Berufserfahrungen, Kenntnisse, Qualifikationen und ihre gesundheitliche Situation eintragen sowie ihre Wünsche und gesundheitlichen Anforderungen an einen künftigen Beruf angeben. Das Programm gleicht dann das Profil ab, und zwar mit allen nach dem Berufsbildungsgesetz anerkannten Ausbildungsberufen sowie Berufsbildern im Bereich der Hilfs- und Facharbeiter. Über ein Ampelsystem wird farblich dargestellt, wie gut bestimmte Berufe passen und welche möglichen gesundheitlichen Risiken es geben könnte. Zu allen Berufen sind außerdem weiterführende Informationen und ein Steckbrief im Portal „Berufenet“ der Bundesagentur für Arbeit verlinkt. Bevor jemand sich für einen neuen Beruf entscheidet, ist es aber immer sinnvoll, sich den regionalen Arbeitsmarkt sehr genau anzuschauen.
Können Sie auch Fördermöglichkeiten anbieten, wenn Menschen für einen neuen beruflichen Weg zum Beispiel eine Weiterbildung benötigen?
Grundsätzlich ja, dazu stimmen wir uns mit den zuständigen Unfallversicherungsträgern ab. Was und wie genau gefördert werden kann, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab – zum Beispiel davon, in welcher Branche eine Person die besten Chancen hat, wirklich nachhaltig und mit Rücksicht auf die eigene Gesundheit Fuß zu fassen. Auch die künftige finanzielle Situation der Menschen muss berücksichtigt werden: Können Menschen mit einem neuen Beruf wieder ein Einkommen verdienen, sodass sie nach Möglichkeit keine Sozialleistungen mehr benötigen? Das wird jeweils individuell geprüft, um zu entscheiden, welche Schulungen, Zertifizierungen oder Qualifikationen wir mit einer Förderung oder einer Bewilligung des Unfallversicherungsträgers unterstützen können.
Gibt es Branchen, in die Menschen besonders häufig oder selten wechseln?
Wir haben mit „DGUV job“ bisher mehr als 22.000 Menschen dabei begleitet, eine neue berufliche Zukunft zu gestalten. Dabei sind keine Prioritäten und Tendenzen zu erkennen, weil Menschen und ihre Berufswege sowie die Rahmenbedingungen einfach zu unterschiedlich sind. Manchmal können wir auch dabei unterstützen, in „exotische“ Nischenberufe zu wechseln, wo es oft weniger Konkurrenz gibt, sodass jemand sehr schnell eine neue Arbeit beginnen kann. Wir haben zum Beispiel Menschen begleitet, die neue Perspektiven in der Bestattungsberatung, im Fahrschulwesen, im öffentlichen Dienst oder auch in sehr interessanten Aufgaben im Wach- und Sicherheitswesen gefunden haben.
Über unseren Interviewpartner
Name: Thomas Schramm
Geburtsjahr: 1976
Wohn-/Arbeitsort: Berlin
Beruf: Koordinator DGUV job
Persönlicher Bezug zum Thema Behinderung: empfindet den Begriff „Behinderung“ als zu oberflächlich und als Wort aus einer längst vergangenen Zeit. Wenn die Gesellschaft den Blick auf Stärken, Möglichkeiten und Talente richtet, dann gibt es nur noch verschiedene und unterschiedlich ausgeprägt talentierte Menschen. Die Definition oder der Begriff „Behinderung“ spielt dann gar keine Rolle mehr. Das versteht er persönlich unter einer inklusiven Gesellschaft.
